Читать книгу Spielen! Was sonst? - Erny Hildebrand - Страница 11
ОглавлениеSuzanne Augenstein
Dr. Suzanne Augenstein, 1957 geboren in Sao Paulo. Studium in München und Berlin, Promotion in Essen. Wissenschaftliche Arbeit und wissenschaftliche Veröffentlichungen, Tätigkeiten im Bereich Marketing und PR, Bildung und Ausbildung sowie als Yogalehrerin. Seit 2015 Gesellschafterin und Poolsprecherin im Familienunternehmen.
Ich wäre dann mal der Majoratsherr
Jeder spielt eine Rolle in seiner Familie. Meine verändert sich gerade gewaltig. Ich stamme aus einer Unternehmerfamilie. Bei uns spielen die einzelnen Mitglieder festgelegte Rollen nach einem unsichtbaren Drehbuch. Die Rollen erlernt man nicht dadurch, dass man auf sie vorbereitet wird. Man erlernt sie eher durch Aussagen wie: „Das spielt doch keine Rolle!“ oder „Spiel dich nicht so auf!“. Der Spielaufbau an sich ähnelt dem in den mittlerweile bedeutungslos gewordenen und verarmten Adelsfamilien: Es gibt einen Familienbesitz, der über Generationen und möglichst bis in alle Ewigkeit zusammengehalten wird, wobei die alles entscheidende Frage lautet, wer diesen Besitz letztlich bekommt und zu welchen Bedingungen.
Seit ich denken kann, ist meine Familie besessen von der Bedeutsamkeit der männlichen Erbfolge, die bei uns in Form des „Majoratsherrn“ seit mindestens 150 Jahren Gestalt angenommen hat. Denn so lange zurück reicht die mündliche Erzählung. Als mir zum ersten Mal die alles entscheidende Rolle des Majoratsherrn ganz und gar bewusst wurde, versagte mein Schließmuskel bei einem plötzlichen Durchfall. Ich hatte entdeckt, dass man unter Majorat das Ältestenrecht versteht. Demnach ist zur Erbfolge allein der nächste männliche Verwandte und bei gleichem Verwandtschaftsgrad der Älteste zur Erbschaft berufen. Der Erbe zahlt den jüngeren Söhnen und den Töchtern des Erblassers allenfalls einen geringen Unterhalt.
Nun wusste ich Bescheid. Das erklärte viel. Zum Beispiel, warum ich als erstgeborenes Kind nie der Majoratsherr sein konnte, denn ich bin eine Frau und im Grunde nebensächlich. Mein Großvater machte das allen Beteiligten von Anfang an unmissverständlich klar. Völlig außer sich zertrümmerte er das Geschirr meiner Großmutter an der Küchenwand, als ihn aus Brasilien die Nachricht von meiner Geburt erreichte. Dort lebten zu dieser Zeit meine Eltern. Im Ausland. Um das Geld zu verdienen, das sie damals nicht hatten. Das nach der Idee meines Großvaters den Grundstein legen sollte für ein Unternehmen, das zukünftige Erbe, für das ein Stammhalter gebraucht wurde. Und nun das. Der Erstgeborene – ein Mädchen. Ich. Womöglich das erste und letzte Kind. Nicht nur ich war eine Enttäuschung, sondern auch dass mein Vater als der zweitgeborene und nicht sein älterer Bruder zuerst für Nachwuchs gesorgt hatte. Denn mein Onkel, der eigentliche Majoratsherr, entzog sich dieser Aufgabe dauerhaft und verbrachte ein kinderloses Leben, so weit wie möglich weg von den Erwartungen seiner Vorfahren.
„Muss ich meine Enkel selber machen?“ wütete mein Großvater und entwertete damit alle Mitglieder unserer kleinen Familie. In der Folge stand meine Mutter unter enormem Druck zu beweisen, dass sie zu mehr imstande war. In rascher Folge wurde sie wieder schwanger, erfüllte ihre Aufgabe und brachte nach einer Fehlgeburt meine beiden Brüder und damit die Grundlage für die zukünftige Dynastie zur Welt.
Es gab damals zwar noch gar nichts zu vererben, aber es gab die Idee für ein Erbe in Form des Unternehmens, das gegründet worden war, als meine Eltern mit mir wieder zurück in Deutschland waren. Ich war damals zwei Jahre alt. Und alle in der Familie schafften für das Geschäft, so nannten wir das Unternehmen, das in den Anfängen steckte. Mein Vater, meine Mutter, meine Oma, meine Tanten, mein Großvater – alle schafften im Geschäft. Mein Vater außer Haus, meine Mutter in der Küche, wo sie abends Ketten fertigte in Handarbeit, wenn wir Kinder früh im Bett waren. Weitgehend allein gelassen mit mir und eingebunden in ein Gespinst aus Verhältnissen, die ich nicht durchschaute, verbrachte ich meine Kindheit in dieser Atmosphäre, die vom ständigen Schaffen für etwas geprägt war.
