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Ausbau, Individualisierung und Professionalisierung der Armenpflege
ОглавлениеAus den «althergebrachten» Institutionen, 105 die noch vor der Aufklärung insbesondere reine lebenserhaltende «Aufbewahrungsanstalten» und Ballungszentren finanziell und sozial benachteiligter Waisen und sozial Devianter waren, wurden mit den Ideen Pestalozzis, 106 Fellenbergs und Wehrlis – mittels einer pädagogischen Armutsbekämpfung durch Erziehung – Orte der Sozialisierung. Es lassen sich grundsätzlich drei verschiedene Typen von Anstalten unterscheiden: die philanthropischen Armenerziehungsanstalten nach Vorbild der Wehrlischule, die pietistischen Rettungshäuser und einige nach den Leitsätzen von Pater Theodosius Florentini geführte, katholisch geprägte Heime.107 Vereine zur Fremdplatzierung bestanden in viel kleinerer Zahl.
Diese Erziehung zum mündigen Erwachsenen stand unter verschiedenen Vorzeichen. Sie ging davon aus, dass die leiblichen Eltern in ihren Erziehungspflichten versagten und deshalb die Gesellschaft korrigierend eingreifen musste; nach wie vor wurde Armut kriminalisiert. Die Vorstellung der Unterscheidung einer unverschuldeten und selbstverschuldeten Armut führte zu armenpolizeilichen Massnahmen, die Zwangsarbeit oder Anstaltseinweisung ermöglichten. Zudem führte die Unterstützungsabhängigkeit, sprich «Armengenössigkeit» teilweise zum Verlust einiger Bürgerrechte und zog weitere restriktive Massnahmen (Heiratsverbot für Vermögenslose) nach sich, die die Betroffenen aus dem Gemeindeleben ausschlossen.
Eine der schärfsten Massnahmen lag in der sogenannten «Auflösung der Familie», wobei Eltern wie auch Kinder von der Heimatgemeinde an verschiedene Orte fremdplatziert wurden.108 Diese Intervention fand in Form der Familien- oder Anstaltsplatzierung statt, um die Kinder und Jugendlichen aus dem angestammten «nachteiligen Umfeld» zu lösen und in eine «heilsame» Umgebung mit patriarchalisch-familiären Strukturen zu bringen. Der neue Anstaltstypus, der sich von den Armenspitteln durch die Grösse, einheitliche Altersstruktur und «pädagogische Ideale» unterschied, stellte die Exklusion der Insassen aus der Gesellschaft dar mit dem Ziel, dieselben später als mündige und würdige Bürger wieder zu integrieren.109 Anstalten und Pflegefamilien sollten mittels mustergültigem Familienleben den Kindern eine schützende Umgebung bieten und waren somit in gewisser Weise ein Familiensurrogat.
Die idealisierte Erziehung armer Kinder orientierte sich an bürgerlichen Werten einer Mittel- und Oberschicht und musste im noch «bildungsfähigen» Kindesalter zwischen vier und zwölf Jahren erfolgen: In dieser Zeitspanne zahlte sich anscheinend der Aufwand für die Gesellschaft noch aus.110 Die Erziehung zum «rechtschaffenen» Bürger trug in sich auch das Ziel der Erwerbsfähigkeit und der finanziell selbsttragenden Lebensführung. Insbesondere bei den pietistischen «Rettungshäusern» oder den industriellen Arbeitserziehungsanstalten hatte die Arbeit einen pädagogischen Stellenwert.111 Die Erziehung war stark konfessionsgebunden112 und unterschied sich zwischen Stadt und Land.113 Konsens bestand allerdings in den Erziehungszielen:
«Ganz allgemein war in Bezug auf die Erziehung armer Bevölkerungsschichten das Ziel, die jungen Menschen zur Arbeit zu erziehen, zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft und guten Christen zu machen, damit sie keine Gefahr für die bürgerliche Ordnung darstellten, sich selbst ernähren konnten und somit später nicht wieder durch die öffentliche Hand unterstützt werden mussten oder straffällig wurden.»114
Die Gründung von Anstalten und Vereinen muss aber auch im Spannungsfeld zwischen einer engagierten ortsansässigen Bevölkerung und einem starren behördlichen Unterstützungssystem gesehen werden. Insbesondere die «freiwilligen Armenpflegen» unterstützten ortsansässige Arme, deren armenrechtlich zuständige Heimatgemeinde anderswo lag. Die Armenunterstützung war eine kommunale Aufgabe und somit wie das Vereinswesen dezidiert lokal. Armut war eine sichtbare Grösse (Physiognomie, Kleidung), mit der sich die Ortsbürger in ihrem Alltag konfrontiert sahen. Der Zusammenschluss zu Trägerverbänden für Anstalten oder zu Vereinen mit dem Ziel der Fremdplatzierung von Kindern ist Ausdruck einer gewünschten philanthropischen Intervention mit dem Ziel, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen und eine spürbare Veränderung zu bewirken.115
