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Der Armenerziehungsverein des Kantons Thurgau
ОглавлениеDie Initiative zur Gründung eines Armenerziehungsvereins im Kanton Thurgau ging vom reformierten Pfarrer Theodor Rehsteiner (1836–1916) in Güttingen aus, der aktives Mitglied der Thurgauischen Gemeinnützigen Gesellschaft war. Anlässlich deren Jahresversammlung vom 20. Juni 1881 in Frauenfeld wurde im Kreis des Regierungsrats Johann Konrad Haffter (1837–1914) und weiterer Mitglieder «die Frage der Armenerziehung, speziell Gründung von Armenerziehungsvereinen» zur weiteren Prüfung an die Direktionskommission überantwortet. Im Referat plädierte Rehsteiner für eine professionalisierte und humanere Armenunterstützung im Kanton und sprach sich für die eigentlich guten, aber nur unzureichend angewandten gesetzlichen Bestimmungen im Armenwesen aus. Im Kanton Thurgau war die praktische Ausübung der Armenfürsorge nicht bei den politischen, sondern bei den konfessionellen Kirchgemeinden angesiedelt.159
Im Anschluss an das Referat ergriff als Erster Pfarrer Brüllmann das Wort und ging mit dem Referenten einig: Schwindender Arbeitssinn und das «Sichüberlassen an die Armenpflegen» sei nicht der geeignete Ausweg aus den herrschenden Verhältnissen, der freien Vereinstätigkeit müsse gegenüber der Staatshilfe der Vorzug gegeben werden. Der evangelische Pfarrer und spätere Aktuar, Suppleant und Vizepräsident des evangelischen Kirchenrates Jakob Christinger (1836–1910) sah die «Hauptaufgabe eines thurg. Erziehungsvereines in der Aufsicht über die Verpflegten» und hielt es nicht für notwendig, eine Spezialkommission zur weiteren Beratung zu ernennen, sondern die Direktionskommission einzuladen, nötigenfalls in einer ausserordentlichen Versammlung einen Entwurf über Gründung und Organisation eines diesbezüglichen Vereins auszuarbeiten. Ein weiteres Mitglied schlug vor, sich zuerst mit den Kirchenvorsteherschaften abzusprechen und in ihnen eine finanzielle Stütze für den zu gründenden Verein zu suchen.160 Danach beschloss die Direktionskommission, die vom Pfarrer aufgestellten Schlussfolgerungen als für sie selbst verbindlich zu erachten und weiter voranzubringen.161 Rehsteiner wurde mit der provisorischen Schaffung von Statuten beauftragt.162 Im ersten Statutenentwurf hielt er unter anderem fest, dass der Verein «die gesetzlichen Armenbehörden in ihrer Obsorge für die Jugend» unterstützen und ergänzen wolle.163
Rehsteiner nahm den zu gründenden Armenerziehungsverein als reine Ergänzungsleistung der offiziellen Armenbehörden in finanzieller und organisatorischer Hinsicht wahr und verortete ihn konzeptionell eher bei den allgemeinen Armenvereinen.164 Dass er sich jedoch ganz klar an den bestehenden Armenerziehungsvereinen in anderen Kantonen orientierte, verriet der zweite Paragraf, nach dem die Aufgabe des Vereins darin bestehe, «arme u[nd] überhaupt hilfsbedürftige Kinder in guten Pflegefamilien & Anstalten [zu versorgen]» und «im reifen Jugendalter mit Anleitung & Aufsicht zu weiterem gedeihlichen Fortkommen der Schützlinge» beizutragen.165 Organisatorisch siedelte Rehsteiner den neuen Verein direkt bei der Thurgauischen Gemeinnützigen Gesellschaft an, die bei ihren Versammlungen jeweils alle drei Jahre einen kantonalen Vorstand bestehend aus fünf Mitgliedern bestimmen sollte.166 Dieser organisatorische Schulterschluss – wie er beispielsweise bei den Armenerziehungsvereinen Zofingen oder Muri zustande kam – wurde von der Direktionskommission der Gemeinnützigen Gesellschaft in der paragrafenweisen Diskussion der provisorischen Statuten fallengelassen, sodass der Armenerziehungsverein den Status einer autonomen Organisation erhielt.167 Um eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen, erhielt Rehsteiner die Möglichkeit, in der periodisch erscheinenden «Zeitschrift für Gemeinnützigkeit. Organ der thurg. Gemeinnütz. Gesellschaft» einen Artikel zu platzieren.168 Mit dem Titel «Die Frage betref. die Gründung eines Armenerziehungsvereins im Kanton Thurgau»169 griff er zuerst sein Referat vom 20. Juni 1881 auf, um dann das Folgereferat an der Jahresversammlung in Romanshorn vom 26. Juni 1882 in vier Punkten zusammenzufassen.170
