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ОглавлениеBegegnung im Nebel
In dieser Woche hatte sie nur wenig gefangen. Mehrere Tage hintereinander hatte Kristina die Netze zwischen den kleinen Felsen der Svartkobbarna-Inselgruppe ausgelegt, wo sich, wie sie wusste, die Fische gewöhnlich aufhielten, und doch war der Fang nicht der Rede wert gewesen, nur ein paar Zander und einige kleine Maränen.
An diesem Vormittag versuchte sie, die Netze bei der äußersten Felseninsel auszulegen, wo der Boden steil nach unten abfiel. Dahinter begann das offene Meer. Es lag Nebel über dem Åländischen Meer, die Sicht war eingeschränkt.
Kristina brauchte länger als gedacht. Sie war gezwungen, einen Senker zu verlegen und eine Netzbefestigung zu flicken, sie geriet in zu große Tiefe hinaus, näherte sich wieder mehr dem Ufer und warf das Netz erneut aus. Es kümmerte sie nicht, dass der Nebel immer dichter wurde; sie war ja in Landnähe, das steinige Ufer der kleinen Felseninsel und das Wäldchen aus Wacholdersträuchern lagen in Sichtweite. Wenn sie in die andere Richtung blickte, sah sie nur eine dicke graue Wand.
Mit dem Nebel kam die feuchte Kälte vom Meer. Es war die erste Maiwoche des Jahres 1854, und das Meerwasser war immer noch kalt wie im Winter. Die Eiderenten waren schon mit ihren Jungen auf dem Meer, aber die Seeschwalben waren noch nicht an die Strände Roslagens gekommen.
Langsam ruderte Kristina zu der Felseninsel zurück. In diesem Frühjahr hatte sie sich mit der kleinen Räucherei der Familie eine immer größere Arbeitslast aufgebürdet. Aber sie brachte Bargeld, denn der Fisch wurde an das Wirtshaus in Grisslehamn verkauft, und ein Teil ging an das Posthaus oder das Militär.
Kristina hatte in der Woche zuvor eine lange Leine auf einer der äußeren Felseninseln zurückgelassen. Sie hatte am Ufer eine gute Stelle zum Befestigen des Netzes gefunden und die Leine dort gelassen. Als sie jetzt an dieser äußeren Felseninsel vorbeiruderte und schon die nächste Insel erblickte, fiel ihr die Leine wieder ein und sie beschloss, sie zu holen.
Sie sprang an Land, zog das Boot auf den flachen Strand hinauf, fand die Leine und setzte sich auf einen runden Stein, um sich auszuruhen. Jetzt war die Sicht richtig schlecht, sie sah, wenn überhaupt, nur zwanzig Meter weit. Aber sie würde nach Hause finden, Byholma lag ganz nah, und bis Marviken, wo sie die Räucherei hatte, war es nur eine halbe Stunde zu rudern. Sie wusste, wo Norden und Süden waren.
Weit entfernt schrie ein Vogel, vielleicht eine Meerente.
Da hörte sie ein unbekanntes Geräusch, etwas wie ein schwaches Schnaufen draußen auf dem Meer. Es kam näher, und nach einer Weile klang es mehr wie ein heiseres, rhythmisches Schlürfen oder Pfeifen. Kristina musste an strömendes Wasser denken, an den gurgelnden Laut, mit dem Wellen in Uferhöhlen eindringen und wieder hinausfließen. Aber das hier war etwas anderes.
Sie stand auf und ging hinunter zum Ufer, am Ruderboot vorbei und hinaus auf die Landzunge der kleinen Felseninsel. Das Geräusch nahm die ganze Zeit über an Lautstärke zu.
Jetzt hörte sie entfernte Stimmen, Rufe und Schreie, aber sie konnte keine Wörter verstehen. Es klang nicht wie Schwedisch.
Sie blieb bei einem Wacholderstrauch stehen, wartete, hörte immer noch das schnaufende Geräusch und dann wieder die Rufe. Jetzt hatten sich die Rufer dem Land genähert, waren aber immer noch vom Nebel verborgen.
