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Statuten und Organisation der Armenerziehungsvereine
ОглавлениеNachdem die äussere Abgrenzung der Armenerziehungsvereine gegenüber weiteren Sozietäten mit ähnlichem Profil durchgeführt wurde, soll der Fokus auf die innere Organisation und Entwicklung der Vereine gelegt werden. Was ist aus den Statuten über den Vereinszweck und die verschiedenen Vereinsorgane zu erfahren, wie setzten die Vereinsvorstände ihren Vereinszweck um? Was verstanden die Armenerziehungsvereine konkret unter der «Armenerziehung», und was beinhaltete ihre Auslegung von «Fremdplatzierung»?
Die Satzung des Basellandschaftlichen Armenerziehungsvereins soll exemplarisch die Organisation dieser Gesellschaften aufzeigen: Die ersten provisorischen Statuten erhielt der Armenerziehungsverein im Dezember 1848, die definitiven nach der Eröffnung der vereinseigenen Anstalt Augst im Jahr 1854. Sie umschreiben den Vereinszweck, die -mittel, die -tätigkeit, die Mitgliederaufnahme sowie die Vereinsorgane und deren Aufgabenbereich. Verschiedene ausführende Reglemente und Geschäftsordnungen konkretisierten diese Bestimmungen, wobei der Präsident Martin Birmann (1828–1890) befand: «Allen aber wird zu Gemüthe geführt, dass durch keine Statuten das Leben des Vereins erbaut wird, sondern ächt christliche Auffassung unseres Berufs allein unser Thun zum Frommen der armen verlassenen Kinder, des Vaterlandes und unsere eigenen Seele segnen kann.»1
«Der Verein zur Förderung einer bessern Armenerziehung setzt sich den Zweck», so wurden 1848 die provisorischen Statuten eingeleitet, «der Verwahrlosung der Jugend und dem Fortschreiten der Armuth in Basel-Land zu begegnen.»2 Neben dem philanthropischen Ziel und der indirekt geäusserten gesellschaftlichen Verantwortung verfolgte der Verein auch die effiziente Nutzung privater und öffentlicher Gelder, indem «sowohl die dazu verwendbaren Mittel des Staates als auch die Opfer christlicher Mildthätigkeit von Seite des basellandschaftlichen Volkes und anderer edlen Menschenfreunde möglichst vereinigt und nach einem wohlüberdachten Plane allen Theilen des Kantons zu Nutzen gemacht werden.»3 In den auf die provisorischen folgenden definitiven Statuten aus dem Jahr 1854 wurde der pädagogische Vereinszweck durch eine religiöse Komponente präzisiert: «Der Verein sucht auf dem Wege einer christlichen Armenerziehung der Verwahrlosung der Jugend und dem Fortschreiten der Armuth in Baselland zu begegnen.»4 Sämtliche Armenerziehungsvereine übernahmen protestantische und katholische Kinder und «platzierten» sie jeweils bei Pflegeeltern gleicher Konfession. Nur im Kanton Thurgau kam es auf Anstoss des Seraphischen Liebeswerks in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer konfessionellen Aufsplittung, sodass der Armenerziehungsverein nur noch protestantische Jugendliche aufnahm.5 Vom armen- und vormundschaftsrechtlichen Begriff der «Verwahrlosung» verabschiedete sich der basellandschaftliche Vorstand mit der Statutenänderung im Jahr 1931.6 Als ein eigenständiger Paragraf wurde zudem eine Bemerkung zur konfessionellen und politischen Neutralität des Vereins7 sowie ein Passus der vom Staate übertragenen oder noch zu erwartenden Tätigkeiten, insbesondere die Ausübung der Amtsvormundschaft, aufgenommen.8 Neben dem Vereinszweck wurden deskriptive Paragrafen zur Vereinstätigkeit aufgenommen, so trachte der Verein «auf geeignete Weise dahin, dass die armen und verwahrlosten Kinder theils bei rechtschaffenen Familien, theils in eigens zu errichtenden Anstalten eine angemessene christliche Erziehung und Bildung erhalten».9 Hier sprach der Basellandschaftliche Armenerziehungsverein eine zentrale Komponente der Vereinsarbeit an: Die individuell zu entscheidende «Platzierung» von Kindern und Jugendlichen in Familien oder Anstalten. Der Armenerziehungsverein konnte ab 1853 in Fällen der «Anstaltsversorgung» für Jungen auf «seine» Rettungsanstalt Augst zurückgreifen.10