Als Erstes formulierte Rehsteiner die Frage: «Was ist auf dem Gebiete der Armenerziehung geleistet worden?» Hier verwies er auf den ersten Armenerziehungsverein im Kanton Basel-Landschaft, der einen ersten «Versuch» tätigte, «dem Pauperismus durch einen erzieherisch wirkenden Verein abzuhelfen».171 Er ging weiter auf dessen Organisation ein und stellte fest, dass es einen grossen Kantonalvorstand mit Vertretern in allen vier Bezirken und zwei Geschäftsführer pro Gemeinde gebe. «Die Haupttätigkeit aber wurde dem Armeninspektorate überbunden, das bei stets wachsenden Geschäften 1874 zur besoldeten Stelle erhoben wurde.»172 Dann ging er auf die neun bestehenden Armenerziehungsvereine im Kanton Aargau ein, 173 «welche trefflich organisirt, sich fast in alle Gemeinden erstrecken».174
Diese Situationsanalyse mündete in die Frage: «Bedarf auch der Kanton Thurgau eines Armenerziehungsvereins?» Rehsteiner resümierte, dass der Thurgau keine Grossstädte mit ihren Schattenseiten kenne, doch gebe es «Ansätze zu Städten». Und so verirre sich auch die Thurgauer Jugend «in libertinistische Gedanken und Thaten». Auch hier gebe es «überall flottante Bevölkerung und eine grosse Zahl von Eltern können wegen Gebundenheit an ihre Arbeitsstätten ihre Kinder fast nie überwachen». Dies führe zu lauten Klagen über die «zunehmende Zuchtlosigkeit der Jugend und mit Recht». Rehsteiners Ausführung über die negativen Seiten der Industrialisierung und drohenden Pauperisierung leiten in die Feststellung über, dass man prophylaktisch handeln müsse: «Will man nicht progressiv steigende Armensteuern, zunehmenden Wirthshausbesuch und Übervölkerung der Armen-, Irren- und Strafhäuser, so muss man vorbauen mit vermehrter Obsorge über die verwahrloste und vernachlässigte Jugend.»175 Die Ursache der «Verwahrlosung» liege seiner Meinung nach bei der Arbeitsbelastung beider Elternteile. Die gesetzlichen Armenpflegen seien zur Bewältigung dieser Aufgabe ungenügend, «weil sie zu viel mit Kassa-Defiziten und anderen hemmenden Faktoren rechnen müssen, weil es ihnen an Korrespondenten auswärts fehlt und sie selbst zu wenig kontrolirt sind». Der Dreh- und Angelpunkt bei der prophylaktischen Armenfürsorge wäre somit «Die freie Liebestätigkeit», sie «allein kann diesen Mangel ersetzen. Sie mildert die Härte des bisherigen Bürgerprinzipes, knüpft dauernde Bande zwischen den Vereinen oder Schützlingen und öffnet den Kern dankbarer Anhänglichkeit. Sie ist am Besten im Stande richtig zu entscheiden, welche Kinder in Anstalten, welche in Familien zu unterbringen sind und findet mit ihrem Appell an die Humanität offene Thore für ihre Pfleglinge.»176
Als dritte Frage formulierte Rehsteiner: «Welches sind die Aufgaben eines solchen Erziehungsvereins?» Seiner philanthropischen Auffassung nach müssten die Armen «mit bleibenden Reichthümern» ausgestattet werden. Ein solcher Verein hebe allein durch die Tatsache, dass er bestünde, «das solidarische Interesse», richte das Augenmerk seiner Mitglieder auf Missstände und fördere den Dialog: «Der Verein setzt sich den Zweck, zunächst durch Belehrung der in erster Linie pflichtigen Erzieher die Lage und Erziehung der Kinder zu verbessern, sodann aber sorgt er selbst, soviel in seinen Kräften liegt, für gehörige leibliche und geistige Pflege und Rettung aus der Gefahr der Verwahrlosung.»177 Diese «Rettung» geschehe über Familien oder Anstaltsversorgung und im gegebenen Fall auch durch Berufsausbildung, in jedem Fall «durch fleissige Inspektion überwacht». Um sich dieser schwierigen Aufgabe zu stellen, sei es eventuell auch dienlich, sich «Anfänglich […] nur der leitsamen Kinder an[zu]nehmen, die Widerspenstigen aber den mit genügenden Kompetenzen ausgerüsteten Armenpflegschaften [zu] überlassen». Als mittelfristiges Ziel setzte er die Initiative zu einem neuen Armengesetz in Aussicht, «einmal in der Richtung, dass auch solcher Vereinsarbeit staatliche Subsidien und polizeiliche Befugnisse zugewendet würden und zugleich in der andern Richtung, dass das Gesetz dann überall, auch über alle von Behörden versorgten Kinder eine regelmässige Inspektion anordnete». Schliesslich befand Rehsteiner als eine der Hauptaufgaben, dass der Verein «ein solch entschiedenes Zutrauen» erwerbe, dass er auch bei steigenden Ausgaben und Anforderungen immer «aus freier Hand die Mittel erhielte, seine Aufgaben zu erfüllen».178
