Читать книгу Der blaue Strand - Erik Eriksson - Страница 9
ОглавлениеEin Schloss aus Glas
Die Odin blieb noch einen Tag im Hafen. Der Kohlentransport verspätete sich, wie der Kapitän des Schiffs dank des neuen Telegrafen erfuhr. Er hatte der englischen Botschaft in Stockholm bereits mitgeteilt, dass die Odin eingetroffen war. Jetzt kam ein Antworttelegramm. Mit unbegreiflicher Geschwindigkeit bewegten sich die Wörter durch den elektrifizierten Draht, von Stockholm nach Uppsala und weiter nach Grisslehamn.
Das war die neue Zeit, die mit Dampfschiffen, elektrischem Telegrafen und verheerenden Waffen gekommen war.
Die Männer, die im Hafen standen und sich unterhielten, nahmen an, dass die Odin über neuartige Kanonenkugeln verfügte, von denen sie schon gehört hatten. Sie blickten auf das große Schiff und versuchten, anhand der Öffnungen rund um die Reling die Kanonen zu zählen.
»Sechzehn Kanonen müssten es sein«, zählte ein Zöllner zusammen.
»Und fliegende Bomben«, sagte ein Soldat, der für eine Weile frei hatte.
»Weißt du, wie diese Bomben funktionieren?«, fragte ein Schiffer aus Häverö.
»Es heißt, dass die Kanonenkugel selbst mit Pulver gefüllt ist«, sagte der Soldat. »Wenn sie die Kanone verlässt, ist eine Zündschnur gezündet, und wenn die Kugel einschlägt, explodiert sie.«
»Haben wir auch solche Bomben?«, wollte der Zöllner wissen.
»Wir sollen sie uns jetzt angeschafft haben«, antwortete der Soldat.
»Die Russen werden ganz schön was um die Ohren bekommen«, sagte der Schiffer.
»Sie waren es, die den neuen Krieg gegen die Türken angefangen haben«, sagte der Zöllner. »Also ist es mehr als recht, dass die Engländer ihnen eine Lektion erteilen.«
»Und die Schiffe kommen überallhin«, sagte der Schiffer. »Sie kommen ohne Wind aus, nichts ist mehr wie früher.«
»Ich habe gehört, dass eine solche Dampfmaschine, wie sie die Odin hat, genauso viel Kraft erzeugt wie fünfhundertsechzig Pferde«, sagte der Zöllner.
»Ja, so heißt es«, sagte der Schiffer. »Aber ich verstehe nicht, wie alle diese Pferde an einer Stelle Platz haben sollten.«
»Es ist wohl ein Vergleich«, sagte der Zöllner. »Eine Art, die Stärke der Maschine zu beschreiben.«
»Ja, aber irgendwo müssen die Pferde doch sein. Und es wird fürchterlich eng und es geht viel Hafer drauf.«
Das Gespräch stockte, denn draußen auf der Reede wurde ein Ruderboot von der Odin abgefiert. Als es das Wasser erreicht hatte, ging eine kleinere Schar Seeleute an Bord. Bald waren sie auf dem Weg an Land.
Die Männer im Hafen machten sich auf in Richtung Wirtshaus. Sie nahmen an, dass die Engländer auch dorthin wollten. Vielleicht gab es einige Neuigkeiten, etwas Gesang und Gelächter.
Es war ein warmer Abend. Marta stand wie gewöhnlich mit schmutzigem Geschirr und Töpfen an der Rückseite des Wirtshauses. Von drinnen aus dem Saal hörte sie das Gegröle und die fremden Wörter, Lieder, die sie nicht kannte. Ein Engländer hatte eine Mandoline dabei, ein anderer eine Geige. Marta sollte an diesem Abend nicht servieren; man war der Ansicht, dass das bei ihrem Aussehen nicht passend war. Sie hatte ihre Arbeit in der Küche und auf der Rückseite des Hauses.
Es kam jedoch vor, dass jemand von den Gästen um die Ecke kam und eine Weile blieb oder sich später am Abend, oder in der Nacht mit ihr verabredete. Manchmal ging sie mit ihnen, aber sie suchte sich ihre Verehrer aus. Wenn sie allzu betrunken waren, lehnte sie ab.