«Sozietäten konnten aufgrund dieser schwachen staatlichen Infrastruktur und der zunehmenden Komplexität des ökonomischen Systems sowie vor dem Hintergrund eines zunehmenden staatlichen Interventionismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Status parastaatlicher Institutionen erlangen: Die staatliche Verwaltung war auf die Expertisen der Sozietäten angewiesen, weil sie diese angesichts der eigenen beschränkten Ressourcen selbst nicht generieren konnte.»116
Die von Privaten ausgehende und auch von öffentlichen Stellen aufgenommene Professionalisierung der Armenfürsorge und insbesondere die Differenzierung der verschiedenen Anstaltstypen führten dazu, dass das 19. Jahrhundert in der Forschung als «Anstaltsjahrhundert» bezeichnet wird. In der Regel herrschte gesellschaftlicher Konsens, wie die Anstalts- und Familienerziehung oder Nacherziehung von sozial Devianten zu erfolgen habe.117 Die Rahmenbedingungen in der praktischen Armenfürsorge stellten vor dem Hintergrund der Industrialisierung und der Bevölkerungsvermehrung insbesondere die städtischen Armenpflegen vor Herausforderungen. Die Bevölkerung war vor existenziellen Risiken wie Krankheit, Unfall oder Arbeitslosigkeit nicht gesichert. Die föderalistischen Strukturen der Schweiz brachten mit sich, dass die in den Gemeinden und Kantonen angesiedelten Kompetenzen untereinander stark variierten, was von Zeitgenossen als hinderlich angesehen wurde. Eine Harmonisierung der Strukturen, eine Professionalisierung der Abläufe und eine internationale Vernetzung wurde von der 1905 durch Carl Alfred Schmid und Albert Wild gegründeten Schweizerischen Armenpflegerkonferenz eingefordert:118 «Das zentralste und verbindendste Element der frühen Exponenten der Schweizerischen Armenpflegerkonferenz war ihre Vision einer ‹rationellen› Armenpflege, die unkoordinierte Formen der öffentlichen Armenpflege ablösen sollte. ‹Planmässige› Hilfe konnte aber nach der Ansicht zahlreicher Fürsorgebehörden nur dort ansetzen, wo die spezifischen Bedürfnisse der Notleidenden bekannt waren.»119 Angesprochen war die Individualisierung der Unterstützungsbedürftigen, wie sie 1853 erstmals im deutschen Elberfeld praktiziert wurde. Das «Elberfelder Armensystem», das in verschiedenen Schweizer Städten rezipiert wurde, fusste auf einer bezirksweise organisierten Armenpflege, wobei jeweils ein ehrenamtlicher Armenpfleger Ansprechperson für die Hilfsbedürftigen war und direkte Unterstützungen verabfolgen konnte. «Die einzelnen Armen sollten in ihrer spezifischen Bedürftigkeit erfasst, von anderen Armen unterschieden und entsprechend ihrer Notlage betreut werden.»120
Um die Jahrhundertwende stiessen diese freiwilligen Armenpflegen allerdings aufgrund von Bevölkerungswachstum und Rekrutierungsschwierigkeiten oftmals an ihre Grenzen. Das Elberfelder wurde durch das Strassburger System abgelöst, das die Quartierstruktur nicht mehr berücksichtigte, sondern ein zentrales Armenamt vorsah. Diese rationelle Armenpflege brachte somit die Individualisierung der Unterstützungsleistungen als Einzelfallhilfe mit sich und mit der Ausdifferenzierung und Professionalisierung der (städtischen) Armenpflegen auch einen erweiterten Behördenapparat. Insbesondere für männliche Fürsorgefunktionäre, Armeninspektoren und Berufsarmenpfleger entstanden Arbeitsmöglichkeiten, für die nun eine spezifische Berufsausbildung verlangt wurde.121 Bei weiblichen Ausbildungsgängen waren es insbesondere Exponentinnen der frühen Frauenbewegung, die sich erfolgreich einbrachten und die «Sozialen Frauenschulen» etablierten. Aufgrund des hohen Schulgelds standen diese aber meist nur Töchtern der oberen Bürgerschicht offen. Der Abschluss vergrösserte die Chancen zur Ausübung der im «Zuge des Ausbaus des Sozialstaates» geschaffenen besoldeten Stellen für Frauen.122 Nach dem Zweiten Weltkrieg verdreifachten sich bis 1965 die Ausbildungsstätten für Soziale Arbeit, der Bedarf an Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern stieg in der «Expansionsphase des Schweizer Sozialstaates».123 Initiativen, die Soziale Arbeit auf universitärer Stufe anzusiedeln, misslangen lange Zeit. Erst 1961 erfolgte die Akademisierung an der Universität Freiburg am Institut für Pädagogik, Heilpädagogik und angewandte Psychologie.124
Nach dem Zweiten Weltkrieg prosperierte die Schweizer Wirtschaft, der Arbeitsmarkt bot Chancen, medizinische Fortschritte und die stärker ausgebauten Sozialversicherungswerke führten letztlich dazu, dass armenrechtliche Platzierungen zurückgingen. «Familienergänzende Betreuungsmodelle wie Kinderkrippen und Horte gewannen zunehmend […] an Bedeutung.»125 Die Fremdplatzierung galt nicht mehr länger als zwingendes und einziges Fürsorgemodell für Kinder, sodass vermehrt «Hilfe» in die Familien gebracht wurde.