Als letzten Punkt hielt er «Die Mittel zur Durchführung dieser Aufgaben» fest. In organisatorischer Hinsicht wünschte sich Rehsteiner, dass der Verein sich über das gesamte Kantonsgebiet erstrecke. In wirtschaftlicher Hinsicht schlug er einen jährlichen Mitgliederbeitrag vor und zählte darüber hinaus auf Legate und Geschenke, und zuletzt «dürfe nach bestandener Probezeit der Staat um Beiträge ersucht werden».179 Seinen Artikel liess Rehsteiner mit folgendem Schlussantrag enden: «Überzeugt von der Wichtigkeit gehöriger Armenerziehung will die gemeinnützige Gesellschaft diesem Werke ihre besondere Aufmerksamkeit zuwenden, sie wird die freie Liebes- und Vereinsthätigkeit nach dieser Richtung anzuregen bemüht sein und als Ziel die Gründung eines Armenerziehungsvereins in unserm Kantone anstreben.»180
Darüber hinaus wurde vereinbart, dass die Direktionskommission in einer kommenden Versammlung einen Entwurf über Gründung und Organisation eines thurgauischen Armenerziehungsvereins ausarbeiten würde. Als Startkapital stiftete die Gesellschaft 1600 Franken, die ursprünglich einer «Anstalt für jugendliche Verbrecher» zugedacht waren.181 In einer ausserordentlichen Sitzung vom 30. Oktober 1882 besprach der Vorstand der Gemeinnützigen Gesellschaft den Statutenentwurf. Insbesondere wurde die organisatorische Verstrickung zwischen dem Armenerziehungsverein und der Gemeinnützigen Gesellschaft beanstandet: «Entweder müsse der neue Verein ganz selbständig constituirt oder der gem.[einnützigen] Gesell.[schaft] ganz untergeordnet werden.»182
Der reformierte Pfarrer Johann Jakob Christinger (1836–1910) schlug vor, für die ersten drei Jahre einen Kantonalvorstand bestehend aus fünf Mitgliedern der Gemeinnützigen Gesellschaft zu ernennen. Von diesem Vorstand würden in jedem Bezirk Korrespondenten gesucht. «Nach der Konstituierung & Bestellung des ersten Vorstandes geht die Aufsicht über die Vereinsthätigkeit, die Erneuerungswahl des Vorstandes & die Abnahmen der Jahresrechnung an die Generalversammlung des Vereins über.»183 Dieser Antrag erhielt gegenüber zwei weiteren den Vorzug. Für jedes Pflegekind solle ein «Patron oder Schutzaufseher bestellt» werden, «an den sich Pflegeeltern und Kinder wenden können, und der uns Bericht erstattet».184 In diesem Sinn wurde die Gründung des Thurgauischen Armenerziehungsvereins gutgeheissen und Rehsteiner zum ersten Präsidenten gewählt.
Mit einem Inserat suchte Theodor Rehsteiner im folgenden Jahr 1883 seine Pflegefamilien – und nutzte dabei dasselbe Medium wie die Armenpflegen, wobei er sein Inserat nur in der «Zeitung für Gemeinnützigkeit und Armenerziehung» veröffentlichte und in keinem der anderen Thurgauer Blätter – und wollte somit wohl eine eher philanthropisch-karitative Leserschaft erreichen (siehe Abbildung 11). Aus den Antworten erstellte der Vorstand ein «Adressheft für künftige Versorgungen».185 Dies war angesichts der steigenden Pflegekinderzahlen auch notwendig: Waren 1883 noch vier Knaben und zwei Mädchen in Vereinsobhut, so standen im Jahr 1887 bereits 43 Knaben und 32 Mädchen, also insgesamt 75 Kinder, unter dem Patronat.186
Für die Kinder wurden durchschnittlich 50 Franken pro Jahr an Kostgeld bezahlt, die «Unterbringung» in Anstalten belief sich auf durchschnittliche 100 Franken.187 Den Fokus setzte der Armenerziehungsverein in den ersten Jahren nach der Gründung insbesondere auf die Ausformung des Patronats, des Inspektionsorgans über die Pflegefamilien und -kinder: «Es ist nicht nur nöthig für unsere Kommission, eine Vermittlung zu haben in einem Korrespondenten an Ort und Stelle, es ist für die Pflegefamilien und versorgten Kinder von entscheidendem Werth und Einfluss, dass ein Berather und Schutzaufseher in der Nähe jedes versorgten Kindes sei.»188 Dem Verein war es ein Anliegen, dass «vertrauensvolle Mittheilungen» zwischen Patronen und Pflegeeltern ausgetauscht werden könnten und insbesondere dass das Kind «das wohlthuende Gefühl [erhält], dass man allseitig sich seiner annehme und ihm Gelegenheit bieten wolle, in der Nähe auch seine Anliegen anzubringen».189 Die Patronatsberichte sollten jährlich dem Vorstand unterbreitet werden, wobei dies nicht immer zur vollen Zufriedenheit und in der geforderten Regelmässigkeit geschah. Bereits 1893 wurde auf ein Zweijahresintervall gewechselt.190 Neben den Patronen fiel auch den Lehrern eine gewisse Aufsichtsfunktion zu, «denn der Lehrer weiss am Besten, wie es mit dem Kinde selbst und mit der Pflege, Bekleidung und Leitung des Kindes steht».191
