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Der Basellandschaftliche Armenerziehungsverein

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Nach der Kantonstrennung im Jahr 1833 bestritt Basel-Landschaft die Ausgaben im Schul-, Kirchen- und Armenwesen aus dem ihm zugeflossenen Anteil aus der Vermögensausscheidung Basel-Stadts. Der Kanton unterhielt aus dem «Landarmengut» das Kantonsspital, alle übrigen armenfürsorgerischen Belange lagen in den Kompetenzen der Gemeinden. Vor der Kantonstrennung oblag das Armenwesen den Pfarrern. Diese traf aber der «Bannstrahl der Baselbieter Regierung», genauso wie die Dorfschullehrer, die als Freunde der Stadt galten.43 Die nach der Kantonstrennung eingesetzten Armenpflegen «verschwanden wieder. Rasch trat eine völlige Vernachlässigung des Armenwesens ein.»44 Die im Vergleich zu den Gemeinden schwache kantonale Regierung konnte auf das Armenwesen aufgrund ihrer finanziellen Ressourcen relativ wenig Einfluss nehmen. Die kantonalen Einnahmen stammten einerseits aus dem Vermögen, das aus der Kantonstrennung rührte, andererseits aus dem Salzregal. Bis 1890 misslangen die Versuche, eine Staatssteuer einzuführen, da Kantonssteuern nicht mit dem Freiheitsbestreben der Bevölkerung in Einklang zu bringen waren.45 Erst ab 1928 konnte sich der Kanton eine grössere Intervention im Sozialbereich leisten.46

Die Gründung des Basellandschaftlichen Armenerziehungsvereins wurde wesentlich durch Emil Zschokke (1808–1889) bestimmt. Der ursprünglich aus dem Aargau stammende Pfarrer engagierte sich im Landwirtschaftlichen Verein Baselland und war federführend bei einer Umfrage aus dem Jahr 1840, worin die Pfarrämter auf «verwahrloste» Kinder in ihren Gemeinden angesprochen wurden. Zschokkes Versuche, eine Landwirtschaftliche Armenerziehungsanstalt zu etablieren, fanden im Landwirtschaftlichen Verein allerdings nur wenig Unterstützung.

Gleichzeitig war er auch Mitglied der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft, die sich rege mit der geschlossenen Fürsorge befasste. An einer Tagung im September 1842 wurde er «von der ‹Bettagspredigt› des Referenten sehr wehmütig gestimmt», denn «er sehe die täglich sich mehrende Zahl der Verwahrlosten» und die Diskrepanz an Anstalten «zu ihrer Rettung!» Der damalige Seminardirektor und spätere Aargauer Regierungsrat Augustin Keller (1805–1883) brachte die Armenfrage mit dem Volksschulwesen in Verbindung, «indem er nachwies, dass dasselbe einer Reorganisation in dem Sinne bedürfe, dass in der Schule die Arbeith, namentlich aber die Bearbeitung des Landes also unseres Grundes u[nd] Bodens in den Vordergrund gestellt werde». Daraufhin erwiderte Schulinspektor Johannes Kettiger (1802–1869), dass die «Streitfrage, ob individuelle oder kollektive Behandlung verwahrloster Kinder vorzuziehen sei, […] in Baselland theoretisch u[nd] praktisch bereits dahin entschieden [ist]: das eine thun u[nd] das andere nicht lassen». Der Erfolg der Anstaltserziehung läge aber in der Schaffung von «Patronagevereinen», die die Austretenden anschliessend begleiten sollten.47 Diese Äusserung weckte anscheinend die Neugier der Kommissionsmitglieder, denn der nächste Versammlungsort wurde Liestal. Kettiger wurde Vororts-Präsident.48 Wie die aufgeführte Diskussion innerhalb der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft aufzeigt, fand in diesem Gremium ein reger Austausch von Personen statt, von denen viele später in Armenerziehungsvereinen aktiv wurden.49

Nachdem Zschokkes Erhebungen über «verwahrloste» Kinder im Kanton Basel-Landschaft versandeten, führten Kettiger und Regierungsrat Benedikt Banga (1802–1865) das Anliegen fort: Sie erliessen zu Allerheiligen 1846 eine zweite Umfrage, die letztlich zwei Jahre später am 1. Oktober 1848 zur provisorischen Gründung des Basellandschaftlichen Armenerziehungsvereins und zum Auftrag an ein Initiativkomitee zur Schaffung von Statuten führte. Der aus der Taufe gehobene Verein zählte bereits 193 Mitglieder, darunter befanden sich prominente Vertreter von Verwaltung, Kirche und Wirtschaft.50 Die Versammlung bestimmte einen provisorischen Kantonalvorstand.51 Am 10. Dezember 1848 folgte dann die definitive konstituierende Versammlung in Liestal mit der Beratung und Ratifizierung der Statuten und Reglemente für die Geschäftsführer sowie der Bezirkskommissionen.52 Auf die Gründung des Kantonalvorstands folgte die Schaffung der Bezirksvereine und -vorstände: für Arlesheim, Liestal und Waldenburg im Jahr 1849, für Sissach erst im Jahr 1855. In Waldenburg wurde beispielsweise ein Formular für die Erhebung von prospektiven Pflegefamilien sowie eine Subskribentenliste bei der ersten Sitzung verteilt.53 Während sich die Vereinsmitglieder nicht um ein Wesentliches vermehrt hätten, so erwiesen «die Tabellen der eingezeichneten regelmässigen Beiträge nebst einiger Baarschaft eine ansehnliche jährliche Einnahme zu Gunsten des Armenerziehungsvereines».54

