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Kalligraphie

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Herr Kuhn, unser Drittklasslehrer, ist Präsident der Eidgenössischen Schriftkommission; in der letzten Stunde des ersten Schultags sagt er: Passt mal auf, wie schön Schreiben sein kann.

Was wir zu sehen bekommen, übersteigt jede Vorstellung; ich bin beglückt, überwältigt, eingeschüchtert, sprachlos vor Bewunderung und Ehrfurcht. Herr Kuhn zaubert die Wandtafel voll mit Schriften: kaiserlich daherschreitende Antiqua, mager tanzende Grotesk, deutsche und französische Schreibschrift, gotische Schwabacher, gotische Kurrend, Sütterlinschrift, Fraktur, gotische Zierinitialen. Ich sehe das grosse A, das F, das O, das ebenso bauchige wie verschnörkelte G unter seiner Hand hervorblühen und weiss: Das ist der Buchstabenhimmel. Wie nur bewahrt Herr Kuhn all die Buchstabenblumen voller Blätter, Schleifen und Häkchen in seinem Gedächtnis? Und ich verehre und liebe ihn für das Wunder an der schwarzen Schiefertafel, daran er uns teilhaben lässt. Nicht ein einziges Mal, ob er sie mit der Spitze oder stumpf oder gar der Länge nach ansetzt, fiept und knirscht die Kreide in seinen Fingern oder kreischt, als müsse sie den Geist aufgeben; sie hat sich in seiner Hand in den weichen Pinsel eines Malers verwandelt.

Man staune: Lehrer Kuhn hat trotz seiner kalligraphischen Höhenflüge unsern in Tolggenpanik verkrampften Kinderhänden eine natürliche Schreibhaltung beigebracht. Das sei ganz einfach, meinte er, Angst brauchten wir keine zu haben, ein Tolggen sei kein Landesunglück, für den habe er einen Spezialradiergummi. Er gab uns den neuen Federhalter, bog unsre Finger zurecht, mahnte zur Lockerheit und führte uns einige Male die Hand.

Wenn nur der neue Federhalter nicht die sogenannte gute Form besessen hätte, glatt, walzenförmig, naturlackiert, auf halber Länge stumpf abgesägt! Ich habe mich nie an seine Missgestalt gewöhnt.

Tinte

Die Stimme des Atems

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