Der Verein strebte eine Versetzung insbesondere bei Pflegefamilien an, wo das «ökonomische Interesse das leitende Motiv» sei. Das Pflegekinderwesen sei kein Nebenerwerb für finanziell schwach gestellte Familien, sondern eine Chance zur Erziehung von Pflegekindern und zur Ausübung christlicher Nächstenliebe. Die Erziehung konnte nach Vorstandsmeinung nur über einen langfristigen, kontinuierlichen Aufenthalt in einer Pflegefamilie geschehen, so war es üblich, «so viel als möglich der Versorgung vorgängig» zu erkunden. «Aber wie ein Kind im Ganzen versorgt ist und wie es nach jeder Richtung behandelt und geleitet wird, dies kann man doch erst durch die Probe selbst genügend erfahren.»192 Deshalb verfolge der Verein auch die Strategie, Pflegekinder bei «schon erprobten Pflegefamilien wiederholt» unterzubringen. «Wir bestreben uns […] auch besonders, die Geschwister wo immer möglich nahe beieinander zu belassen, damit sie sich nicht ganz fremd werden.»193
Abbildung 11: Zeitung für Gemeinnützigkeit und Armenerziehung, 2. Jg., Nr. 15, 31. 5. 1883, S. 4
Dass der Vorstand von vornherein schon auf gute und erfahrene Pflegefamilien zurückgreifen konnte, erklärte sich dieser aus dem Umstand heraus, dass im Kanton «die Armenpflegschaften schon immer Kinder bei Familien versorgt haben» und sich somit «eine ziemliche Zahl zuverlässiger Pflegeeltern» finden liesse.194 Dass aber nach wie vor das Pflegekinderwesen als Nebenerwerb seine Stellung im Kanton Thurgau hatte, verdeutlichte eine abermalige Erwähnung im sechsten Jahresbericht: «Natürlich fällt die Wahl nicht sowohl auf solche Häuser, die das Halten fremder Kinder zu einem Geschäft und Erwerb zu machen geeignet sind; freilich kann man sagen, dies sei eigentlich genau berechnet, bei den im Lande üblichen sehr mässigen Kostgeldern, wirklich kaum möglich.»195 Der Vorstand bemerkte, dass die Pflegeeltern «auf ihren festen Takt und ihr gutes Vorbild, auf Herzen mit Geduld und Liebe auch gegenüber fremden Kindern, das Hauptaugenmerk richte» und dabei «auch auf genügende Ernährung, ordentliche Bekleidung, Gewöhnung zu Arbeitsamkeit, Ordnungssinn, Reinlichkeit usw. sehe».196
1901 wechselte der Vereinssitz mit der Demission der bisherigen Kommission von Güttingen nach Stettfurt.197 1905 stellte der Vereinspräsident Eduard Schuster in der Zeitschrift für schweizerische Statistik den «Armenerziehungsverein im Kanton Thurgau» vor.198 Er bemerkte, dass seit Vereinsgründung insgesamt 516 Pflegekinder vom Verein «patroniert» wurden und dass 64 Prozent im Durchschnittsalter von fünf bis zwölf Jahren waren, 32 Prozent über zwölf Jahren und 4 Prozent unter fünf Jahren. 62 Prozent der Kinder seien männlich und nur 38 Prozent weiblich, da «Mädchen […] eher freiwillige Aufnahme in Familien von Verwandten und Bekannten» fänden und im allgemeinen «weniger Erziehungsschwierigkeiten» böten als Knaben. Schuster erwähnte weder die konfessionelle Armenunterstützung als Hauptprinzip des thurgauischen Armenwesens (er sprach lediglich vom Heimatortprinzip), noch gab er Einblick, wie viele der Pflegekinder der protestantischen oder katholischen Konfession angehörten. Anlässlich der Volkszählung von 1910 wurde im Kanton Thurgau eine Pflegekinderanzahl von 1605 festgestellt (unter 14 Jahren), was 3,9 Prozent aller Kinder im Kanton ausmachte. Davon würden 200 durch den Armenerziehungsverein und «eine höchstens dreifache Zahl durch Armenbehörden je nach persönlicher Neigung oder Eignung des Armenpflegers versorgt und kontrolliert», 199 sodass rund die Hälfte aller fremdplatzierten Kinder ohne behördliches Mitwissen oder Kontrolle fremdplatziert würden.