Folglich konnte der junge Verein auf die finanzielle Unterstützung seiner Mitglieder zählen, und darüber hinaus wurden «aus allen Gemeinden […] arme und verwahrloste Kinder angezeigt, dagegen aber auch eine ordentliche Anzahl Eltern und Familien, welche solche aufnehmen und erziehen, ja sogar zu einem Geschäft oder Handwerk anleiten wollen».55 Mit den durchgeführten Bedarfsumfragen und den gesicherten Ressourcen nahmen die Vorstandsmitglieder ihre Tätigkeit auf. Über die Anliegen der frisch geschaffenen Bezirksvereine gibt der «Bericht der Bezirkscommission Liestal» vom 12. Juli 1850 einen Eindruck, der in groben Zügen die vier bereits abgehaltenen Versammlungen seit der Arbeitsaufnahme am 9. April 1849 umschrieb. Die bislang gemachten Erfahrungen gehörten «nicht zu den erfreulichern», da sich «Schwierigkeiten» abzeichneten: Es seien Fälle eingetreten, «die geradezu das wieder zerstörten, was der Verein mit vieler Mühe veranstaltet hatte».56 Insbesondere bei der Art und Weise der «Versorgung der Kinder» wurde der Wunsch geäussert, «man möchte doch so bald als möglich Anstalten errichten, da in diesen die Kinder besser versorgt seien und gleichmässiger beaufsichtigt werden könnten, als bei Privatleuten».57 Da allerdings keine Anstalten bestanden, konzentrierte sich der Bezirksvorstand Liestal auf die Suche nach Pflegeeltern. Doch wer sollte die Kosten für die «Platzierung» der Kinder übernehmen? Die Meinungen waren geteilt, so glaubten einige, der Verein solle alle Kosten gänzlich auf sich nehmen, dagegen wünschten andere, dass die Kosten zwischen der «versorgenden» Gemeinde und dem Verein geteilt würden:

«Während diese Frage noch besprochen wurde, erklärten Herr R.[egierungs-]R.[ats-]Präs.[ident] B. Banga sowohl als Herr Schulinspektor Kettiger, dass der Armenerziehungsverein nicht die Versorgung, sondern die Erziehung der Kinder sich zur Hauptaufgabe gemacht habe, es komme nicht darauf an so billig als möglich eine Menge von Kindern zu ernähren, sondern den verwahrlosten Kindern eine bessere Erziehung angedeihen zu lassen, und von ihrer Verdorbenheit sie so gut als möglich zu befreien, es komme daher besonders auch auf die Pflegeeltern an damit die Kinder etwa nicht noch ganz verzogen statt erzogen würden.»58

Die Bedeutung des Vereins liege aber auch darin, «wo möglich dem nichtswürdigen Gebrauche vorzubeugen, der in vielen Gemeinden unseres Cantons noch herrsche, die Kinder dem Mindestbietenden zu übergeben, bei welchem sie dann gewöhnlich auch am schlechtesten versorgt seien».59 Genau bei diesem «Streben, das nach Veredelung der Jugend hinziele», hoffe der Armenerziehungsverein auf die Mithilfe der Gemeinden. Es wurden Kostgeldansätze für drei Altersklassen und als bindendes Verständigungsmittel ein Vertragsformular eingesetzt, das die Geschäftsführer mit den Gemeinderäten und den Pflegeeltern abzuschliessen hätten. «Es zeigte sich jedoch in der Folge, dass wenigstens in unserem Bezirke nicht viele Verträge abgeschlossen wurden. Da sich, wie vorgegeben wird, öfters weder Gemeinderath noch Pflegeeltern in diese Form fügen wollten.»60 Doch auch von Seiten der Geschäftsführer des Armenerziehungsvereins wurden die Pflegeverträge mitunter als hinderlich betrachtet:

«Wenn ein Pflegevater den Willen besitze, das ihm anvertraute Kind recht, nach bestem Wissen und Gewissen zu erziehen, so brauche es da keines Vertrages, sein Bewusstsein sowie Pflicht erfüllt zu haben sei der beste Vertrag, ein solcher Mann würde sich auch nicht an die Bestimmungen eines Vertrages mit Genauigkeit halten. Er würde thun was er in seinem Streben für gut finde. Ein pflichtvergessener Pflegevater, der nicht gehörig für das ihm anvertraute Pflegekind sorgen wolle, bekümmere sich auch nicht viel um den Vertrag, er mache doch was er wolle.»61

Der Verein versuchte somit seit den ersten «Platzierungen» die Verhältnisse nicht nur auf mündlichen Abmachungen abzustützen, sondern auch zu verschriftlichen. Darüber hinaus wurden die Kostgelder nach Alterskategorien aufgefächert, die – das wird nicht explizit genannt – auf die Arbeitsleistung der Kinder Bezug nimmt. Die «Versorgung» der Pflegekinder erfolgte in der dritten Sitzung im Jahr 1849, wobei es bisweilen geschah, dass die vertragliche Übereinkunft versäumt wurde oder, falls diese erfolgte, «dadurch vereitelt wurde, dass das versorgte Kind seinen Pflegeeltern entwich oder von denselben fortgeschickt wurde».62