Es war immer noch früh am Abend. Mehrere der englischen Gäste hatten sich an den Tischen vor dem Wirtshaus niedergelassen; auch die Männer, die vom Hafen heraufgekommen waren, blieben dort stehen. Bald hatten sie Bier und Branntwein bestellt, sie gaben abwechselnd eine Runde aus. Die Engländer sollten sich willkommen fühlen.
Der Adler war da, der Dolmetscher aus Österbotten. Er bekam die ganze Zeit über Fragen, die er übersetzte und so viele Antworten, dass er es nicht immer schaffte, ihnen gerecht zu werden. Er fügte hinzu und ließ weg, wie er wollte und übernahm das Wort, wo er meinte, es besser zu wissen.
Einer der Engländer erzählte von London und alle wollten zuhören. Es war ja eine weltberühmte Stadt, aus der der Mann kam. Er hatte keine Arbeit gehabt und gehört, dass die Flotte Leute brauchte. Viele der Männer waren auf ähnliche Weise angestellt worden und längst nicht alle hatten Erfahrung auf See. Aber sie hatten Geschichten zu erzählen von der großen Stadt, in der es alles zu geben schien. Und mehrere von ihnen erzählten von dem neuen Kristallpalast.
Was war denn das? Die Schweden verstanden es nicht. Von einem Palast hatten sie gehört, das war wohl wie ein großes Schloss, aber aus Kristall?
Doch, es war tatsächlich wahr.
Jetzt war es Adler, der auf Schwedisch erzählte. Er war selbst in London gewesen, als die große Weltausstellung 1851 öffnete, und er war im Kristallpalast gewesen.
Aber wie sah der Palast denn aus?
Er war vierhundert Meter lang, aus Eisen und Glas gebaut, mit zwei hohen Türmen. Er war wie ein Skelett aus Eisenbögen mit hunderttausenden Scheiben aus Glas dazwischen. Und nachts wurde er von unzähligen kleinen brennenden Gasflammen erhellt. Es glitzerte und glänzte in der Nacht, dass es ganz bezaubernd war.
Alle lauschten der Erzählung des Adlers. Dachte er sich das aus? Nein, einer der Schweden hatte in der Zeitung über den Kristallpalast gelesen; also gab es ihn wohl wirklich.
Alle Plätze an den kleinen Tischen vor dem Wirtshaus waren besetzt. Außerdem waren mehrere andere Gäste, die auf dem Weg nach drinnen waren, stehen geblieben, um der Erzählung des Adlers zu lauschen. Und hinter einem Busch an der Hausecke saß Josef. Er hörte alles, was gesagt wurde und wunderte sich ebenso wie alle anderen.
Jemand an den Tischen fragte, was sich in diesem Palast befand.
Ja, dort gab es seltsame Dinge aus aller Welt: Brotfrüchte aus der Südsee, Waffen und Ziergegenstände aus Afrika, Juwelen aus Indien, elektrische Maschinen aus England und Frankreich, ganze Service aus Gold aus Amerika, chinesisches Porzellan und Ziergegenstände für Kaisersäle, Großes und Kleines, alles Merkwürdige und Unbegreifliche gab es im Kristallpalast. Die ganze Welt gab es dort.
Und der Adler war dort gewesen?
»Ich bin eines Nachmittags dort gewesen, es war ein Sonntag«, erzählte er. »Siebzigtausend Menschen haben gleichzeitig Platz dort drinnen.«
Niemand sagte etwas. Alle hatten wohl Fragen, aber dies war viel zu viel auf einmal.
Als das Gespräch an den Tischen allmählich zu anderem überging, blieb Josef noch eine Weile sitzen. Einige sahen ihn, aber niemand kümmerte sich um einen kleinen Jungen, der zuhörte.
Dann schlich er sich um das Haus herum auf die Rückseite. Er ging nicht bis ganz nach hinten; er sah seine Mutter und er sah einen Mann, der gerade dorthin gekommen war, und der Mann fasste seine Mutter auf eine komische Art an.
