Читать книгу Spielen! Was sonst? - Erny Hildebrand - Страница 16
Nikolaus
ОглавлениеEs muss in der Mitte der fünfziger Jahre gewesen sein, jedenfalls war ich schon lange aus dem Alter heraus, in dem man noch an den Weihnachtsmann und ähnliche Märchengestalten glaubte. Es geschah auch sicher schon zu einer Zeit, als ich begann, einen gewissen Freiheitsdrang zu entwickeln und gegen die vielen starren Verhaltensmuster meiner Familie zu rebellieren. Es gab ziemlich viel Ärger, weil ich nicht pünktlich zu den Mahlzeiten da sein konnte – oder wollte – und weil ich meinen Kopf durchsetzen wollte. Wir saßen am Abend – es war der 5. Dezember – zusammen beim Abendessen, als es an der Haustür klingelte. Überrascht sahen wir alle auf und die Gespräche am Tisch verstummten. Wer mochte das noch sein so spät? Ich erhob mich schließlich, weil ich der Tür am nächsten saß, um nachzusehen. Als ich aus dem Esszimmer in die Diele trat und zur Haustüre ging, fiel mir erstmals auf, dass es draußen offenbar recht stürmisch geworden war und der Wind heulte. Ich hatte die Haustür schon fast erreicht, als es nochmals sturmklingelte und ein kräftiger Windstoß die große Haustür förmlich im Rahmen knacken ließ. Gleichzeitig flog ein weißes Blatt Papier unter dem Türschlitz hindurch und rutschte vor meine Füße. Ich hob es auf und öffnete die Tür, um zu sehen, wer davor stand. Es war niemand da. Verblüfft rannte ich die äußeren Treppenstufen hinab, schaute nach links und rechts und die Auffahrt hinunter, niemand, nur der Sturm heulte plötzlich mächtig in den alten Bäumen. Ich lief ins Haus zurück, schloss die Tür wieder und warf erst jetzt einen Blick auf das weiße Blatt in meiner Hand. Ich glaubte, meinen Augen nicht zu trauen. „Liebe Gerda“, stand da „wer sich so benimmt wie Du in letzter Zeit, wer so wie Du meint, auf nichts und niemanden in der Familie Rücksicht nehmen zu müssen, der kann auch keine Rücksicht und kein Verständnis erwarten. Ich hätte nicht gedacht, dass ich Dir das einmal sagen müsste. Denk mal darüber nach. Nikolaus.“
Zitternd faltete ich das Blatt zusammen und schob es in die Hosentasche. Dann ging ich ins Esszimmer zurück und überflog die Reihe meiner Familie. Es fehlte keiner, keiner, der sich aus dem Zimmer hätte stehlen und mir einen Brief unter der Haustür hätte hindurchschieben und gleichzeitig draußen klingeln können.
„Wer war da?“, fragte mein Vater und ich versuchte, möglichst gleichgültig mit den Schultern zu zucken und antwortete: „Niemand.“ Die Familie wunderte sich und diskutierte, wer das wohl gewesen sein mochte, zumal ich hinzufügte, dass ich auch die Treppe hinabgelaufen sei und vor dem Haus nachgesehen hätte. Ich schämte mich entsetzlich und konnte gar nichts mehr essen. Am späten Abend beichtete ich meinem älteren Bruder das Erlebnis und zeigte ihm den Brief. Er war genauso ratlos wie ich, aber er tröstete mich, was ich gehofft hatte, sodass ich wenigstens halbwegs beruhigt ins Bett gehen konnte.
Wir haben nicht mehr darüber gesprochen, aber gelöst wurde dieses Rätsel nie.