In der anschliessenden gemeindeweisen Diskussion über die fremdplatzierten Kinder wurden die Probleme nur allzu evident: In Arisdorf wurden zwei Mädchen bei Familien «platziert», der Kontakt zum Geschäftsführer brach jedoch ab. Derjenige von Augst bat sogar um Entlassung, da er anderweitig beschäftigt sei. In Bubendorf wurden sogar zwei Kinder, die in dieser Gemeinde «versorgt» worden waren, «ohne eigentlichen Grund in ihre Heimathgemeinde zurückgeschickt». Da eines der genannten Kinder nach Pratteln retourniert wurde, sandte Pratteln – als umgehende Antwort – ebenfalls ein Pflegekind des Armenerziehungsvereins in dessen Heimatgemeinde Bubendorf zurück. Die Gemeinde Frenkendorf gab dem Armenerziehungsverein vier Kinder in Aufsicht, die in Waldenburg, Bubendorf und Häfelfingen «platziert» wurden. Da die Gemeinde Frenkendorf am längsten warten musste, bis ihre Gemeindekinder vom Bezirksverein «versorgt» wurden, «war durch diese Verzögerung eine Missstimmung unter der Ortsbehörde und der Einwohnerschaft eingetreten». Durch den Einsatz des Geschäftsführers sei diese nun aber wieder besser. Die Beitragssammlung für das Jahr 1850 sollte aufgeschoben werden, denn «werden dann keine Kinder von irgendeiner Gemeinde untergebracht, oder verhältnismässig zu wenig, so wird die Einwohnerschaft missmuthig und verärgert die unterschriebenen Beiträge abzuliefern.»63 Kurz und gut, die zahlenden Bürger wollten, dass «ihre» Gemeindearmen «versorgt» würden, und hatten allem Anschein nach nur bedingtes Interesse, arme Bürger aus Nachbargemeinden bei sich aufzunehmen.

Der später in den Vereinen übliche Kostenteiler zwischen Verein und Gemeinde galt ursprünglich als Option und war nicht selbstverständlich. Zudem zeigten die frühen Kostgeldansätze, dass die Kinder einen Teil ihrer Kostgelder durch Arbeit zu entlöhnen hatten. Ein Pratteler Pfarrer sprach «seine Verwunderung darüber [aus], dass von den Gemeinden noch Beiträge gefordert werden sollen, denn er habe bis dahin immer geglaubt, der Verein nehme die Kinder ganz auf sich».64 Darauf erwiderte Regierungsrat Banga, dass «man vorerst nur den Gemeinden unter die Arme greifen wolle» und die Geschäftsführer die Unterstützungswürdigkeit der Kinder prüfen sollten, um «dann die Gemeinden um eine Unterstützung anzufragen».65 Eine ähnliche Unsicherheit betreffend die Kostenübernahme und die Ausgestaltung der Pflegeverhältnisse führte im Bezirksvorstand Waldenburg zur Praxis, dass Verträge «mit Gemeinden u. Pflegeanstalten» nur «dann Gültigkeit haben, wenn sie schriftlich abgefasst und von den betroffenen Partnern unterzeichnet sind. Die Verträge mit den Gemeinden sollen so vortheilhaft als möglich für den Verein, und die mit den Pflegeeltern so vortheilhaft als möglich für die Kinder abgeschlossen werden.»66 Die Kinder sollten «möglichst fern von ihrer Heimat» untergebracht werden. «Je grösser die Theilnahme ist, die man von den verschiedensten Seiten dem untergebrachten Kinde zuwendet, desto grösser ist die Aufmunterung für Kind und Pflegeeltern.»67

Der noch junge Armenerziehungsverein schien sich aber auch gegen ethische Vorbehalte seitens der Gemeinden verteidigen zu müssen. In seinem Jahresbericht über das Jahr 1851 hielt er denjenigen, «welche in dieser Art von Versorgung nichts anderes glauben erblicken zu sollen, als dies alte Mindersteigerungssystem», folgende Unterschiede zwischen der Fremdplatzierung durch den Verein und jener durch die Gemeinden vor Augen: «Die Gemeinde sieht die Versorgung des Kindes nach der gewöhnlichen Anschauungsweise als eine Last an, die ihr mit vielen andern Lasten aufgebürdet ist – der Verein aber als höchsten Zweck seiner Aufgabe.»68 Bei den Gemeinden würden sich Pflegeeltern direkt melden, der Verein suche sie aber, und «die Erfahrung lehrt, dass die empfehlenswerthen Familien wollen gesucht sein». Während die Gemeinde das Pflegekind «gewöhnlich im Orte selber» «platziere» und es «den Fleck, der auf seiner Armuth haftet, oder den Ruf seiner Eltern oder Familie, der gewöhnlich kein guter ist, mit sich herum» tragen müsse und oft höre, «wie viel es die Gemeinde koste», «platziere» der Armenerziehungsverein «seine Kinder gern von der Heimath entfernt unter», wobei dann die «ganz neuen Umgebungen, die Befreiung von schlimmer Nachrede, die neuen Kleider, mit welchen das Kind von der Übernahme an durch den Verein versehen wird», wie die bisher gemachten Erfahrungen zeige, «höchst wohlthätig auf dasselbe einwirken».69 Insbesondere bei der Beaufsichtigung unterscheide sich ein Pflegekind des Armenerziehungsvereins von einem der Gemeindebehörden:

«Um das von der Gemeinde untergebrachte Kind kümmert sich, hat man einmal einen Kostmeister für dasselbe gefunden, gar oft weiter Niemand, wenigstens nicht anhaltend und angelegentlich genug, und zahlreiche Beispiele lehren, dass es in der Vernachlässigung weit kommen darf, bis etwa einem pflichtvergessenen Pflegvater der Kostvertrag gekündet wird. Um das Kind dagegen, das der Verein zu übernehmen im Begriff ist, haben sich zu kümmern der Armeninspektor, der Präsident, dann der Geschäftsführer der Gemeinde, wo es untergebracht worden.»70

Diese dreifache Aufsicht habe zur Folge, dass das Kind eine «Wichtigkeit» erhalte, «die namentlich bei den Pflegeeltern erwünschten Eindruck macht». Diese wüssten, «das Kind ist nicht verlassen und unsere Behandlung bleibt nicht unbeobachtet. Sie fühlen, dass bei der Pflege nicht nur ein Kostgeld zu erwerben sei, sondern auch das Lob guter Erziehung.» Auf dieselbe Weise argumentierte der Verein auch bezüglich seiner Pflegeplatzwahl, die er nicht zum Vorteil der Vereinskasse suche, sondern «vor Allem das Wohl des Kindes» im Auge behalte – während die Gemeinden «ihre Kinder häufig dem Mindestfordernden» anvertrauten. Auch bei der Dauer der Platzierung bestünde ein Unterschied, die Gemeinde bringe ihre Kinder «gewöhnlich nur auf ein Jahr» unter, während der Verein «sie gerne auf eine längere Reihe von Jahren» fremdplatziere, «was für Kinder und Pflegeeltern vorteilhaft ist». Die Beaufsichtigung und Vereinsunterstützung ende auch nicht mit der Erwerbsfähigkeit der Kinder, wie es bei den Gemeinden geschehe: «Die Gemeinde wünscht der Last der Erziehung so bald als möglich entledigt zu sein und glaubt sich der Pflicht gegen das Kind enthoben, sobald es sich sein Brod verdienen kann, möge das nun geschehen, wie es wolle.» Der Verein aber mache «seinen Einfluss auf die Wahl des Berufes seiner Pfleglinge geltend und gedenkt denselben auch im fortschreitenden Jünglings- und Jungfrauenalter der Pfleglinge nicht ganz aufzugeben».71 Somit steuerte oftmals «gesetzliche Nöthigung und kalte Berechnung» die Fremdplatzierung der Gemeinden, während im Verein «freier Wille und aufopfernde Liebe» vorherrsche.72

Mit diesen drei Jahre nach Vereinsgründung vorgestellten philanthropischen Grundsätzen zeigt der Basellandschaftliche Armenerziehungsverein eine klare konzeptuelle Gegenposition zur kommunalen Fremdplatzierungspraxis auf: Die langfristige «Platzierung» bei denselben Pflegeeltern unter Vereinsaufsicht, der Ortswechsel sowie die Hilfestellung zur Berufsausbildung. Die Argumentation – bis auf das Liebeswerk im Fazit – ist mehrheitlich frei von Pathos und zeugt von einem reflektierten Umgang mit der vereinsgetragenen Fremdplatzierung, die ihre Daseinsberechtigung dezidiert in einen Kontrast zu den Gemeindeplatzierungen stellt.

Zwei weitere Desiderate konnten 1853/54 vom jungen Verein umgesetzt werden: die Institutionalisierung der Inspektion sowie die Gründung einer eigenen Anstalt. Ersteres wurde durch den gebürtigen Martin Grieder, der 1853 von der vermögenden Juliane Birmann-Vischer (gestorben 1859) adoptiert wurde, erreicht. Er arbeitete als Armeninspektor ehrenamtlich bis 1888 für den Armenerziehungsverein. In den Augen des Kantonalvorstands war er deshalb bestens für die Stelle geeignet, weil für ihn «die drohenden Schäden der Gesellschaft – Armennoth und Sittennoth – nicht aus Büchern gelernte Begriffe, sondern angeschaute Thatsachen sind».73 Als eine seiner ersten Tätigkeiten reiste Birmann «mit einem Empfehlungsschreiben von Präsident Banga» durch den Kanton und erarbeitete einen Bericht über das basellandschaftliche Armenwesen, «worauf ihm zur Akkreditierung in den Gemeinden der Regierungsrath den Titel eines Armeninspektors, einen Timbre und die beim Bundesrathe ausgewirkte Portofreiheit zutheilte.»74 Das zweite Desiderat des Kantonalvorstands, die Gründung einer eigenen Knabenerziehungsanstalt, wurde in Form der Rettungsanstalt Augst (ab 1909 im Schillingsrain in Liestal)75 für «verwahrloste Knaben» realisiert, die am 3. Oktober 1853 ihren Betrieb aufnahm (siehe Abbildung 6). Eine Zusammenarbeit entstand zuvor mit der 1852 gegründeten «Richter-Linder’schen Anstalt für Mädchen» in Basel.76