Plötzlich hörte sie ein platschendes Geräusch, so wie wenn jemand mit heftigen Armbewegungen schwimmt. Und dann knallte ein Schuss und dann noch einer. Das Platschen ging weiter. Kristina hockte sich hinter den Wacholderstrauch. Sie war sich jetzt ziemlich sicher, dass jemand mit kräftigen Armzügen auf den Strand zuschwamm.
Schließlich erblickte sie den Mann im Wasser. Er hatte gerade eben das flache Ufer erreicht, stand auf und ging einige taumelnde Schritte, fiel und stand wieder auf. Als er oben am Ufer war, wandte er sich um und sah in Richtung seiner Verfolger, denn nun begriff Kristina, dass der Mann verfolgt wurde.
Es war ein junger Mann, barhäuptig, seine durchnässte Kleidung sah gewöhnlich aus, Walkhosen, helles Hemd, Weste. Er hatte helle Haare und sah aus wie die meisten jungen Männer aus der Gegend.
Der Mann trottete an dem Strauch vorbei, hinter dem Kristina versteckt saß. Sie hörte seinen keuchenden Atem, sie sah ihn aus der Nähe, aber er sah sie nicht. Er lief auf die Insel zu, auf das Gestrüpp und die Klippen, die sich dort befanden. Kristina wusste, wie die Insel aussah. Wusste der fliehende Mann es auch? Kristina kam der Gedanke, dass er vielleicht aus der Gegend war.
Dann kamen die Verfolger. Sie kamen in einem Boot, einem schweren Ruderboot mit drei Riemen an jeder Seite. Als der Steven das flache Ufer erreichte, bewegte sich das Boot durch die Geschwindigkeit, die die Ruderer aufgenommen hatten, noch einige Meter weiter. Drei Männer mit Gewehren sprangen hinaus, gefolgt von einigen der Ruderer, die mit blanken Kurzsäbeln bewaffnet waren. Die Männer trugen Uniformen: blaue Jacken, blaue Hüte, weiße Hosen. Sie riefen sich etwas zu, einer von ihnen zeigte auf etwas, und Kristina hörte wieder jene fremden Wörter.
Sie wusste, dass sich dampfbetriebene englische Kriegsschiffe auf dem Åländischen Meer befanden. Sie waren nach der Eisschmelze gekommen, lagen im Krieg mit Russland und bedrängten Handelsschiffe auf dem Meer. Einige Fischer und Bootsmänner aus Roslagen hatten die seltsamen Kriegsschiffe, die auch bei Windstille gute Fahrt machten, schon gesehen und den erstaunten Zuhörern in Grisslehamn von ihren Beobachtungen berichtet. Kristina hatte durch ihren Vater davon gehört. Jetzt dachte sie, dass das Geräusch im Nebel vielleicht von einem jener Dampfschiffe kam und in diesem Fall die Männer englische Soldaten waren.
Sie teilten sich auf. Einer der Bewaffneten ging geradewegs auf die Insel zu, die anderen verschwanden in verschiedene Richtungen längs des Ufers. Kristina blieb hinter dem Wacholderstrauch sitzen. Dann und wann hörte sie Rufe; die Engländer hielten offensichtlich auf diese Weise Kontakt miteinander, aber es wirkte nicht so, als wären sie bei ihrer Suche erfolgreich.
Kristina lauschte, das zischende Geräusch des Dampfschiffs war die ganze Zeit über da. Aber es war nichts zu sehen, der Nebel war zu dicht.
Nach einiger Zeit spürte Kristina, dass sie den Rücken strecken musste. Sie erhob sich vorsichtig und drehte sich gleichzeitig zur Seite. Da sah sie flüchtig etwas im Nebel und setzte sich schnell wieder hin. Es war der fliehende Mann, der zurückkam. Er kam auf ihr Versteck zu, wurde langsamer, schien unschlüssig zu sein. Kristina verspürte den Wunsch, ihm zu helfen, sie überlegte, war im Begriff sich zu erheben. Da trat einer der bewaffneten Engländer aus dem Nebel hervor, es war einer von denen, die am Ufer entlanggelaufen waren; jetzt war er plötzlich umgekehrt.
