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Quantitative Auswertung

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Das Total der schweizerischen Anstalten und Vereine ist für das Stichjahr 1850 mit einer Anzahl von 125 noch relativ überschaubar. Eine Vervierfachung fand bis 1890 mit insgesamt 515 Anstalten und Vereinen statt; eine Zunahme, wie sie anschliessend mit einer Vermehrung um den Faktor 2½ zwischen 1890 und 1930 mit insgesamt 1314 Organisationen nicht mehr erreicht wurde. Wenn die Entwicklung der Anstalten gesondert betrachtet wird, so fällt auf, dass im Jahr 1850 bereits deren 113 bestehen. Neben städtischen Waisenhäusern für Bürger wurden vor allem auch die ländlichen Armenerziehungs- oder Rettungsanstalten in Anspruch genommen, deren Verbreitung Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte. Ihr Konzept lag insbesondere in der Erziehung durch die landwirtschaftliche Arbeit, wohingegen die schulische Ausbildung lediglich auf einem «Gelegenheitsunterricht» beruhte.84


Tabelle 5: Übersicht der Anzahl Schweizer Anstalten und Vereine nach geschlechtsspezifischen Aufnahmekriterien für Kinder und Jugendliche in den drei Stichjahren 1850, 1890 und 1930. m = männlich, w = weiblich, A = Anstalten, V = Vereine


Tabelle 6: Übersicht der Anzahl Schweizer Anstalten und Vereine nach konfessionellen Aufnahmekriterien für Kinder und Jugendliche in den drei Stichjahren 1850, 1890 und 1930. prot. = protestantisch, kath. = katholisch, interk. = interkonfessionell, A = Anstalten, V = Vereine

Die Anzahl der Anstalten vervierfacht sich bis ins Jahr 1890 (448), wobei insbesondere der neue Heimtyp «industrielle Anstalt» in Erscheinung tritt, 85 und nimmt um den Faktor 2½ bis ins Jahr 1930 (1181) zu. Diese rasante Zunahme zwischen den ersten beiden Stichjahren widerspiegelt auch die Entwicklung der Vereine von zwölf im Jahr 1850 bis zur 5½-mal grösseren Anzahl im Jahr 1890 (67). Diese Vervielfachung unterstreicht auch die Aussage von Degen, der die rasante Zunahme der Gesellschaften nach 1880 beschreibt.86 Zwischen 1890 und 1930 verdoppelt sich die Anzahl der Vereine mit Fremdplatzierungscharakter auf 133 für die gesamte Schweiz.

Die «Nutzung» dieses stets wachsenden Spektrums durch «Versorger» war im Wesentlichen von zwei Faktoren abhängig: dem Geschlecht der Kinder sowie deren Konfession (siehe Tabelle 5). Die Anzahl Institutionen und Vereine für Mädchen war in allen drei Stichjahren grösser als diejenige für Knaben (1850: 16 Anstalten und Vereine, 1890: 53, 1930: 67). Dieser Befund deckt sich nicht mit der Untersuchung von Schoch, in der erwähnt wurde, dass «die Zahl der reinen Knabenanstalten überwog».87 Insbesondere zwischen 1850 und 1890 verdreifachten sich die spezifisch auf Mädchen ausgerichteten Institutionen, während diejenigen für Jungen sich nur verdoppelten.

Diese dezidiert geschlechterhomogenen Institutionen waren aber in allen drei Stichjahren nur eine Ergänzung des hauptsächlich geschlechterheterogenen Spektrums: Die Schweiz verfügte 1850 über 94 Anstalten und Vereine für die dauerhafte Platzierung von Kindern und Jugendlichen (entsprachen 75,2 Prozent aller Institutionen), 1890 standen bereits 429 Organisationen für beiderlei Geschlecht offen (entsprachen 83,3 Prozent), und 1930 machten dieselben bereits 1201 oder umgerechnet 91,4 Prozent der gesamten Fürsorgelandschaft aus. Eine Tendenz lässt sich somit klar feststellen, gefragt war ein «Fürsorgeangebot» für beide Geschlechter. Die Beobachtung von Seglias, wonach insbesondere Reformierte «gemischte» Anstalten errichteten, konnte mit dem vorliegenden Datenmaterial bestätigt werden.88

Bezüglich Geschlechterfrage unterschieden sich Anstalten und Vereine wesentlich: Im Jahr 1850 gab es nur einen, in den beiden Stichjahren 1890 und 1930 je zwei Vereine, die eine diesbezügliche Aufnahmebeschränkung («für Jungen») hatten. Spezifische Vereine für die «Platzierung» ausschliesslich weiblicher Pflegekinder existierten nicht, die Stossrichtung der Vereine lag in allen drei Stichjahren bei der Aufnahme beider Geschlechter. Die Anstalten hatten diesbezüglich deutlichere Beschränkungen: Rund 12 Prozent waren im Jahr 1850 nur für männliche, 14 Prozent für weibliche und 74 Prozent für Zöglinge beiderlei Geschlechts reserviert. Auch bei den Vertretern der «geschlossenen Fürsorge» lief die Tendenz Richtung geschlechterheterogener Institutionen. So existierten im Jahr 1930 rund 1070 derselben, was über 90 Prozent aller Anstalten ausmachte.