Der Armenerziehungsverein schloss mit Richter-Linder die Übereinkunft, dass reformierte Mädchen zwischen zwölf und 15 Jahren – sofern sie sich drei Jahre verpflichteten – in die Anstalt aufgenommen würden. Dort erhielten sie eine Einführung durch den Werkmeister in die Seidenarbeit und durch je eine Hausfrau und eine Näherin eine Einführung in die hauswirtschaftlichen Tätigkeiten. «Dabei sollen die Kinder durch den Hausvater den in Baselland üblichen Repetirschul- und durch Hrn. Pfarrer Seiler den Religionsunterricht empfangen nebst der Konfirmation. Ein Arzt steht der Anstalt zur Seite und macht regelmässig Besuche.»77 Die Erfahrungen mit den platzierten Mädchen seien «grösstentheils erfreulicher Art», und die Mädchen seien aus dem Zustand «der Verwahrlosung an Leib und Seele» befreit worden.78

1858 hielt der Basellandschaftliche Armenerziehungsverein für einen Moment inne und blickte auf seine Tätigkeit zurück. «Was der Verein vor zehn Jahren sich zum Zwecke gesetzt: gegenüber vielfacher Willkür zu arbeiten für die Kenntniss und für die Praxis einer humanen, einer christlichen Armenpflege, das ist zum grossen Theile in Erfüllung gegangen, und wir stehen im Begriffe, die gemachten Erfahrungen einem gesetzlich geordneten Zustande zu Grunde zu legen.»79 Der Vorstand stellte fest, dass mittlerweile eine funktionierende Zusammenarbeit zwischen Verein und Behörden existiere; sei es mit der Regierung, mit den Statthaltern oder auch mit den Gemeindevorstehern. In diesem Zusammenhang wurde angemerkt, dass «wir […] in der Mindersteigerung vom vorjährigen August hoffentlich die letzte gesehen [haben]. Wenigstens sind wir soweit gekommen, dass gegen das Vorkommen solchen Unfuges die öffentliche Meinung sich empört.»80

Der Vorstand bemerkte ferner, dass er vom Volk unterstützt werde, und dies sei nicht zuletzt an den steigenden Zuwendungen in der Vereinskasse spürbar. Damit einhergehend wird auch die Arbeit mit den verschiedenen Frauenvereinen positiv erwähnt, «bei dieser Verbindung der verschiedenen Vereine und Bestrebungen» handle es sich aber «nicht um eine Verschmelzung, sondern um eine Wechselwirkung, eine freundliche Theilung der Arbeit, eine gegenseitige Unterstützung in Rath und Trost, Hülfe und fröhlichem Wetteifer».81 Als Grundsatz hielt der Armenerziehungsverein auch nach der Gründung seiner eigenen Anstalt an der präferierten Familienerziehung fest: «Diese bewegt sich im Ganzen in stetiger Weise mit denselben Sorgen und Erfahrungen: Gemeinden, Eltern und Wohlthäter melden sich mit Kindern; Pflegeeltern bewerben sich um Pfleglinge, es gibt Nachfragen und Erkundigungen allerorten.»82

Eine wichtige Zäsur in der Vereinsgeschichte bildete die Übergabe des Inspektorats von Martin Birmann an Emil Gysin im Jahr 1874. Lehrer Gysin reiste schon vor seiner Berufung zum Inspektor freiwillig im Kanton umher und kontrollierte die Pflegeplatzverhältnisse, sodass «sein durchgreifendes und unermüdliches Verfahren […] in den etwas monoton gewordenen Gang des Vereins einen neuen Schwung» brachte. Die Bezirksvorstände wünschten, dass «dieses konsequente, persönliche Überwachen aller Thätigkeit des Vereins demselben gewahrt bleiben und dafür geradezu eine besoldete Stelle geschaffen werden möchte, wie sie der rheinische Armenerziehungsverein von Anfang an aufgestellt hat».83 Die Erhöhung des Staatsbeitrags für den Armenerziehungsverein auf 2000 Franken ermöglichte es, dass Gysin entlöhnt werden konnte.84


Abbildung 6: Vignette der Anstalt bei Augst, um 1858





Abbildung 7–10: Aufnahmen von Knaben des Schillingsrains, um 1911

Mit der Schaffung des Inspektorats als Vollzeitstelle wurde die Frage aufgeworfen, ob die Bezirksvorstände nun überhaupt noch ihre Daseinsberechtigung hätten. Es sei mehrfach vorgekommen, dass Pflegekinder von Martin Birmann, Emil Gysin oder den Bezirksvorständen «versorgt» worden und es so zu «Unregelmässigkeiten» gekommen sei. Ein Vorstandsmitglied stellte die Frage in den Raum, ob nicht ein «Kantonalbeamter» die «Beaufsichtigung u. Versorgung sämtlicher Kinder im Kanton» übernehmen könne. Auf dieses Votum entgegnete Martin Birmann, dass er 1852 zum Armeninspektor gewählt worden sei und «bis 1859 all den vielen Geschäften, die das Amt ihm gebracht», hätte nachkommen können. Seit der Gründung eines eigenen Hausstandes sei es ihm aber nicht mehr möglich gewesen, die Versorgung aller Kinder zu beaufsichtigen. Auch nach der Ernennung von Gysin zum Inspektor seien die Bezirksvorstände «nicht als überflüssig abzuthun»:85