Der Mann erblickte den Fliehenden im selben Moment, als dieser seinen Verfolger sah. Der Engländer hob einen kurzen Säbel in Taillenhöhe und ging langsam auf den anderen zu, der vollkommen still dastand. Jetzt lagen nur noch drei Meter zwischen ihnen.
Plötzlich machte der gejagte Mann mit der einen Hand eine Bewegung zu dem Verfolger hin, während er gleichzeitig einen kleinen Schritt vorwärts machte. Der Bewaffnete hob den Säbel in Stoßposition und stand mit der blanken Klinge bereit, hielt den Stoß aber noch zurück.
Da stürzte Kristina aus ihrem Versteck hervor. Sie blieb zwischen den beiden Männern stehen und wandte sich dem Engländer zu. Die Säbelspitze war auf ihre Brust gerichtet, sie sah dem jungen Mann ins Gesicht, begegnete seinen Augen und sah, dass sie hellblaugrau waren.
Langsam senkte er die Waffe ein wenig, hielt jedoch die Hand hart um den Griff geschlossen. Er war immer noch bereit zuzustoßen. Kristina sah ihn die ganze Zeit über an und wusste nicht, was geschehen würde.
»Tu es nicht«, flehte sie.
Der Engländer runzelte die Stirn, sein Gesicht bekam einen fragenden Ausdruck, und er sah Kristina mit einem Blick an, den sie nicht deuten konnte.
»Lieber Freund«, sagte sie. »Warum willst du ihm wehtun, was habt ihr miteinander zu schaffen?«
Jetzt murmelte der Gejagte etwas, das Kristina nicht hören konnte. Sie wandte sich ihm zu.
»Ich habe den Engländern nichts getan«, sagte er mit åländischem Dialekt.
Kristina nickte ihm zu und wandte sich danach wieder dem Bewaffneten zu. Er senkte seine Waffe und richtete die Spitze auf den Boden. Sein Mienenspiel veränderte sich ganz leicht, aber Kristina konnte seine Absichten noch immer nicht deuten.
Sie ging langsam auf den Engländer zu. Jetzt sah er sie wieder an, und ihre Unruhe nahm langsam ab. Er war etwas größer als sie und hatte kurz geschnittene Haare. Etwas von seinem rotbraunen Haar kam unter dem Rand des Huts hervor. Er war glatt rasiert.
Jetzt lächelte er sie an, und sie lächelte zurück. Dann hob sie die Hand und berührte seine Schulter. Er nahm den Hut ab und sah ihr die ganze Zeit über gerade in die Augen.
»Danke, mein Freund«, sagte sie.
Der Mann nickte. Dann trat er einen Schritt zurück, setzte sich den Hut auf und wandte sich dem Gejagten zu. Er sagte etwas in seiner Sprache, zeigte auf Kristina und dann auf die Sträucher, in denen sie sich versteckt hatte. Dann ging er hinunter zum Wasser.
Kristina verstand, und sie sah, dass der åländische Mann ebenfalls verstanden hatte. Gemeinsam setzten sie sich hinter den Wacholdersträuchern hin, und jetzt merkte Kristina, dass der Mann zitterte.
Sie saßen dort dicht beieinander, warteten, atmeten leise, und die ganze Zeit über hörte man das zischende Geräusch von dem Schiff im Nebel.
Dann rief der Engländer etwas, einige seiner Kameraden antworteten, einmal, mehrere Male. Die Rufe kamen näher, bald hatten sich alle Verfolger wieder am Ufer versammelt.
Der Mann, der den fliehenden Åländer hatte entkommen lassen, zeigte in Richtung Land und hinaus auf das Wasser und erklärte etwas. Vielleicht sagte er, dass der Fliehende schwimmend auf eine andere Insel verschwunden war. Die anderen nickten und murmelten; dann kehrten sie zu dem wartenden Ruderboot zurück.
Nach kurzer Zeit hatte der Nebel das Ruderboot verschluckt. Das zischende Geräusch veränderte sich, es nahm an Lautstärke zu, und der Takt wurde ein anderer. Kristina sah von ihrem Versteck auf das Wasser hinaus. Dort war nichts als Nebel und dazu das Geräusch des Dampfschiffs.