Josef stand im Dunkeln zwischen den Wacholdersträuchern und nach einer Weile ging er zum Stallhäuschen. Er machte ein Feuer im Ofen mit Hilfe des Feuerzeugs und ganz feiner Streifen Birkenrinde, die er von einem Stück trockenen Birkenholzes abkratzte.
Als das Feuer brannte, setzte er sich mit dem Buch über Amerika an die offene Luke. Er las über die Niagarafälle, konnte es aber nicht lassen, an den Kristallpalast zu denken. Er hatte einen Bleistift und versuchte nun, das Wort auf eine der Buchseiten an den Rand zu schreiben.
Josef war zehn Jahre alt; er war gut im Lesen und hatte eine gepflegte Handschrift. Er schrieb Wörter und Sätze auf Zettel, so oft er die Gelegenheit bekam. Bei der Kirche in Väddö war eine Schule gebaut worden, aber für die Kinder in den nördlichen Dörfern des Kirchspiels war es weit dorthin und deshalb kam jeden Herbst für einige Wochen ein Lehrer zu Besuch und machte Unterricht, wo es einen freien Raum gab. Zuletzt hatten sie auf dem Matshof in Byholma gesessen. Josef hatte schon in seinem ersten kurzen Schulhalbjahr Lesen gelernt. Aber dies war eines der längsten Wörter, die er je geschrieben hatte und er war sich nicht sicher, ob er es richtig buchstabierte.
Dann versuchte er, den Kristallpalast auf eine der leeren Seiten ganz hinten im Buch zu zeichnen.
Seine Mutter kam an diesem Abend nicht nach Hause. Josef nahm sich etwas Essen, ein Stück Roggenbrot und die Reste einer geräucherten Maräne, die Marta aus der Küche mit nach Hause geschmuggelt hatte. Als er sich schlafen legte, dachte er an den Kristallpalast; er versuchte, ihn sich von innen vorzustellen. Er war alleine dort mit all den seltsamen Dingen. Langsam ging er zwischen funkelnden Juwelen und wogenden Bäumen entlang, auf denen frisches, duftendes Brot wuchs. Er pflückte und aß, was er begehrte; alles war erlaubt. Auf anderen Bäumen wuchsen Süßigkeiten, süße, herrliche Plätzchen und Bonbons.
Als er sich satt gegessen hatte, wanderte er weiter durch den Palast und war von wunderbarem Licht umgeben. Es blitzte und flackerte wie Hunderte von Strahlen in allen denkbaren Farben.
Als Josef einschlief, war er immer noch im Kristallpalast. Und als seine Mutter später in der Nacht nach Hause kam und neben ihm ins Bett kroch, erwachte er und freute sich, als er an all das dachte, das er ihr würde erzählen können.
Am Tag darauf verließ die Odin Grisslehamn. Das Kohlenschiff war unterwegs, das Wetter war gut und das Meer ruhig. Jetzt sollte die Odin Kohle bunkern und dann mit den gefangen genommenen Åländern weiter südwärts fahren. Wo sie abgesetzt werden sollten, war unklar. Das durfte niemand wissen, aber jemand meinte gehört zu haben, dass die Fahrt nach Kopenhagen ging. Sie waren jedoch davon unterrichtet worden, dass ihnen kein Leid geschehen sollte. England wollte der Bevölkerung Finnlands und Ålands nicht schaden; es war die russische Seefahrt, die man lahmlegen wollte. Die Schiffe wurden verbrannt oder beschlagnahmt und die Besatzungen fortgeschickt.
Jetzt fuhr die Odin mit Höchstgeschwindigkeit nach Süden; sie machte an die zehn Knoten. Der Kapitän wusste, dass er bald zurück auf dem Åländischen Meer sein würde. Er sollte mit der Odin an Angriffen auf Küstenorte auf Åland und dem finnischen Festland teilnehmen. Aber noch immer fehlten der englischen Flotte Lotsen, die mit den Fahrwassern gut vertraut waren.