«Denn für die Sache des Vereins brauche es Geld u. persönliche Arbeit, durch letztere erwache die Liebe zur Sache; diese aber wird rege erhalten dadurch, dass man die Geschichte der zu versorgenden u. die versorgten Kinder wisse, die Geschichte derselben wird in der Bezirksversammlung besprochen, diese dürfen deswegen nicht aufhören.»86

Nach Birmanns Auffassung würde das «neue Inspektorat» die Bezirksvorstände untereinander vereinigen, Gysin müsse an den Beratungen teilnehmen und die Beschlüsse dann ausführen. «H[err]. Gysin ist gleichsam der Arm des Vereins: es ist wohl der 4te Theil der Kinder im Kanton in andern Familien untergebracht; u. diese Menge zu überwachen, erfordert Zeit u. Mühe.»87 Je mehr Mitglieder in die Arbeit des Vereins involviert würden, «desto reichlicher werden auch die Gaben sein». Dies habe auch die «energisch und mit Liebe an die Hand» genommene «Versorgung» von Kindern durch Gysin gezeigt. Dieser konstatierte, dass «die Geschäftsführer […] seit er herumwandere, auch viel mehr arbeiten; auch er stimmt dafür, dass die Bez. Vorstände bleiben sollen.»88

Mit Gysin als vollberuflichem Inspektor besserte sich eingangs das Verhältnis zu den Gemeinden, die die «Bestrebungen des Vereins mehr u[nd] mehr» anerkannten und ihm «je länger je mehr ergänzend zur Seite» stünden.89 Auch das Verhältnis zu den kantonalen Behörden und namentlich der Regierung wurde als ein sehr gutes bezeichnet, so «dass bei allen Wandlungen der zum Regiment gelangenden Parteien noch jede Regierung und jeder Landrath zum Vereine eine freundliche Stellung eingenommen hat. Es hält derselbe auch darauf, dass der Regierungsrath in seinen Vorstand ein Mitglied wählt und noch jeweilen ist es die Person des Erziehungsdirektors gewesen.»90 Im Jahr 1878 wurden die Statuten angepasst, 91 um so das Arbeitsfeld des Inspektors besser einzubringen, dazu gehörte auch, «in unermüdlicher Treue […] ein Armenhaus der Gemeinden ums andere und damit manche Pflanzstätte des Verkommens aufzuheben».92

In den 1890er-Jahren scheint sich das Verhältnis zu den Gemeinden aber negativ verändert zu haben. In den Jahresberichten zeigt sich, dass die Selbstverständlichkeit des Wirkens früherer Jahre auch von Seiten leiblicher Eltern immer mehr in Frage gestellt wurde. Die Eltern, «denen die Kinder durch Staatsgewalt entzogen, denen das Erziehungsrecht genommen worden, sie betrachten das Eingreifen des Armenerziehungsvereins nicht als eine Hülfe, sondern als einen Eingriff in ihr Elternrecht».93 Der Armeninspektor wurde als Eindringling und nicht als «wohlmeinender Freund, sondern als Feind, wenn nicht gar als Räuber ihrer Kinder angeschaut».94 Zugleich lasse die Unterstützung der kommunalen Armenpflegen zu wünschen übrig, indem sich diese «durch allerlei Vorspiegelungen oder durch Verläumdungen des Pfleghauses täuschen» liessen und somit die Entscheide des Inspektors massgeblich untergruben.95 Hier kam erneut die «Emanzipation» der Eltern zum Ausdruck, die dezidiert und unter Verwendung der ihnen möglichen Rechts- und Druckmittel gegen die mögliche Wegnahme ihrer Kinder Beschwerde einlegten. Einer der Gründe, so führte der Vorstand an, sei die Vorspiegelung der Tatsache, dass die Armenpflegen, «bloss um der Pflicht der Familienunterstützung auszuweichen, es vorziehen, die Kinder dem Armenerziehungsverein um die Hälfte der Kosten zu übergeben und zu diesem Zwecke den Entzug des Erziehungsrechtes beantragen».96

Diese Beschuldigung war insofern interessant und wegweisend, als sie zwei Konzepte gegenüberstellte: die familieninterne Fürsorge, wobei die Armenpflege für die gesamte Unterstützungssumme alleine aufkommen musste, und die Fremdplatzierung in einer Pflegefamilie oder Anstalt, wobei sich der Armenerziehungsverein statutengemäss beteiligte. Die leiblichen Eltern kämpften für eine Familienunterstützung und wehrten sich gegen die Wegnahme ihrer Kinder, weil diese mit dem Aufkommen einer Variante nicht mehr als einzige Lösung galt. Die Frage um die Beschwerdeführung von Eltern und das neue Konzept der Familienfürsorge innerhalb der eigenen Familie schlug sogar auf Ebene der Kantonsregierung Wellen, sodass von dieser Seite beim Kantonalvorstand des Armenerziehungsvereins beantragt wurde:

«Wenn einer Witwe, die nur annähernd Garantie für richtige Erziehung der Kinder bietet, der Regierungsrat das Kindererziehungsrecht nicht entzieht, soll der Armenerziehungsverein der Mutter die Erziehung der Kinder überlassen und ihr die entsprechenden Beiträge zuerkennen, die der Verein leisten würde, wenn er die Kinder bei Pflegeltern untergebracht hätte. Dem Verein steht auch in diesem Falle das Aufsichtsrecht zu.»97

Die Armenerziehungsvereine verstanden sich ausdrücklich nicht als Unterstützungsvereine, sondern als Erziehungsvereine mit dem statutengemässen Auftrag, die Kinder zu diesem Zweck fremdzuplatzieren. Der Vorstand antwortete auf dieses Postulat, dass es selbstverständlich sei, armen Witwen, die Gewähr für eine gute Erziehung ihrer Kinder böten, von Seiten der öffentlich-rechtlichen Armenpflegen Familienunterstützungen zukommen zu lassen. Dies liege ja auch in der Pflicht der Armenpflegen. Der Vorstand präzisiert hierbei, dass diese Unterstützungen selbst von wohlhabenden Gemeinden nur unzureichend seien und die freiwillige Wohltätigkeit ebenfalls unterstützend eingreife, wobei «die Verarmung» in vielen Fällen «auf eignem Verschulden, auf Mangel an Arbeitslust, Sparsamkeit, bösen Gewohnheiten, Berufsunfähigkeit u. dgl.» beruhe.98

Der Vorstand unterliess es gegenüber der Kantonsregierung, diese geforderte Witwenunterstützung formell auszuschlagen, und zitierte stattdessen den Vereinszweck: «Der Armenerziehungsverein hat seit seiner Gründung stets den Zweck, der ihm den Namen gab, verfolgt, arme Kinder zu versorgen, zu bekleiden und unter seiner Aufsicht zu nützlichen Gliedern der menschlichen Gesellschaft erziehen zu lassen.»99 Als ein weiterer Grund wurde aufgeführt, dass bis vor einigen Jahren die Mittel nicht einmal gereicht hätten, sämtlichen von den Gemeinden eingehenden Gesuchen nachzukommen.100 Somit sei es illusorisch, «die Bedürfnisse der Familienunterstützung, welche den Gemeinden obliegt, zum grossen Teil zu bestreiten».101 Ein zusätzliches Argument gegen die Familienunterstützung von Seiten des Armenerziehungsvereins sah der Vorstand darin, dass Eltern, die ohne Probleme einer Fremdplatzierung zugestimmt hätten, nun «sich beharrlich bemühen würden, die Kinder zu behalten und sich dafür vom Armenerziehungsverein das Kostgeld bezahlen zu lassen».102

Dies sei aber nicht im Sinn der Vereinsgründer, die keine «allgemeine kantonale Armenkasse» schaffen wollten, «so wäre dem Verein der Name ‹Armen-Unterstützungsverein› statt ‹Armen-Erziehungsverein› gegeben worden».103 Hinzu käme bei der Familienunterstützung, dass den Eltern im Voraus ja de facto die Fähigkeit der Kindererziehung zugestanden würde und somit der Armenerziehungsverein keine Entscheidungshoheit für sich beanspruchen könne. Die Eltern würden sich «dessen bewusst, kaum an die Anordnungen und die Befehle der Vereinsorgane kehren, sondern diese durch passiven Widerstand zu ermüden suchen».104 Der Kantonalvorstand kam aus diesen Gründen zur Ansicht, den bereits eingeschlagenen Weg der Fremdplatzierung nicht zu verlassen und die Familienunterstützung nicht zu fördern. Vermisste der Vereinsvorstand bei manchen Armenpflegen eine konstruktive Zusammenarbeit, so sprach er der Polizeidirektion mehrfach den Dank aus, flüchtige Pflegekinder wieder ihren Pflegehäusern zuzuführen: «Es handelt sich dabei übrigens fast ausnahmslos um ältere Zöglinge, welche sich keiner Ordnung fügen wollen, ihren Platz eigenmächtig verliessen oder von unverständigen Anverwandten oder andern Leuten hiezu angestiftet wurden.»105

Während der Weltwirtschaftskrise stellte sich der Vorstand des Armenerziehungsvereins die Frage, ob die rückläufige Pflegekinderzahl auf die «Grundlagen oder die Organisation» des Vereins zurückzuführen sei. Er verneinte die Frage, denn «gerade in den heutigen schweren Zeiten wollen wir an unserm Grundsatze erst recht festhalten, die uns anvertrauten Zöglinge seelisch und beruflich nach Kräften zu fördern, um sie als tüchtige Menschen ins Leben hinaustreten zu lassen.» Der Vorstand wolle nicht alles der Krise zuschreiben, doch seien «die Zeitumstände» wohl tatsächlich die Hauptursache des Pflegekinderrückgangs. Die finanziellen Engpässe drängten viele kommunalen Armenbehörden dazu, «nicht die beste, sondern die billigste Unterbringung der versorgungsbedürftigen Kinder zu verfügen und sich aus Mangel an Mitteln viel grössere Zurückhaltung aufzuerlegen». Der Verein seinerseits könne keinen Einfluss auf die Pflegekinderzahl nehmen, «er nimmt nur die Kinder auf, die von den Versorgern bei ihm angemeldet werden.»106

