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Die «Jugendfürsorge» privater und öffentlich-rechtlicher Träger
ОглавлениеMit dem «Ersten Schweizerischen Informationskurs in Jugendfürsorge» im August 1908, der «Ersten Jugendfürsorgewoche in Bern» im Jahr 1914 und den ab 1922 gehaltenen «Kursen in Jugendhilfe» in Zürich kristallisierte sich eine professionalisierte und insbesondere vernetzte Jugendfürsorge heraus.126 Unter dem Präsidium des Sekretärs der Zürcher Erziehungsdirektion Friedrich Zollinger (1858–1931) fanden sich die Teilnehmer des «Ersten schweizerischen Informationskurses in Jugendfürsorge» in Zürich zusammen, um die «Förderung und Verbreitung der Jugendfürsorgebestrebungen in der Schweiz» vorzunehmen. Zollinger umschrieb die Jugendfürsorge in dem im selben Jahr gedruckten Tagungsbericht. Das Ziel der Jugendfürsorge richte sich dahin, «durch soziale Einrichtungen die Lücken in den Erziehungsbedingungen auszufüllen, die teils bei den Eltern und den sozialen Verhältnissen liegen, teils durch anormale physische, intellektuelle oder moralische Eigenschaften des Kindes bedingt sind».127
Die Unterstützungsbedürftigkeit der Jugendlichen wurde demnach erstens durch eine ökonomisch-strukturelle Grösse (zum Beispiel Arbeitslosigkeit der Eltern) oder eine soziale Komponente abhängig vom Zivilstand (Scheidung, Verwitwung) und zweitens durch individuelle (gesundheitliche) Merkmale der Kinder selbst verursacht; eine lange Zeit beständige Kategorisierung. Zollinger führte weiter aus: «Diese anormalen Verhältnisse offenbaren sich vornehmlich nach zwei Richtungen: entweder beziehen sie sich auf das Elternhaus, oder sie liegen beim Kinde.»128 Hier sollte die Jugendfürsorge ansetzen: Sie versuchte im Idealfall die kleinen Missstände im Elternhaus «in der Sorge für das Wohl des Kindes durch Massnahmen der Erhaltung und Einrichtungen der Erziehung, der allgemeinen, beruflichen und wissenschaftlichen Ausbildung»129 zu beheben. Mit dem «Endziel», dass die Kinder zu Erwachsenen geformt würden, die ihre «Lebensaufgabe möglichst vollkommen und selbständig erfüllen» könnten.130
Falls signifikante, sprich erheblich «anormale» Zustände in den Familien vorherrschten, sah sich die Jugendfürsorge in die Pflicht genommen, die Kinder in fremde Familien zu «platzieren».131 Diese Vorgehensweise stützte sich insbesondere auf das im Informationskurs immer wieder auftretende eugenische Gedankengut. Die Eltern konnten in moralischer (sittliche oder soziale «Minderwertigkeit») oder in medizinischer Hinsicht (Alkoholismus, Tuberkulose und «nervöse Störungen») schlechte Wesensmerkmale an ihre Kinder vererben. Durch das «schlechte Milieu» im Elternhaus konnten aber auch negative Eigenschaften «erworben» werden: zum Beispiel Infektionskrankheiten, Epilepsie oder eher allgemein eine schlechte Erziehung. Zollinger begründete die Notwendigkeit der Jugendfürsorge dahingehend, dass sie aus diesen gefährdeten Kindern «gesunde Glieder» für die Gesellschaft formen solle. Der sogenannte Kinderschutz war anlässlich der Delegiertenversammlung der Solothurner Armenerziehungsvereine auch ein Referatsthema Pfarrer Albert Wilds.132
Standen im Kongress von 1908 noch die Schaffung ökonomischer Unterstützungsformen für erwerbstätige Eltern wie Krippen, Horte und Suppenküchen zur Diskussion, so waren in der Berner Jugendfürsorgewoche im Juni 1914 die Vormundschaftsbehörden (insbesondere die Amtsvormundschaft) zentrales Thema. Somit verlagerte sich der Akzent von der begleitenden Unterstützung der Kinder und ihrer Eltern hin zum regulierenden «invasiven» Eingriff in die Familien und zur Fremdplatzierung der Kinder, was über lange Zeit das Wesen der Jugendhilfe ausmachen sollte.133 Grundsätzlich war es das erklärte Ziel der Tagung von 1914, Behörden und Vereine in beruflicher Hinsicht und bezüglich der Rechtslage weiterzubilden. Die Tagungsthemen verdeutlichten zudem, dass «die Professionalisierung der Fürsorgeberufe definitiv Richtung öffentliche, sozialstaatliche Alimentierung und weniger Richtung Sozietäten ging».134 Ein wichtiges Anliegen war, die Kantone für die Notwendigkeit von