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Schulzimmer des Vaters

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Während der Kinderjahre habe ich das Zimmer des Vaters nur als Besucher betreten, frei von meiner Scholaridiosynkrasie; erst als noch nicht schulpflichtiges Anhängsel der Mutter, wenn sie bei aktivdienstlicher Abwesenheit des Vaters unterrichtete, später hat der Vater mich mitlaufen lassen, sooft die Mutter abwesend und niemand sonst zu Hause war. Für mich war es das schönste Zimmer im Schulpalast, und wenn es das nicht sein konnte, da alle Zimmer mit ihren hohen Plafonds und grossen Fenstern einer Universität würdig waren und einige mehr als drei Fenster besassen, dann war es mit Gewissheit das vornehmste. Im obersten Geschoss gelegen, schloss es nördlich an die Aula an, welche die ganze Breite des Mittelrisalits der Hauptfront einnahm. Ich bin während der ganzen Primarzeit im Nordflügel zur Schule gegangen. Versuche ich die Schulzimmer mit den in ihnen waltenden Lehrern zu besetzen, gelingt mir dies nur in der Nordhälfte. Meine Parteilichkeit hatte noch einen Grund: Ein Kind nimmt die Umwelt unter den Vorzeichen von Liebe, Neugier oder Angst wahr. Nord- und Südteil wurden im Hochparterre durch das auf Bodenniveau abgesenkte, finster-unheimliche Atrium getrennt, wo der Karzer lauerte. Man stieg im Halbdunkel einige Stufen hinunter und drüben erleichtert wieder ans Licht. Im obersten Geschoss trennte die Aula; sie zu durchqueren war Schülern nur als Boten von Lehrer zu Lehrer erlaubt. Nachrichtenübermittler: Man empfand mulmigen Stolz, beim Durchschreiten der Aula legal ein Verbot zu brechen.

Während der Primarschulzeit bin ich zwei Jahre im Hochparterre und drei Jahre im zweiten Geschoss unterrichtet worden; das oberste Stockwerk war der Bezirksschule vorbehalten; offenbar wurde weite Aussicht mit Erkenntnis gleichgesetzt. Ich bin nicht selten kurz vor Pausen­ende – die Pause war «im Freien» zu verbringen – oder nachdem meine letzte Unterrichtsstunde ausgeläutet war, die Treppe hochgerannt, um meinen Vater zu begrüssen, zuweilen, um ihm etwas auszurichten, häufiger wohl, um mich zehn Sekunden lang in der Zuneigung von Julius Rütsch zu sonnen.

Meine freundschaftliche Beziehung zum Vaterzimmer kulminierte am Vorabend des Kinderfestes während der Hauptprobe des Mädchenreigens, die als erste von zwei öffentlichen Aufführungen galt. Er entfaltete sich gut 15 Meter in der Tiefe auf der Turnplatzwiese. Die klassische Musik schallte über den Rasen; die Mädchen in weissen Tüllkleidern schwärmten aus den Turnhallen. Ich lag in einem der drei grossen Fenster, die nach Osten gingen, neben mir der Bruder; hinter uns oder in einem andern Fenster standen die Eltern. Ich kam mir als Mitbesitzer der Loge vor, besonders dann, wenn Lehrer, deren Zimmer anderswohin blickten, eintraten und um die Erlaubnis baten mitzuschauen. Die Herren, mit oder ohne Gattin, traten herzu, bedankten sich, während ich mich, meines natürlichen Anrechts wegen, nicht zu bedanken brauchte. Ihre Schulautorität war dahin, sie grüssten wie normale Menschen und liessen mir auf Radiator und Fenstersims den Vortritt, reihten sich hinter mir ein, und ich glaubte zu wissen, dass sie einen Teil der ihnen gewährten Gunst auch meiner Grosszügigkeit verdankten. Denn hätte ich mich nicht gegen den Zutritt gewisser Dritter verwahren können? Was, wenn meine Gründe zwingend gewesen wären? Hätte der Vater sich trotz eines noch nicht besetzten Logenplatzes höflich entschuldigt: Alles längst vergeben! Wäre er über meinen Einspruch hinweggegangen? Ich habe es nie versucht, vor allem wohl weil kein Anlass bestand, da meist Freunde wie Frank Bertschinger anklopften, und auch weil es schöner ist, seine Macht potentiell auszukosten und sie nicht auf die Probe zu stellen.

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