Das zweite massgebende Aufnahmekriterium war die Konfession (siehe Tabelle 6). Der interkonfessionelle Anteil betrug in allen drei Stichjahren bei den Vereinen über 80 Prozent, wobei er zwischen 1850 und 1890 zunahm und zwischen 1890 und 1930 von 88 Prozent auf 84 Prozent abnahm – aufgrund der vermehrt auftretenden rein katholischen Vereine im Jahr 1930 (14). Dies steht ganz im Gegensatz zu den interkonfessionellen Anstalten, deren Zahl ungebrochen von 42 Prozent im Jahr 1850 auf 59 Prozent im Jahr 1930 stieg. Bei den konfessionell getrennten Anstalten ist auffällig, dass 1850 56 protestantische nur 9 katholischen gegenüberstanden. Während sich im folgenden Stichjahr die protestantischen Anstalten nur verdoppelten, verzehnfachten sich die katholischen beinahe.89 Auch zum folgenden Stichjahr 1930 zeigt sich eine ähnliche Entwicklung, sodass schliesslich Gleichstand zwischen rein katholisch und rein protestantisch ausgerichteten Anstalten eintrat.

Die reformierten Anstalten waren «von einem pietistischen oder evangelikalen Protestantismus» geprägt, deren Trägerschaft sich aus Geistlichen und Philanthropen zusammensetzte.90 Auch in der Westschweiz, die «dem Beispiel der reformierten Kantone der Deutschschweiz» folgte, wurden insbesondere von Pastorentöchtern zwischen 1820 und 1845 sogenannte «asiles» geschaffen.91 Die reformierten Anstaltsgründungen strahlten auch in die katholische Schweiz aus, wo die erste Gründungswelle in den 1850er-Jahren einsetzte und ihren Höhepunkt in den 1890er-Jahren erreichte. Eine zweite Welle folgte zwischen 1910 und 1920.92 Die katholischen Anstalten wurden wesentlich vom Kapuzinerpater Theodosius Florentini geprägt, der als Mitglied der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft mit gleichgesinnten Reformierten in Kontakt stand. Mit der Gründung der Schweizerischen Rettungsanstalt Sonnenberg bei Luzern wurde 1855 auf Betreiben der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft eine «Pionierinstitution für die katholische Welt» geschaffen. Die meisten katholischen Heime wurden von Ordensleuten geführt, beispielsweise von den auf Florentini zurückgehenden Menzinger, Ingenbohler oder Baldegger Schwestern.93

Auf organisatorischer Ebene bestand zwischen den reformierten und den katholischen Anstalten somit ein wesentlicher Unterschied: In vielen reformierten Anstalten übernahm die Leitung ein «Hauselternpaar», sodass sich die Anstalt als «Familie» verstand. Bei den katholischen Ordensleuten war dieses «Familienprinzip» nicht vorhanden:94 «Das reformierte Heim zielt mit seiner Familienstruktur […] auf das Diesseits. Dieses Heim orientiert sich an der idealen weltlichen Familie. Das katholische Heim hingegen zielt mit seiner eher kollektiven gleichgeschlechtlichen Leitung tendenziell aufs Jenseits.»95 Wie für den Kanton Luzern aufgezeigt wurde, konnten die katholischen Heime durch den Einsatz von Ordensleuten die Personalkosten niedrig halten.96

Die Kombination der beiden Aufnahmefaktoren Geschlecht und Konfession zeigt auch hier ähnliche Tendenzen wie soeben beobachtet (siehe Tabelle 7). Das Total ohne konfessionelle Schranken war in allen drei Stichjahren prozentual am stärksten (37 Prozent im Jahr 1850, 51 Prozent im Jahr 1890 und 57 Prozent im Jahr 1930), wobei hier das protestantische «Angebot» für beide Geschlechter mit 29 Prozent viermal grösser war als das katholische mit 8 Prozent. Auch hier holten die Katholiken im Jahr 1890 auf, indem sich bereits 89 protestantische und 76 katholische Anstalten und Vereine gegenüberstanden, bis im Jahr 1930 sogar mehr rein katholische (232) als protestantische (212) in der Schweiz vertreten waren. Die Anzahl Institutionen für protestantische Jungen überstieg in den Stichjahren 1850 und 1890 die für katholische oder sogar die interkonfessionell ausgerichteten. Ein ähnliches Bild bietet sich bei den protestantischen Mädchen, für die im Jahr 1850 im Gegensatz zu den katholischen überhaupt Institutionen der «geschlossenen Fürsorge» bestanden. Bei den Katholiken nahmen die Platzierungsmöglichkeiten für Mädchen allerdings signifikanter als bei den Jungen zu, sodass 1930 Gleichstand für katholische und für protestantische Mädchen herrschte.


Tabelle 7: Übersicht über geschlechter- und konfessionell ausgerichtete Institutionen der Schweiz. Als Referenz für die prozentualen Berechnungen gelten 1850: 125 Anstalten und Vereine = 100%; 1890: 515 Anstalten und Vereine = 100%; 1930: 1314 Anstalten und Vereine = 100 %. Legende: m = männlich, w = weiblich, prot. = protestantisch, kath. = katholisch, interk. = interkonfessionell

Wenn die Betrachtungen auf eine Grundmaxime heruntergebrochen werden sollen, so lässt sich grob umschreiben, dass sich die Vereine in erster Linie als geschlechts- und konfessionsneutral in Bezug auf die Aufnahme von Pflegekindern verhielten und die Anstalten diesbezüglich stärker unterschieden. Die politisch und konfessionell neutralen Vereine oder Kantone stellten keine konfessionellen Barrieren auf. Hingegen schien es aus moralischen und gesellschaftlichen Gründen naheliegend, Anstaltszöglinge ab einem bestimmten Alter nach Geschlechtern zu trennen. Ein Konzept, wie es beispielsweise bei Vereinen nicht griffig gewesen wäre, da deren Pflegekinder in Familien mit Kindern beiderlei Geschlechts kamen, was der protestantischen «Familienkonzeption» entsprach.


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