Unter dem 25. April 1911 wurde das Gesetz betreffend die Einführung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches im Thurgau rechtskräftig. Im Abschnitt Familienrecht bezeichnete es als zuständige Vormundschaftsbehörde die bestehenden Waisenämter der wohnörtlichen Munizipalgemeinde der zu bevormundenden Personen.200 Der Vorstand bemerkte zur neuen Ausgangslage, dass die Kirchenvorsteherschaften oftmals vergässen, dass nicht mehr das Thurgauische, sondern neu das Schweizerische Zivilgesetzbuch gelte, in dem nicht nur vermögende Kinder einen Vormund erhielten, sondern «jedes elternlose Kind». Nach dem Thurgauischen Zivilgesetzbuch «übernahm bei Unfähigkeit der Eltern, die Kinder zu erziehen, gewöhnlich ohne formellen Beschluss» die «Kirchenvorsteherschaft die elterlichen Rechte und Pflichten gemäss dem Grundsatze: ‹Wer bezahlt, der befiehlt auch›».201 In der Bestrebung, das Vormundschaftswesen zu professionalisieren, war ab Einführung des Zivilgesetzbuches auch die Schaffung von Amtsvormündern reges Thema im Vereinsvorstand. Erstmals übergab im Jahr 1920 ein Amtsvormund dem Armenerziehungsverein ein Pflegekind zur «Patronierung».202 Der Präsident hielt fest, «dass man in den Bezirken Arbon u. Frauenfeld u. in Kreuzlingen-Steckborn, wo Amtsvormundschaftsstellen eingerichtet worden sind, mit denselben gute Erfahrungen gemacht habe».203 Amtsvormundschaften bestanden im Bezirk Arbon seit 1917, in der Stadt Kreuzlingen ab 1918, in Frauenfeld ab 1920, in Weinfelden ab 1928 und in Amriswil ab 1930.204
Dass der Kontakt zwischen dem Verein und den Amtsvormundschaften gesucht wurde, beweist auch die Tatsache, dass der Generalvormund von Frauenfeld an den Vereinssitzungen zugegen war: «Seine Erfahrungen zeigen, dass das alte Vorurteil, als handele es sich bei der Vormundschaft immer nur um Schutz des Vermögens u. materieller Interessen, noch sehr eingewurzelt ist. Der Präsident teilt ferner mit, dass jetzt, 9 Jahre nach Inkrafttreten des Zivilgesetzbuches noch immer Kinder angemeldet werden – Waisen oder solche, deren Eltern die elterliche Gewalt entzogen ist – die keinen Vormund haben, oder weil kein Vermögen vorhanden ist. Es muss immer wieder betont werden, dass gerade verlassene Kinder, die vermögenslos sind, erst recht eines Vormundes bedürfen, der ihnen mit Rat u. Tat beisteht.»205
Die Bestrebung, das Pflegekinderwesen im Kanton Thurgau zu professionalisieren, ging aber in erster Linie nicht vom Armenerziehungsverein, sondern vom 1926 gegründeten «Bund Thurgauischer Frauenvereine» aus. Bereits ein Jahr nach dessen Konstituierung, setzte sich der mehrheitlich protestantisch ausgerichtete Bund – als Gegenpol zum «Thurgauischen Katholischen Frauenbund» – mit der Kontrolle des thurgauischen Pflegekinderwesens auseinander. Die damalige Präsidentin, Isabella Staehelin (1890–1978), stand in Verbindung mit Elsa Gsell, Schülerin der Sozialen Frauenschule Zürich, die das Thema in ihrer Diplomarbeit anhand einer Enquête aufarbeiten sollte, «um dadurch ohne viel Kosten ein sicheres Material zu erhalten für Eingaben an die Behörden».206
Am 23. Januar 1929 hielt der Bund unter Einladung aller interessierten Kreise – auch in Anwesenheit Regierungsrats Paul Altwegg (1884–1952) – eine erste Zusammenkunft ab. Die Sekretärin des Thurgauer Frauenbundes und Leiterin der Thurgauischen Zentralstelle für weibliche Berufsberatung, Anna Walder (1894–1986), hielt an diesem Anlass ein Referat, in dem sie den Pflegekinderbegriff umriss, auf die Grundlagen des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs und die Pflegekinderverordnungen der Kantone Aargau, Basel-Stadt, Waadt und Zürich einging.207 In ihrer Einleitung berief sie sich auf die Volkszählung aus dem Jahr 1920, wonach 50 023 Kinder unter 16 Jahren in 42 459 Familien fremdplatziert wurden, darunter 1398 Thurgauer Kinder. Sie kritisierte die mangelnde Aufsicht über die Pflegekinder und befand: «Es ist sehr zu bedauern, dass das Z.G.B die Regelung des Pflegekinderwesens nicht vorgesehen hat und es deshalb den Kantonen ganz überlassen bleibt, diese Lücke durch eine Spezialgesetzgebung auszufüllen oder aber, was noch häufiger ist – diese Lücke offen zu lassen.»208 Im Zusammenhang mit dem Schweizerischen Zivilgesetzbuch beanstandete