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde im Armenerziehungsverein über anstehende Veränderungen diskutiert. Im August 1945 kam ein möglicher Verkauf des Schillingsrainguts an den Landwirtschaftlichen Verein Baselland zur Sprache. Der Kantonalvorstand sollte nun zu diesem Gesuch Stellung nehmen. Falls dieses abgewiesen würde, müsse ein Beschluss über einen notwendigen Um- und Ausbau des Anstaltsgebäudes gefasst werden. Als Erster ergriff Regierungsrat Leo Mann (1890–1958) das Wort und hielt das Anstaltsgebäude für ein «gesundes», das nur neuzeitlich umgebaut werden müsse. «Vom Standpunkt des AEV aus ist das Haus nicht aufzugeben.» Der Umbau solle in einem Zug erfolgen, und die Finanzierung stelle keine Schwierigkeiten dar, wie der Regierungsrat befand. «Ein Beitrag kann im Rahmen des Arbeitsbeschaffungsprogramms geleistet werden. Der Reg.- Rat wartet nur auf den Entscheid des A.E.V. um die Angelegenheit dem Landrat vorzulegen.» Im Anschluss wurde das Gesuch nochmals verlesen und festgestellt, dass es «zahm» sei und überhaupt keine Angaben über eine angemessene Kompensation beinhalte. Der damalige Hausvater des Schillingsrains sprach sich ebenfalls für die Erhaltung der Anstalt auf dem angestammten Platz aus, zumal der Boden sehr fruchtbar sei und die verkehrsgünstige Lage in der Nähe Liestals einen Standortvorteil bedeute. Das im Vorfeld eingeholte Gutachten der Jugendanwaltschaft der Stadt Bern bezeichnete den Schillingsrain als ein mit allen Vorzügen ausgestattetes Erziehungsheim, allerdings mit einigen baulichen Mängeln.107 Diese seien aber durch den geplanten Umbau aufzulösen, weshalb einstimmig beschlossen wurde, den Schillingsrain nicht zu verkaufen.108 Der Pflegekinderskandal in Frutigen warf auch im Armenerziehungsverein in Basel-Landschaft seine Wellen. Der Vorstand bemerkte, dass solche Ereignisse in «weiten Kreisen Misstrauen gegen das Pflegekinderwesen» weckten und die Gefahr bestehe, dass man «in falscher Verallgemeinerung alle Pflegeeltern als unfähig und der Liebe bloss, alle Fürsorger und Inspektoren als ihrer Aufgabe nicht gewachsen taxiert»:109

«Niemand weiss besser um die Not, in die ein Kind gerät, wenn es aus irgendwelchen Gründen ohne eigene Eltern aufwachsen muss, als gerade die leitenden Instanzen des AEV. Wir wissen, dass auch die Placierung eines benachteiligten Kindes in eine gute Pflegefamilie nur ein ungenügender Ersatz ist für die eigenen Eltern, wenn diese fähig sind, ihren Kindern Liebe und gute Leitung zu geben.»110

Nachdem im Jahr 1958 die Namensänderung von Seiten zweier Reallehrer aus Pratteln erneut vorgeschlagen wurde, 111 besprach der Kantonalvorstand diesen Vorstoss. Er war der Ansicht, dass man den traditionell verankerten Namen keiner «Modeströmung zuliebe» opfern wolle, und stimmte rein informell ab.112 1962 erfolgte im Zusammenhang mit der bevorstehenden Totalrevision des Einführungsgesetzes zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch eine Standortbestimmung des Armenerziehungsvereins. Inspektor Kurt Lüthy schlug den Verkauf des Schillingrains vor, durch den Erlös sollte ein Heimneubau ermöglicht werden. Durch die Gewinnausschüttung würde der Armenerziehungsverein befähigt, eine Familienfürsorgestelle aufzubauen, deren Namen «Birmann-Stiftung» sein sollte – so «wäre auch die Namensfrage gelöst». Wie sich herausstellte, verlangte jedoch der Regierungsrat die Bezeichnung «Jugendsekretariat», womit sich der Armenerziehungsverein nicht anfreunden konnte und vorerst die Pflegekinderbetreuung noch unter dem «Inspektorat des AEV arbeiten liess».113

Bereits 1964 konnte allerdings das zuvor angedachte Szenario umgesetzt werden. Die organisatorische Umstellung und insbesondere die Namensanpassung sei schon seit einigen Jahren überfällig, «weil immer wieder von Seiten der Schützlinge Klagen laut wurden, dass sie unter diesem Namen, Kinder des Armenerziehungsvereins zu sein, von der Umgebung leiden mussten».114 Die Organisationsanpassung wurde so umgesetzt, dass der Armenerziehungsverein als Trägerverein bestehen blieb, das Tagesgeschäft allerdings der «Birmann-Stiftung» übergeben wurde: «Zum Zeichen, dass mit dieser Stiftung nur gegen aussen eine neue Stelle in Erscheinung tritt, innerlich aber der Armenerziehungsverein da ist, ist der Engere Vorstand des Armenerziehungsvereins zugleich Stiftungsrat. Der Armenerziehungsverein bleibt also, die ausführende Hand hat einen neuen Namen erhalten.»115

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