kantonalen Jugendämtern zu sensibilisieren, ausgehend von den neuen Bestimmungen des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs und den Möglichkeiten der Amtsvormundschaften. Die 1908 hoch bewertete «Prophylaxe» durch arbeitsmarktergänzende Massnahmen wurde im Kongress von 1914 durch eugenische und biologistische Ansätze abgelöst.135 Auch die Armenerziehungsvereine nahmen an diesen Anlässen teil und setzten sich mit der aus diesen Impulsen geschaffenen Fachliteratur auseinander.136 Die Vertreter der solothurnischen Armenerziehungsvereine führten ihre Delegiertenversammlung am 19. Juni 1914 während der Fürsorgewoche in Bern durch, die Teil der schweizerischen Landesausstellung war.137
Als dritte Plattform boten sich für jugendfürsorgerische Diskussionen die Zürcher «Jugendhilfekurse» von 1922, 1924 und 1927 an. Diese fanden unter der Organisation von Robert Briner (1885-1960, Leiter des kantonalzürcherischen Jugendamtes) und Marta von Meyenburg (1882-1972, Leiterin der «Schule für soziale Frauenarbeit» in Zürich) statt. Nadja Ramsauer hält dazu fest, dass der Verwissenschaftlichungsprozess138 der Kinder- und Jugendfürsorge mit diesen Kursen einen Endpunkt erreicht hat.139 Die Akademiker nahmen einen «absoluten» Expertenstatus ein und vermittelten den öffentlich-rechtlichen sowie den privaten Organisationen ihre Forschungsergebnisse.140 Neben diesen Anlässen gab es auch weitere Gremien, die ständig über Jugendfürsorge informierten. Der Basellandschaftliche Armenerziehungsverein trat beispielsweise im Jahr 1922 der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft als Kollektivmitglied bei, denn «für den Inspektor ist die Zeitschrift für Gemeinnützigkeit wertvoll, besonders auch die darin erscheinenden Verzeichnisse der offenen Plätze in den schweiz. Anstalten».141 Drei Jahre später trat der basellandschaftliche Inspektor auch der Schweizerischen Armenpflegerkonferenz bei, «eine halbamtliche Institution», die «mitunter auch für den A.E.V. von Wert sein» kann.142
Die Kongresse boten nicht zuletzt eine Austauschplattform für forschende Wissenschafter und mit Erfahrungswerten ausgestattete Beamte. Durch die zunehmende Berichterstattung und das Abdrucken von Vorträgen in Vereinsorganen und Zeitschriften entstand im frühen 20. Jahrhundert ein «breites Forum für jugendfürsorgepolitische Debatten». Wie Nadja Ramsauer fernerhin erläutert, zeigen die Kongresse zudem die von Lutz Raphael aufgestellte These der «Verwissenschaftlichung des Sozialen» paradigmatisch auf. Die Untermauerung dieses neuen Gebiets der sozialen Fürsorge mit sozialwissenschaftlichen Theorien bedeutete seit der Einführung der obligatorischen Schulpflicht 1874 erstmals einen Eingriff in weitere Sphären der Kinder und Jugendlichen.143
Bereits in den Vorträgen des ersten Informationskurses im Jahr 1908 wurde die Strukturierung der Jugendfürsorge in verschiedene «Fürsorgefelder» und «Lebensstufen» vorgenommen. Diese Auffächerung der Jugendhilfe anhand individueller wissenschaftlicher Theorien und Vorgehensweisen wurde zum Beispiel auch in den vom Zentralsekretariat der «Pro Juventute» herausgegebenen «Jahrbüchern der Jugendhilfe» und ab 1931 in der bibliografischen Reihe «Die wichtigste Literatur für Jugendhilfe»144 angewandt und im Armenerziehungsverein des Bezirks Baden und weiteren nachweislich auch konsultiert.145 Die erste Unterscheidung wurde zwischen der spezialisierten «Hilfe für einzelne Altersstufen» beziehungsweise dann allgemeiner für «mehrere Altersstufen» getroffen. Als wesentliche Lebensphasen galten die Geburt und das Säuglingsalter («Hilfe für Mutter, Säugling und Kleinkind»), worunter im Sinn der Vormund- oder Beistandschaft auch die Rechtsvertretung unehelicher Kinder gegenüber ihren Vätern verstanden wurde, das Schulkinderalter sowie die Berufsberatung. Unter der «Hilfe für mehrere Altersstufen» wurden zwei Gebiete subsumiert: der Beistand auf «bestimmten Lebensgebieten» (in wirtschaftlicher, gesundheitlicher und erzieherischer Hinsicht) und für «besondere Gruppen der Jugend» («anormale» oder zum Beispiel die «Bergjugend», «Kinder der Landstrasse»).