Die Vereinsmittel bestanden aus Mitgliederbeiträgen, allgemeinen Kollekten (inkl. kirchliche Bettagskollekte) und Zinsen.11 Staatliche Beiträge waren in den ersten provisorischen Statuten (bis auf die Erwähnung im Vereinszweck) noch nicht vorgesehen, diese traten erst bei den definitiven Statuten von 1854 neben der Nennung der «vertragsmässigen Beiträge der Heimathgemeinden oder der für dieselben einstehenden Privaten für das betreffende Kind» in Erscheinung.12 Mitglieder des Vereins waren ursprünglich sämtliche Stifter, die an der Gründungsversammlung des Basellandschaftlichen Armenerziehungsvereins am 1. Oktober 1848 in Liestal zugegen waren, sowie sämtliche zukünftigen beitragsleistenden Mitglieder.13
Das oberste Vereinsorgan bildete die jährliche Hauptversammlung, 14 die die «Vollziehung seiner Beschlüsse und die Leitung der Geschäfte überhaupt […] auf je drei Jahre einem Kantonalvorstand [übertrug], bestehend aus neun Mitgliedern».15 Aus jedem der vier Bezirke sollten zwei Vorstandsmitglieder ernannt werden, das neunte wurde vom Regierungsrat gestellt.16 Der Kantonalpräsident berief Vorstandssitzungen ein, überwachte die Protokollführung und legte die Jahresrechnung dem Vorstand und der Mitgliederversammlung zur Prüfung und Genehmigung vor.17 Da die Aufgabenlast mit der steigenden Pflegekinderzahl für den Präsidenten immer mehr zunahm, wurde ihm auf Grundlage der Statuten vom 22. September 1897 der «Engere Vorstand» – bestehend aus dem Kantonalpräsidenten sowie zwei Vertretern aus dem Kantonalvorstand – zur Seite gestellt. Dieses Gremium galt als «das oberste, vollziehende, den Verein nach aussen vertretende Organ».18 Weitere Ämter des Kantonalvorstands waren der für das Protokoll und die Korrespondenz verantwortliche Schreiber sowie der mit der Rechnungsführung beauftragte Kantonalkassier.19
«Zum Behufe einer zweckdienlichen Gliederung durch den ganzen Kanton bezeichnet der Kantonalvorstand in jeder Gemeinde einen Geschäftsführer, der die Wirksamkeit des Vereines in seiner Gemeinde nach einer vom Vorstande ihm übergebenen Instruktion zu vermitteln hat.»20 Dieser Passus umschrieb die für den Verein wichtige Rolle der Geschäftsführer (in den übrigen Armenerziehungsvereinen auch Gemeinderepräsentanten, 21 Bezüger22 oder Vertrauensmänner23 genannt) nur ansatzweise: Sie waren in den Gründungsjahren des Basellandschaftlichen Armenerziehungsvereins unter anderem für die Bildung von Bezirkskommissionen verantwortlich, «deren Geschäftskreis ebenfalls durch eine Instruktion des Kantonalvorstandes näher bezeichnet wird».24 Darüber hinaus wurden ihnen in einem separaten Reglement folgende Aufgaben zugewiesen: die Beiwohnung der Bezirkskommissions-Versammlungen und die Umsetzung der «Aufträge des Kantonalvorstands mit möglichster Pünktlichkeit». Weiter sollten die Geschäftsführer in ihren Gemeinden zahlende Mitglieder rekrutieren, deren Beiträge einziehen und an den Kantonalkassier weiterleiten.25 Den Armenerziehungsvereinen auf Gemeindeebene angeschlossen waren im Fall von Basel-Landschaft die sogenannten Frauenvereine oder im Fall des Kantons Aargau die Fünfrappen- oder Halbbatzenvereine, 26 die Kollekten von Haus zu Haus einsammelten. Die wichtigste Tätigkeit der Geschäftsführer war allerdings die Führung eines Verzeichnisses, das einerseits potenzielle Pflegefamilien, andererseits aber auch sämtliche Kinder aufführe, «deren Recht auf Erziehung verkümmert ist, entweder weil sie Waisen sind, oder wegen Armuth oder Gleichgültigkeit der Eltern, und die in dem Verein eine Stütze nöthig haben», sowie «alle diejenigen auswärts wohnenden Kinder von Bürgern Ihrer Gemeinde», die «sich in gleicher Lage befinden».27 Sie sollten zudem über die Unterbringungsart (Anstalt oder Familie) für Kinder, die in die Obhut des Vereines überantwortet werden sollten, entscheiden. Vor einer «Platzierung» sollten sie allerdings versuchen, die Verhältnisse der Kinder durch «Ermahnungen und Zusprüche […] erfreulicher und würdiger» zu gestalten.28 Wo diese «Warnung» jedoch kein positives Resultat nach sich ziehen könne, solle das betreffende Kind der Bezirkskommission zur definitiven Aufnahme vorgeschlagen werden. Bei Übergabe des Kindes schlossen die Geschäftsführer im Einverständnis mit dem Bezirksvorstandspräsidenten Verträge mit der Gemeinde und der Pflegefamilie ab.29