sie auch die im thurgauischen Einführungsgesetz angedeutete Schaffung von Amtsvormundschaften, denen «vielerorts (jedoch nicht in unserm Kanton) auch die Aufsicht über die Pflegekinder zugewiesen wurde. Die Institution der Amtsvormundschaften hat in unserem Kanton jedoch noch so wenig Fortschritte gemacht, dass sie bis jetzt nicht in der Lage war, der Bevölkerung zu zeigen, wie segensreich sie wirken kann, wenn sie ihre Aufgabe im Sinne einer neuzeitlichen Jugendfürsorge erfasst.»209 Diese Lücke füllten ihrer Meinung nach der Thurgauische Armenerziehungsverein sowie das Thurgauische Frauensekretariat nur ansatzweise aus, da ihnen nicht sämtliche Pflegekinder überantwortet würden. Als Lösung schlug Walder vor, dass das Pflegekinderwesen dem Vormundschaftsdepartement unterstellt werden solle, und verlangte eine kantonale gesetzliche Grundlage hierfür. Und ferner forderte sie, dass die direkte Aufsicht durch ortsansässige Vertrauenspersonen durchgeführt werden solle: «Diese Dezentralisation ist für diese spezielle Aufgabe ganz besonders am Platz, da es auf diese Weise am ehesten möglich ist, die Pflegeorte richtig kennen und beurteilen zu lernen und die Kinder nicht bloss bei Kontrollbesuchen, sondern auch sonst ganz unauffällig im Auge zu behalten.»210
Neben den lokalen Vertrauensleuten schlug sie eine – analog der Aargauer Pflegekinderverordnung von 1922 – bezirksweise Berufung von Aufsichtsorganen auf Stufe Bezirksamt vor, die als Kontrollorgane Amtsvormünder einsetzen sollten. Wie in der Aargauer Bestimmung auch, sollten die Pflegekinder des thurgauischen Armenerziehungsvereins von dieser Kontrolle ausgenommen werden.211 Die Versammlung erachtete es als wichtig, mittels einer Enquête das Bedürfnis nach einer gewünschten Kontrolle nachzuweisen. In diesem Sinn richteten Walder und Staehelin ein Schreiben an den Vorsteher des Gesundheitsdepartements Albert Leutenegger (1873–1936), worin gebeten wurde, dass die Ortsvorsteherschaften alle fremdplatzierten Kinder bis zum 15. Altersjahr ermitteln sollten. In der Anlage übermachten sie dem Regierungsrat auch das Referat, zu dem sie bemerkten, dass die organisatorische Verankerung des Pflegekinderwesens am ehesten in die Zuständigkeit des Departements für das Vormundschaftswesen fallen solle und sie dankbar wären, wenn im Anschluss an die Verordnung für Tuberkulosefürsorge auch die Pflegekinderaufsicht geregelt würde.212
Bei der Delegiertenversammlung im November desselben Jahres erschien der Vorsteher des Zürcher Jugendamts Robert Briner (1885–1960) als Gastreferent und orientierte den Bund über die «Notwendigkeit eines Pflegekinderschutzes», da auch im Thurgau zwischen 1000 und 1100 Kinder unter 14 Jahren fremdplatziert seien. Er schlug vor, dass im Zusammenhang mit der Schaffung des kantonalen Einführungsgesetzes zum eidgenössischen Tuberkulosegesetz (vom 13. Juni 1928) diesbezügliche Anstrengungen unternommen werden könnten.213 Die anschliessende Diskussion der Delegiertenversammlung mündete in eine Resolution an die Kantonsregierung, worin die Schaffung von gesetzlichen Grundlagen «mit allen Kräften» empfohlen wurden: «Sie ersucht die hohe Regierung, die diesbezüglichen Bestrebungen zu unterstützen und zu fördern, vor allem durch die Schaffung gesetzlicher Grundlagen.»214 Am 3. September 1930 wurde eine zweite Sitzung abgehalten, an der neben den Delegierten des Bundes Thurgauischer Frauenvereine auch der Armenerziehungsverein und weitere Vertreter zugegen waren. Dem Vorsteher des Gesundheitsdepartements wurde dasselbe Anliegen nochmals unterbreitet und die Hilfe «bei der praktischen Durchführung der Aufgabe» sämtlicher anwesender Vereine und Institutionen zugesichert.215 Ins Rollen brachte die Sache aber erst der Kantonsarzt Otto Isler mit seinem Artikel in der «Thurgauer Zeitung» über die Einführung des Tuberkulosegesetzes im Kanton Thurgau. Er gab zu bedenken, dass im «Thurgau allein zirka 1300» Pflegekinder existierten und nur ein kleiner Teil durch den thurgauischen Armenerziehungsverein oder die Frauenvereine betreut würde. Insofern könne man die «Klagen der Frauenvereine, welche mit den Verhältnissen vertraut sind, begreifen». Neben «zugestandenermassen vielen sehr guten Pflegeorten, an denen die Kinder wie die eigenen gehalten werden», existierten aber auch «eine Menge schlechter Versorgungen mit Quälereien, Hungerleiden, Missachtung der primitivsten hygienischen Regeln, moralischer Gefährdung und anderes».216