Emma Steiger (1895-1973, Redaktorin der «Schweizerischen Jahrbücher der Jugendhilfe»), behandelte in ihrem 1932 erschienenen Buch «Die Jugendhilfe. Eine systematische Einführung» im Kapitel über die «Erzieherische Jugendhilfe» die Erziehung ausserhalb der eigenen Familie.146 Sie bemerkte, dass Zehntausende von Kindern damals in Anstalten oder bei fremden Familien «versorgt» würden, aus Gründen der «ausserhäuslichen» Erwerbstätigkeit der Eltern(teile), wegen Krankheit oder Tod der Mutter, Erziehungsschwierigkeiten im Elternhaus oder Gebrechen der Kinder. Hier sollte ihrer Meinung nach die Verantwortung der Jugendhilfe ansetzen, indem sie Pflegeplätze zur Verfügung stellen und diese angemessen überwachen sollte. Dies war aber laut Steiger wegen der zeitgenössischen Rechtslage praktisch unmöglich. Sie führte unter anderem als Paradebeispiele die Städte Basel und Bern an, bei denen eine obligatorische Pflegekinderaufsicht bestehe, und leitete zu den Kantonen Basel-Landschaft, Solothurn, Thurgau und Aargau über, bei denen die Aufsicht durch «die sogenannten Armenerziehungsvereine» geschehe. Sie beanstandete grundsätzlich, dass die Pflegekinderaufsicht nur selektiv sei und eine zweifelsohne namhafte Dunkelziffer an Pflegekindern nicht kontrolliert werden könne.147
Steiger votierte eindringlich dafür, dass, wo kantonale Aufsichten bestünden, diese auch von Frauen ausgeübt werden sollten. Bereits ab 1910 gab es besondere Fürsorgerinnenkurse, und 1921 öffnete etwa die «Soziale Frauenschule Zürich» ihre Pforten. Die Professionalisierung der Sozialarbeiterinnen148 zielte in erster Linie auf Aufsichtsfunktionen ab: sogenannte Kontrollbesuche, Überprüfung der sachgemässen Ernährung und Verpflegung der Kinder sowie Beratung und Belehrung der Pflegeeltern. In vielen Fällen war die Fürsorgerin «die Gehilfin des Amtsvormundes», und als solches «hat sie dessen Weisungen entgegenzunehmen und darnach zu handeln. Eingreifende Massnahmen darf sie nur im vorherigen Einverständnis mit dem Amtsvormund treffen.»149 Dieser rein exekutiv ausgerichteten Rolle der Fürsorgerinnen standen auch kritische Stimmen gegenüber, so beispielsweise Pfarrer Albert Wild. Dieser bemerkte, dass nur in den wenigsten Kantonen Frauen in die Armenfürsorgebehörden wählbar waren. Er hoffte, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis die Frauen sich als «gleichberechtigte Mitglieder» aktiv und eigenkompetent in der sozialen Fürsorge betätigen könnten.150
In ihrer «Systematischen Einführung» kam Emma Steiger ferner auf die verschiedenen «Träger und Formen der Jugendhilfe»151 zu sprechen. Sie ging in diesem Kapitel im Besonderen auf das «Verhältnis von öffentlicher und privater Jugendhilfe» ein. Sie gestand der freiwilligen Fürsorge eine «Pionierarbeit» zu, verstand aber deren Tätigkeit nur als «Ergänzung der öffentlichen Hilfe».152 Diese privaten Institutionen – so Steiger – besässen ihre Daseinsberechtigung nur solange, als sich der Staat für «Ruhe und Ordnung, Krieg und Frieden» sorgen müsse.
«Wenn sich aber der Schwerpunkt des staatlichen Lebens auf die Sicherung und Förderung der Wohlfahrt seiner Glieder verlegt, so werden Staat und Gemeinden die gegebenen Träger eines grossen Teiles der Jugendhilfe. Denn ihr umfassender Charakter ermöglicht Einheitlichkeit, Planmässigkeit und Gerechtigkeit gegenüber allen Gliedern […].»153
Sie stellte ferner fest, dass sich die privaten Träger oftmals vehement gegen die «Verstaatlichung» der Jugendhilfe zur Wehr setzten, «weil dadurch ihr Helferwillen und ihre Mittel brachgelegt würden». Steiger sah dies aber auch als emanzipatorische Chance, insbesondere wenn es sich um die «Übernahme von Frauenwerken handelt, da der weiblichen Mitarbeit in der öffentlichen Jugendhilfe an manchen Orten noch recht enge Grenzen gezogen sind».154 Abschliessend bemerkte sie, dass für eine «planmässige Jugendhilfe» die Zusammenarbeit zwischen öffentlicher und privater Jugendhilfe koordiniert werden müsse, und verwies noch einmal die freiwillige Fürsorgetätigkeit als Nischenprodukt in die Schranken.