Aber dann erblickte sie doch etwas, eine Schiffsseite, ein großes Rad, das sich langsam im Wasser drehte. Das dampfbetriebene Schiff war näher an das Land herangekommen und wendete. Wasser strömte und spritzte von dem großen Rad. Und jetzt sah Kristina eine Reihe von Geschützluken entlang der Schiffsseite, Deckaufbauten und Masten. Plötzlich war das ganze Schiff zu sehen, scheinbar lichtete sich der Nebel in Landnähe etwas.
Es war ein beängstigender Anblick, ein Seeungeheuer, ein Meeresriese, der zischte und brauste, eine schwimmende Kriegsmaschine mit qualmendem Rauch, Kanonen und Feuer an Bord.
Langsam drehte sich das Schiff vom Land weg, das Heck wurde sichtbar, und Kristina konnte den Namen des Schiffes lesen: Hecla.
Dann schloss sich der Nebel wieder um das Schiff. Das Zischen war noch da, aber das seltsame Geräusch wurde leiser, und bald war es still um die Felseninsel.
Kristina stand auf, der durchnässte Mann tat es ihr nach. Sie machten sich miteinander bekannt. Der Mann hieß Sven Granlund und kam aus Hammarland auf Åland. Er gehörte zur Besatzung eines Frachtseglers auf dem Weg nach Sundsvall, wo sie Holzbretter laden sollten. Aber das Schiff war von den Engländern beschlagnahmt und die gesamte Besatzung gefangen genommen worden.
»Sind denn die Åländer Feinde Englands geworden?«, fragte Kristina.
»Wir haben nichts zu sagen«, antwortete der freigelassene Seemann. »England hat eine Blockade gegen den gesamten russischen Seeverkehr verhängt, und da wir ja russische Untertanen sind, sind auch wir betroffen.«
»Und du und deine Kameraden, ihr sollt in Gefangenschaft?«
»In Dänemark oder England lassen sie uns frei, und dann können wir sehen, wie wir nach Hause kommen. Aber sie nehmen uns die Schiffe und brennen unsere Häfen nieder.«
»Für dieses Mal bist du davongekommen.«
»Ja, aber ich verstehe nicht warum. Du etwa?«
Kristina antwortete nicht, sie verstand es auch nicht, aber sie spürte, dass ihr etwas Ungewöhnliches widerfahren war.
An diesem Abend konnte Sven Granlund sich trockene Kleidung leihen und bekam eine Mahlzeit zu Hause bei Kristina in Byholma. Ihre Großmutter Johanna war dort und ihr Vater Markus. Sie fragten und wunderten sich, aber niemand konnte verstehen, warum der Engländer den åländischen Seemann freigelassen hatte.
Sven Granlund blieb über Nacht. Am folgenden Tag war seine Kleidung getrocknet. Markus leistete ihm Gesellschaft hinunter nach Grisslehamn, wo sie im Hafen nach auslaufenden Schiffen fragten. Sven würde gewiss zurück nach Hause kommen; ein Åländer konnte hier immer mit Hilfe rechnen, er war ja ein Nachbar.
Als die Männer gegangen waren, saß Kristina eine Weile mit ihrer Großmutter in der Küche. Sie sprachen oft miteinander, wenn sie alleine waren, und verstanden sich meist gut. Kristina berichtete noch einmal über das, was auf der kleinen Felseninsel geschehen war, und dieses Mal tat sie es ausführlicher.
»Ich erinnere mich so gut an das Gesicht des Engländers«, sagte sie.
»Denkst du an ihn?«, wollte Johanna wissen.
»Ja, schon.«
»Das merke ich, und es ist nicht verkehrt, aber vielleicht kommt er nicht zurück.«
»Oder er tut es irgendwann einmal.«
»Ich verstehe so gut, was du denkst. Vielleicht habe ich dir eines Tages etwas zu erzählen.«
Johanna verstummte, und Kristina fragte sich, was ihre Großmutter eigentlich meinte. Aber sie begriff, dass sie jetzt nicht mehr erfahren würde.