Als Gewinn erachtete er im Tuberkulosegesetz, dass das «Halten von Pflegekindern» in jedem Fall an eine behördliche Bewilligung geknüpft sei und die Pflegekinder bei der Übergabe an eine Pflegefamilie ärztlich untersucht und behördlich beaufsichtigt und bei Gefährdung unter Mitwirkung der Vormundschaftsbehörde versetzt würden.217 Als Mangel betrachtete er den Umstand, dass «Zwangshospitalisierungen» unzulässig seien, besonders aber im Fall einer schwerkranken Mutter, «welche eine ganze Schar kleiner Kinder um sich herum hat und sie alle» gefährde, dies «doch das einzig richtige wäre. Wollte man in einem solchen Fall streng vorgehen, so müsste man der Familie die gefährdeten Kinder wegnehmen und sie irgendwo versorgen.»218 Hauptbestimmung des am 27. Januar 1931 verabschiedeten Tuberkulosegesetzes war, dass der Bund, der Kanton und die Gemeinden «unter Mitwirkung der privaten Vereins- und Fürsorgetätigkeit die nötigen Massnahmen» ergreifen müssten.219 Indem ebenfalls an die private Wohltätigkeit gedacht wurde, wurden auch Bestimmungen über die «Platzierung» von Pflegekindern aufgenommen: «Nicht-tuberkulöse Kinder dürfen nur in Haushaltungen untergebracht werden, wo keine tuberkulösen sie gefährden; tuberkulöse Kinder wiederum dürfen nicht in Haushaltungen kommen, wo sich nicht tuberkulöse Kinder befinden.»220 Daran geknüpft war auch die Anerkennung von Pflegeorten für Pflegekinder bis zum 14. Altersjahr. Kantonale Meldestelle war das Sanitätsdepartement, ihr angegliedert waren die kommunalen Gesundheitskommissionen, denen die «Anerkennung von Pflegeorten für Pflegekinder und deren Überwachung bis zum vollendeten vierzehnten Altersjahr» überantwortet wurde.221
Die Schülerin der Sozialen Frauenschule Elsa Gsell nahm dann auch den Artikel als Aufhänger für ein Schreiben an Regierungsrat Leutenegger, in dem sie die Bitte vortrug, «ob Sie nicht die Freundlichkeit hätten, diese Umfrage demnächst zu lanzieren. Wenn meine Mithülfe hiezu erforderlich ist, stelle ich mich gerne zu Ihrer Verfügung.»222 Die Enquête sollte in statistischer Hinsicht wichtige Erkenntnisse liefern, die auch dem Sanitätsdepartement von Nutzen wären. Nach einer persönlichen Unterredung mit dem Regierungsrat wurden die kommunalen Gesundheitskommissionen mit Fragebogen eingedeckt.223 Die Enquête wurde im Oktober und November 1931 durchgeführt, und Gsell evaluierte sie in ihrer Diplomarbeit, die vom Kantonsarzt Isler an sämtliche Gesundheitsbehörden, Waisen- und Pfarrämter sowie Lehrer versandt wurde. Isler betonte, dass die Pflegekinderzahl im Kanton «sehr gross» sei, «und ihre Unterbringung lässt an vielen Orten viel zu wünschen übrig». Darüber hinaus stellte er in Aussicht, dass das Sanitätsdepartement «in nächster Zeit eine Pflegekinderverordnung» ausarbeiten wolle, die den Behörden als Wegleitung dienen solle.224 Die Pflegekinderverordnung kam jedoch erst 1946 zustande.
Gsell resümierte in ihrer Arbeit, dass insbesondere die thurgauischen Amtsvormundschaften ihre Aufgabe noch nicht vollumfänglich wahrnahmen, um «ihre Tätigkeit im Sinne neuzeitlicher Jugendfürsorge auszubauen».225 Die Enquête führte vor Augen, dass rund die Hälfte aller Pflegekinderverhältnisse auf Initiative der leiblichen Eltern stattfand. Vereine und Jugendämter kamen hingegen nur für 17 Prozent der Fremdplatzierungen finanziell auf. Den Vorstand beschäftigte vielmehr ein Postulat aus Zeiten der Einführung des Tuberkulosegesetzes, nämlich die gewünschte Regelung des Pflegekinderwesens durch eine Verordnung. Anna Waldner machte darauf aufmerksam, dass die diesbezügliche Eingabe an die Regierung nach wie vor unbeantwortet sei, und schlug vor, nachzuhaken. Der ebenfalls anwesende Regierungsrat schlug den Weg über eine «Anfrage» vor an Stelle einer erneuten «Eingabe». Pfarrer Etter übernahm die Aufgabe, das Erziehungsdepartement erneut anzugehen.226 Dieses wichtige Traktandum blieb aber bis im Frühjahr 1946 liegen, bis das Vormundschaftsdepartement zur Beratung eines Entwurfs zu einer Pflegekinderverordnung nach Weinfelden einlud.