Den Geschäftsführern oblag dann die Beobachtung der Pflegeeltern und Kinder, die «im Stillen» stattzufinden hatte und die sie in einem «Notizenheft» verschriftlichen sollten.30 Doch nicht nur in die «Aufnahme», «Platzierung» und Inspektion waren sie involviert, auch für die Berufsbildung und weitere Obsorge wurden diese Gemeindevertreter in die Pflicht genommen: «nach jeder Konfirmation, haben Sie Ihre Vorsorge zu bethätigen, wie die jungen Leute ihre Berufsbildung erlangen können.»31 Die Geschäftsführer sollten dementsprechend die Auszubildenden begleiten und «entweder persönlich, oder durch ihre Pathen, den Gemeinderath, oder Ortspfarrer, oder durch eine zuverläsige [sic!] Person in der Gemeinde […] auf Vollendung ihrer Ausbildung einen günstigen Einfluss üben».32 Dass gemäss diesem Aufgabenheft die Geschäftsführer die Hauptstützen des Vereins verkörperten und im direkten – wohl nur allzu problemreichen – Austausch mit Pflegekindern, leiblichen Eltern, Pflegeeltern, Gemeindebehörden und Kirche standen, bemerkte der Vorstand mit den Worten:
«Wir fühlen wohl, dass wir Ihnen [dem direkt angesprochenen Geschäftsführer] in obigen Punkten Pflichten auferlegen, die als eine Bürde erscheinen müssten, wenn sie nicht mit selbstverläugnender Samariterbarmherzigkeit und männlichem Muthe übernommen würden. Schwierigkeiten werden Ihnen entgegentreten, die nur mit Festigkeit und Weisheit werden zu besiegen sein […]. Ihnen zur Seite steht der Verein und dessen Mitglieder mit brüderlicher Liebe und schützender Hand; Ihnen zur Seite steht das Gesetz und dessen Vollziehungsbehörden; Ihnen zur Seite die Macht der öffentlichen Meinung; Ihnen zur Seite die Huld des Allerhöchsten […].»33
Dem Kantonalvorstand und seinen Organen folgten die in einem separaten Reglement umschriebenen vier Bezirkskommissionen. Diese bestanden aus je einem Präsidenten, der neben zwei weiteren Vertretern der Kommission Einsitz in den Kantonalvorstand nahm und als Vermittler zwischen demselben, der Bezirkskommission und den Geschäftsführern fungierte. Des Weiteren gab es je einen Schreiber und je einen Rechnungsführer. Zusammen mit den Geschäftsführern des Bezirkes bildeten sie den Bezirksvorstand. Mindestens viermal im Jahr sollten Versammlungen abgehalten werden, wobei insbesondere der Informationsaustausch gepflegt und die «Platzierungen» besprochen werden sollten.34
Mit der Ergänzung der bisherigen Organe durch das Inspektorat – womöglich zur Entlastung der Geschäftsführer – und um «Stetigkeit und Zusammenhang zu bringen», 35 erfolgte im Jahr 1875 eine notwendige Statutenanpassung: Der Inspektor wurde als ein «den andern Organen beigeordneter Mitarbeiter» bezeichnet «und wird, in steter Verbindung mit ihnen, als alleinigen Zweck seiner Thätigkeit die Förderung des Wohls der anvertrauten Kinder anstreben».36 In sein Aufgabenheft gehörte die Schliessung von Verträgen mit kommunalen Armenpflegen oder Privaten, und «er bestimmt zwei Wochentage zu Audienzen.»37 Der basellandschaftliche Inspektor war ein Vollzeitangestellter mit Arbeitsvertrag, der die hauptsächliche Überwachung der Pflegekinder unter Mithilfe der Geschäftsführer durchführte: «Der Verein übernimmt es, dem Inspektor zu seiner wirksamen Durchführung der Versorgungen bei den zuständigen Behörden die Wohlthat polizeilichen Schutzes auszuwirken, wie er durch Gesetz den Armenpflegen zugesichert ist.»38 Der Inspektor war dem Engen Vorstand Rechenschaft schuldig.39
Dieses Modell kannte nur der Basellandschaftliche Armenerziehungsverein. In den übrigen Vereinen übernahmen die Pflegeplatzkontrollen oder die zeitaufwendige Lehrstellensuche meistens die engsten Vorstandsmitglieder (Präsident, Vizepräsident, Aktuar und Kassier) oder wie im Fall des Armenerziehungsvereins Balsthal-Thal oder dem Armenerziehungsverein des Bezirks Baden ein erweiterter Vorstand als sogenannte Patronate.40 Diese übten ihre Aufgabe im Nebenamt aus und erhielten in den Statuten eine exakt umrissene Rolle, um den im Sektor der Berufsberatung unternommenen Professionalisierungsbestrebungen der öffentlichen Verwaltung (Lehrlingsämter) oder auch der Kirche (katholische Lehrlingsberatungsstellen) nicht nachzustehen.41 Besonders im Bereich der Aufsicht und Kontrolle über Pflegeplatzverhältnisse wurde die Mitarbeit von Frauen gefördert, beispielsweise als Inspektorinnen im Armenerziehungsverein des Bezirks Baden ab 1924.42