Die Goldene Hochzeit meines Ururgroßvaters
Die Energie meines Großvaters als Gründervater des Unternehmens war allgegenwärtig. Seine körperliche Kraft war ebenso legendär wie seine Trinkfestigkeit. Im Kampf um den ersten Platz als stärkster Mann im Dorf hatte er dem Schmied ein Ohrläppchen abgebissen. Und immer wieder ging er siegreich aus Auseinandersetzungen hervor, wenn ihm etwa mal wieder wegen Trunkenheit sein Führerschein abgenommen werden sollte. In solchen Fällen behauptete er sich gegenüber der Polizei mit Aussagen wie: „Euer Gehalt wird von mir bezahlt!“. Geschichten darüber begleiteten meine Kindheit, in deren Kern es darum ging, dass mein Großvater das Gesetz war.
Mein Ururgroßvater
Seine zukünftige Größe hatten ihm die Eltern bereits in die Wiege gelegt, als sie ihn „Wilhelm“ nannten, nach dem damals mächtigsten Mann, dem Kaiser. Als Kind hatte mein Großvater beim Anblick eines Zeppelins gerufen „Zippel Zappel Zeppelin, mit der großen Luftmaschin“. Darum wurde er später, nach der Abdankung des Kaisers, nicht Willhelm, sondern von allen nur noch „Zippel“ gerufen. Ein abgedankter Herrscher zu sein hätte auch nicht zu Zippel gepasst. Denn er war der erstgeborene männliche Enkel des mächtigsten Mannes am Ort. Wie Kaiser Wilhelm über Deutschland, so herrschte Wilhelms Großvater, mein Ururgroßvater, als Bürgermeister über das Dorf. Und Zippel war als Stammhalter der Majoratsherr.
Aber die Spielregeln änderten sich, als Wilhelms Vater im ersten Weltkrieg fiel. Dessen Tod machte Wilhelm mit acht Jahren zum Oberhaupt über Mutter und zwei kleine Schwestern. Nach seinem Empfinden hätte ihm auch der erste Platz in der Großfamilie zugestanden. Aber dieser Platz blieb ihm verwehrt. Der Stammsitz der Familie, das Haus des Ururgroßvaters, ging an die weibliche Linie, was mein Großvater Zeit seines Lebens als blutende Wunde mit sich trug. Um sein Erbe gebracht, verkannt und hintergangen, wurden für Wilhelm Verwandtschaft generell und erbberechtigte Frauen im Besonderen zum roten Tuch. Das Zerwürfnis führte dazu, dass Wilhelm später alles daransetzte, es dem gesamten Dorf zu zeigen, was ihn zusammen mit einer genialen Begabung fürs Kerngeschäft zu einem hervorragenden Geschäftsmann machte, der den Grundstock für ein äußerst erfolgreiches Unternehmen legte.
Seine Traumatisierung aber blieb allgegenwärtig in der Familie. Bei den kleinsten Anzeichen abweichender Meinung explodierte Wilhelm: „Ich enterbe euch“. Als Kind lebte ich in einem Dorf mit mehr oder weniger weitläufigen Familienmitgliedern in beinahe jedem Haus. Aber außer den beiden Schwestern meines Großvaters kannte ich niemanden aus der Verwandtschaft. Es gab keinerlei Kontakt. Mich wiederum kannte jeder. Ich weiß noch genau, wie ich eines Tages im Kaufladen stand und mich eine Kundin – wie damals üblich – fragte, wer ich denn sei, und wie die Krämerin sagte: „Ja kennst du die nicht? Das ist doch dem Zippel Dieter seine Tochter!“ Woraufhin ich neugierig von oben bis unten gemustert wurde. Meine Mutter hatte mich angewiesen, jeden, der mir begegnete, zu grüßen. Was, wenn ich es unterließ, zu Beschwerden führte, ob ich mich denn für etwas Besseres halten würde. Das Grundgefühl, im Dorf nicht zu Hause und verwurzelt, aber unter ständiger Beobachtung zu sein, führte dazu, dass ich es dauerhaft verließ, sobald sich mir die Gelegenheit dazu bot, und dass ich heute überzeugte Städterin bin.
Nach meinem Urgroßvater fiel auch noch sein Neffe im Krieg, der einzige männliche Nachkomme außer meinem Großvater. Aus Trauer über diesen Verlust spendete mein Urgroßonkel dem Dorf eine zweite Kirchenglocke, die nun heute und geplant bis in alle Ewigkeit bei jedem vollen Schlag der Stunde mit einem tiefen Klang an den verlorenen Stammhalter erinnert.