Zur Versammlung am 15. Februar 1946 wurden auch zwei Vertreter des Armenerziehungsvereins bestellt, die bei der paragrafenweisen Besprechung den Eindruck erhielten, dass die Verordnung «eine erfreuliche Verbesserung des bestehenden Zustandes» verspreche.227 Bereits im März desselben Jahres wurde «die Verordnung des Regierungsrates betreffend die Aufsicht über die Pflegekinder» verabschiedet. Die Verordnung umfasste sämtliche Kinder bis zum zurückgelegten 16. Altersjahr, deren Erziehung, ob mit oder ohne Pflegegeld, anderen Personen als ihren leiblichen Eltern anvertraut wurde. Die Vormundschaftsbehörden (Waisenämter) waren aber auch befugt, ihre Mündel bei Fällen von körperlichen oder psychischen Einschränkungen, Gefährdung oder Schwererziehbarkeit bis zur Mündigkeit unter die Pflegekinderaufsicht zu stellen.228 Die Aufnahme eines Pflegekindes war wie beim Tuberkulosegesetz auch hier an eine Bewilligung geknüpft, neu aber durch das wohnörtliche Waisenamt. Die Pflegekinderaufsicht konnte auch einer Kommission oder «einer in der Gemeinde oder im Bezirk bestehenden öffentlichen oder privaten Fürsorgeinstitution übertragen» werden. Darunter fielen die «Amtsvormundschaft, Säuglingsfürsorgevereinigungen, Tuberkulosefürsorgestelle, Pro Juventute, usw.» – weder der Armenerziehungsverein noch das seraphische Liebeswerk wurden namentlich erwähnt.229
Dass sich die Zeiten änderten, konstatierte auch der Vereinspräsident anlässlich eines historischen Rückblicks im Jahr 1949 über die «Geschichte des Vereins». Die Tätigkeit hätte sich insofern gewandelt, «als man es anfangs nur mit normalen Kindern, die in Familien versorgt werden konnten, zu tun hatte, während später in steigendem Masse auch Anormale und Schwererziehbare angemeldet wurden, für die nur Anstaltserziehung in Frage kam».230 Diese Aufgaben seien aber in den letzten Jahren vermehrt von der Stiftung Pro Infirmis und der Thurgauischen Frauenhilfe übernommen worden, die für diese Aufgabe besser geschult seien. «Zu den meist sehr hohen Kosten solcher Placierungen bietet dann der Verein gerne die Hand. Eine weitere, sehr dankbare Aufgabe sieht er in der Hilfeleistung zur Berufsbildung von Burschen und Mädchen.»231 Ein halbes Jahr später wurde auch erstmals über eine Namensänderung offen gesprochen.232
Die Verschiebung der Vereinsaufgaben von der aktiven Fremdplatzierung zur reinen Quersubventionierung anderer Hilfswerke wie der Pro Juventute, Pro Infirmis oder des Thurgauer Frauensekretariats wurde immer offensichtlicher, 233 bis im Juni des Jahres 1953 erstmals offen im Vorstand über das weitere Fortgehen des Vereins diskutiert wurde: «Herr Pfr. Schuppli stellt als Präsident die Zukunft unseres Vereins in Diskussion.» Bereits seit einigen Jahren bestehe «die Tätigkeit unseres Vereins zur Hauptsache in der Gewährung von Beiträgen an die Betreuung von Kindern durch Pro Infirmis, Frauensekretariat und andere Institutionen, so dass wir zu diesen Kindern keine direkten Beziehungen haben».234 «Trotz diesen für unsern Verein unbefriedigenden Verhältnissen will man von einer Auflösung unseres Vereins vorläufig noch absehen.»235
Wie unbefriedigend diese Situation für den Vereinsvorstand gewesen sein muss, offenbart die Tatsache, dass der Vorstand bei der Fürsorgestelle Pro Infirmis eine Stellungnahme einforderte, ob der Armenerziehungsverein überhaupt noch gebraucht werde. Wenig überraschend wurde die Notwendigkeit «des Fortbestehens unseres Vereins» bejaht.236 Bereits vier Jahre später entzog aber auch die Fürsorgestelle mehr und mehr dem Armenerziehungsverein ihre Gunst, indem «von Pro Infirmis weniger Beitragsgesuche eingegangen sind». Der Präsident erwähnte, dass der Verein früher viel mehr Pflegekinder zu betreuen gehabt habe. «Heute sind es nur noch einige wenige.» Andere Fürsorgeinstitutionen wie Pro Infirmis, das Frauensekretariat oder die Amtsvormundschaften hätten sich eingeschaltet. «Pflegekinder im eigentlichen Sinn haben wir nur wenige, weil die Amtsvormundschaften meistens nur Beiträge von uns wünschen.»237