Читать книгу Die Stimme des Atems - Ernst Halter - Страница 45
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ОглавлениеMeine Lieblingslektüre als Analphabet war eine Prachtausgabe in dunkelrotem Pressleinen von Goethes «Reineke Fuchs» mit den Radierungen von Kaulbach. Der Maler hatte den Tieren ihre Torheiten und Leidenschaften und Reineke seine hinterhältige Bosheit so ausdrucksstark in die Ohren, Schnauzen, Augen, Körperhaltungen, ja in den Sitz der Klamotten eingeschrieben, dass ich mir mühelos meinen eigenen Vers drauf machte.
Ich sass am Klappult im Studierzimmer des Vaters, und die Reden und Gegenreden tönten mir laut durch den Kopf: beschränkte Aufgeblasenheit von König Löwe, schmeichelnde Eitelkeit von Frau Königin, Gebrüll des täppischen Bären in der Baumfalle, Bettelgreinen des Löwenprinzen mit Krönchen auf dem Nachttopf, eingebildetes Werweissen des nichtsnutzigen Ärztekonsiliums Eule, Eber und Fuchs am Krankenlager des Königs, heuchlerische Kopfstimme des Büssers Reineke – und bei erster Gelegenheit fauchender Angriff, kaltblütiger Mord. Mein Text sass so sicher, dass ich ihn mir, sobald ich das grossformatige Buch wieder hervorzog, recht der Reihe nach vorsagen konnte. Ich hielt es wie das Schulmeisterlein Maria Wutz zu Auenthal, das sich die Kosten für den Leipziger Messekatalog vom Mund abspart, um die Werke mit ansprechenden Titeln, so Schillers «Räuber» und Kants «Kritik der reinen Vernunft», dann selbst zu verfassen.
Etliche Jahre später habe ich bei der ersten Lektüre von Goethes Dichtung eine herbe Enttäuschung erlebt: Ich wusste nichts von seiner Geschichte, er kein Wort von der meinigen.
Die Eltern waren der Meinung, ich müsse in der Schule lesen lernen, und haben es mir trotz meiner Bitten nicht beigebracht. Es mich selbst zu lehren, fehlte mir die Kombinationsgabe; hab ich mit sechs doch immerhin meinen Vornamen schreiben können.
Schuleintritt, und bald kann ich lesen. Zum Geburtstag hat mir jemand «Globi im Wunderland» geschenkt – nicht zur Freude der Eltern, die meinen Geschmack bereits bedroht sehen. Ich nehme das Buch vor, links die gereimten Strophen, rechts die Zeichnungen. Erst bringe ich einige Seiten im Tag hinter mich, bald schon die Hälfte, da ich das Buch dank der banalen Eleganz der Reime bald auswendig weiss; Erinnerung und Phantasie ergänzen komplizierte Wörter, denn meine Ungeduld will sich nicht aufhalten lassen. Eines Tages lese ich «Globi» in einem Zuge durch, melde den Rekord der Mutter und lege das Buch weg, um es nie mehr in die Hand zu nehmen.
Die nächsten Lektüren sind Grimms Märchen und Gustav Schwabs «Sagen des klassischen Altertums». Die Bände sind in Fraktur gesetzt; erfragen muss ich einzig die verschlungene G-Initiale im Märchenbuch. Gustav Schwab habe ich allzu lange den Originalen in Übersetzung vorgezogen. Gewisse Bücher werden uns zu warmen Nestern. Warum ausfliegen? Fahle Enttäuschung, als ich später feststellen musste, dass die echte «Ilias» nur den Zorn Achills im zehnten Jahr der Belagerung Trojas besingt und noch vor dessen Eroberung abbricht.
Kinder unterscheiden zwischen Form und Inhalt, Kitsch und Kunst, E- und U-Literatur, Jugend- und Erwachsenenbüchern nicht – und auch nichts zu begreifen, ist ein achtbares Verständnis, solange man damit nicht hausieren geht. Was sollen Qualität, Ruhm und Gesinnung? Das Herz muss heiss bleiben. Ich frass mich durch Coopers «Lederstrumpf», Lienerts «Schweizer Sagen und Heldengeschichten», «Nils Holgersson» von Selma Lagerlöf, Hector Malots «Heimatlos», «Svizzero» von Niklaus Bolt, Tolstois «Volkserzählungen», «Theresli» von Elisabeth Müller, «Die Judenbuche» der Droste und Dahns «Ein Kampf um Rom», «Die Tore auf!» von Traugott Vogel, «Bambi» von Felix Salten und Turgenjews «Aufzeichnungen eines Jägers», «Lichtenstein» von Hauff und Grubes «Geschichtsbilder», das «Nibelungenlied», Kreidolf und «Parzival». Mir ist nie ein Buch verboten worden – mit Folgen: Der liebe Kindergott verbarg sich bald hinter finstrem Gewölk. Denn das gewaltigste Bilderbuch meiner Kindheit war Prof. Dr. J. von Pflugk-Harttungs sechsbändige, viertausendseitige «Weltgeschichte».