Nach diesem weiteren Drama wurde Wilhelm endgültig zum Majoratsherrn – allerdings zunächst ohne eigenes Reich. Denn trotz der vielen Nachkommen meines Ururgroßvaters, der bei seinem Tod 88 Enkel und Urenkel hinterlassen hatte, war Wilhelm nun der einzige Namensträger der Familie. Auch diese Geschichte habe ich immer wieder gehört.
Ich habe noch den dumpfen Geruch im Kellergewölbe meiner Großeltern in der Nase, wenn ich wieder mal einen Krug Wein holen sollte. Von dort, wo nach der Erzählung meiner Cousine irgendwo Gold- und Silberbarren verborgen lagen. Oft ging es in unseren Gesprächen als Kinder um diesen Schatz. Es war uns beiden klar, dass wir mit niemandem darüber reden durften. Wir wussten es einfach. Es muss der Ton der Stimmen gewesen sein, verschwörerisch und anders als sonst im Gespräch, den meine Cousine bei ihren Eltern gehört hatte, und der dieses Geheimnis schuf.
Mit der Gewissheit des Schatzes stieg ich als frühe Geheimnisträgerin in den Keller und fragte mich, wo genau er wohl verborgen war? Vielleicht hinter den Einmachgläsern mit Birnen und Reineclauden, die auf den Holzregalen lagerten, für den Fall, dass der Russe kommen und die Versorgungslage wieder knapp werden sollte.
Was ein Erbe ist, wusste ich als Kind nicht. Wohl aber, dass es ein Erbe gibt. Ich hörte so oft davon reden, dass es zu einem ständigen Begleiter für mich wurde. Später, als junge Erwachsene, erlaubte mir die vermeintliche Aussicht auf ein Erbe ein sehr freies Leben, wenn ich mich auf immer neuen Gebieten bemühte, mir und anderen die Bedeutsamkeit meiner Existenz zu bestätigen. In meiner Familie interessierte sich niemand groß dafür. Nicht dafür, dass ich als erstes Mitglied und als Mädchen vom Dorf erfolgreich ein Politikstudium abschloss, trotz des Dialekts, der zum Dorf gehört und seine Bewohner in der Welt des Dorfes festhält, oder dass ich an Universitäten unterrichtete, dass ich in der Softwareindustrie sehr viel Geld verdiente, dass ich einen Doktor machte, dass ich bei der Exzellenzinitiative mitwirkte, dass ich quer durch Deutschland Impulsreferate vor Hunderten von Zuhörern hielt, dass ich ein eigenes Trainingsprogramm entwickelte, das ich von Krankenkassen finanziert mit meinen Mitarbeitern an Schulen einführte, und auch nicht dafür, dass es mir als erster berufstätiger Frau in der Familie gelungen ist, meinen Lebensunterhalt unter allen Lebensumständen immer selbst zu bestreiten. Das alles wurde nur als Hintergrundgeräusch wahrgenommen, wenn ich davon erzählte, aber nicht als eigentlich von Interesse, denn man war doch immer sehr mit eigenen Angelegenheiten beschäftigt, vor allem mit der alles entscheidenden zukünftigen Majoratsherrschaft. Und das ganze akademische Gedöns hatte in anderen Firmen nur dazu geführt, dass die Doktoren alles ruiniert haben.
Und nun ist es doch noch so weit gekommen. Weihnachten 2014, im Alter von 57 Jahren, wurde mir die Weihe erteilt, als mein Vater aus einer plötzlichen Erkenntnis heraus verkündete: „Eigentlich bist du ja der Majoratsherr!“ Was im Grunde vor allem eines besagt, nämlich dass es schon immer ein Akt der Willkür war, wem in der Familie diese Rolle zugesprochen wurde. Hilfreich war aber sicher, dass sich zwischen meiner Geburt und meiner Ernennung zum Majoratsherrn nicht nur in meiner Familie die Spielregeln völlig verändert haben. Frauen dürfen ihren Namen auch in der Ehe behalten, können diesen an ihre Kinder vererben und damit Stammhalter werden. Sie können heute sogar Bundeskanzler werden. Oder Verteidigungsminister. Und hin und wieder in sehr besonderen Fällen auch Wirtschaftskapitän. So wie nun ich. Ich habe die Absicht, die Rolle des Majoratsherrn auf eine noch nie dagewesene Weise zu spielen. Möglichst so, dass dieses Gespenst unserer Familie, selbst nicht aus Fleisch und Blut und ohne menschliches Zutun nicht lebensfähig, in mir keine Resonanz findet, um weiter sein Unwesen zu treiben.