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Züchtigung

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Ich habe nie lernen müssen, mich zu ducken, meine Eltern haben nicht geschlagen. Ich erinnere mich an eine einzige Drohgebärde des Vaters, ein Ausholen mit dem Arm; sie hat mir unauslöschlichen Eindruck gemacht. In der Schule bin ich nur Zuschauer bei Tatzen, Ohrläppchenreissen, Den-Kopf-auf-die-Bank-Schlagen, Ohrfeigen, Tschuppen, Maulschellen und dergleichen gewesen. Das Rutenstreichen des nackten Hinterns war abgeschafft, das Knien auf einem scharfkantigen Scheit abgelöst vom Eckestehen oder Vor-die-Tür-gestellt-Werden. Zwar stand ein Stock in jedem Schulzimmer, doch er war vom Strafinstrument zum verlängerten Zeigefinger degeneriert. Nur einen Lehrer gab es, von dem ich sicher weiss, dass er ihn in alten Ehren hielt. Die Schüler dieses Dreinschlägers lebten in ständiger Angst, und die chronischen Magenkrämpfe meines Bruders, der sich zwei Jahre lang unter seiner Fuchtel krümmte, hat man aus der Welt zu schaffen versucht, indem man ihm den Bauch auf- und den Blinddarm herausschnitt. Dieser «Näppu» galt als herausragender Pädagoge. Als ich hörte, die Schüler hätten ihm frisch geschnittene Ruten geschenkt, stand mir der Verstand still. Wie konnte man der eigenen Züchtigung auf halbem Weg entgegenkommen?

Ich bin brav gewesen, mich hat die Angst im Zaum gehalten, weniger vor den Schmerzen – meine Krankheit hatte mich Schlimmeres ertragen gelehrt – als vor einer mir unerträglichen Verletzung: brutal angefasst und geschlagen zu werden. Wer schlägt, nimmt mit dem Körper die Würde des Geschlagenen in Besitz, ein Stück schreiendes Fleisch, das vom Mitleiden, das fremder Schmerz uns zumutet, ausgeschlossen und der Lust des Peinigers ausgeliefert ist. Das war meine Angst.

Erinnere dich, wie Schulkameraden ihre Hände zur Bestrafung hingestreckt haben. Die einen zitterten, und der Lehrer musste die Finger der krampfhaft geschlossenen kleinen Faust mit Gewalt aufbrechen, das Vierkantlineal sauste, die kleine Hand zuckte zurück; doch der Zuchtmeister war noch nicht satt, auch die andre Hand mussten sie hingeben, ohne Widerstand nun, da sie bereits gedemütigt und entwürdigt waren. Dann schlichen sie an ihren Platz, rot im Gesicht von den verbissenen Schmerzenstränen, denn als Brüelichindli verspottet zu werden hätte sie ganz entehrt. Andre traten herausfordernd erhobenen Kopfs vor und taten, der Lehrer mochte zuschlagen, wie er wollte, keinen Mucks. Wenn sie sich umdrehten und an ihren Platz schlacksten, hatten auch sie rote Gesichter, doch sie grinsten. Was sie dachten, sagte ihr steifer Rücken.

Lehrer Kuhn von der 3. und 4. Primar war ein kinderfreundlicher Mensch und hielt in körperlichen Züchtigungen zurück. Auch hatte er sie selten nötig, denn er unterrichtete lebendig und spannend. Statt Langweil stellte sich bei ihm eher ein das Mass sprengender Übermut ein. Er galt deswegen als mittelmässiger Lehrer; meine Eltern machten sich sogar Sorgen, als ich ihm und nicht «Näppu» zugelost wurde. De hölzig Himel in unsrem Klassenzimmer im Nordostrisalit des Schulpalasts musste von Zeit zu Zeit gezügelt werden. Dies taten Kopfnüsse, deren Härte Herr Kuhn genau definierte und dosierte. Da er ungern strafte, musste er zuvor sich selbst überzeugen; er hielt ein kurzes Plaidoyer. «Walo, jetzt reicht es; zehnmal hab ich dir gesagt, du sollest den Schnabel halten; du störst deine Kameraden. Du bist rücksichtslos; stell dir vor, wenn alle schwatzten und gigelten und gagelten wie du. Wir sind nicht in der Katzenschule. Wenn das am grünen Holz geschieht … Die Gerechtigkeit erfordert es, dass ich dich strafe. Das wirst du einsehen. Ich werde dir eine Kopfnuss schenken.» Gerechtigkeit und das grüne Holz der Bibel waren Lieblingsformeln von Herrn Kuhn.

Nun trat er hinter Walo, meinen Schulfreund: «Was ist dir lieber, eine Buchnuss oder eine Haselnuss oder eine Baumnuss?» Womit er Walo den Schein einer freien Wahl einräumte. Den Kopf zwischen den Schultern, entschied Walo sich für die Buchnuss. Die Sekunden vor der Bestrafung waren unerträglich. Der Schlag, geführt mit dem Knöchel am eingebogenen Mittelfinger der rechten Hand, fiel, das Echo des mit Gehirnmasse gefüllten Schädels war dumpf, der Gerechtigkeit war Genüge getan, die Stunde nahm ihren Fortgang.

GerechtigkeitKalligraphieRaumerWalo

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