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Der Aggressor

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In „Menschliches, Allzumenschliches“ urteilt Nietzsche, Paulus sei „also doch Saulus geblieben – der Verfolger Gottes“18. Dabei bezieht er sich auf den Anruf der Himmelsstimme. „Saul, Saul, warum verfolgst du mich?“ (Apg 9, 4), mit der Jesus die Verfolgung der Gemeinde in aller Form auf sich bezieht (9, 5)19. So richtig die Hinweise darauf sind, dass die lukanische Darstellung vorgegebene Modelle wie die Heliodorlegende (Drews) und die romanhafte Erzählung von Joseph und Aseneth (Burchard) verarbeitet und als solche für die Rekonstruktion des Damaskuserlebnisses kaum etwas abwirft, darf doch die ihr zugrunde liegende theologische Perspektive nicht übersehen werden, wie sie Nietzsche mit dem Wort vom „Verfolger Gottes“ hervorhob20. Wie aber sieht Paulus selbst seine Verfolgertätigkeit?

Im Unterschied zur Apostelgeschichte, die ihn, wenngleich nur als Komparse und Kleiderwächter, an der Steinigung des ersten Blutzeugen mitwirken lässt (Apg 7, 58; 8, 1; 22, 20) und ihm zumindest eine Mitschuld an der im Anschluss daran ausgebrochenen Verfolgung zuschreibt (9, 1), weiß Paulus selbst nur davon, dass er die Christengemeinde verfolgte (1Kor 15, 7) und zu vernichten suchte (Gal 1, 13). Eine Reihe von Indizien spricht dafür, dass sein ausschlaggebendes Motiv dabei in der von seinem Gesetzesrigorismus abweichenden Einstellung der Christengemeinde bestand. Durchdrungen von der Gewissheit, in der sakramental besiegelten (1Kor 10, 16f.) Gemeinschaft mit dem Auferstandenen zu leben und den sehnsüchtig Erwarteten schon in ihrer Mitte zu haben (16, 22), wusste sich diese bereits im Besitz des Heils, das nach jüdischer Auffassung erst von strenger Gesetzestreue zu erhoffen war. Sie besaß somit bereits das, was das Gesetz versprach. Das konnte der in rigoroser Gesetzesobservanz Erzogene nur als eine auf die Mitte seiner Religiosität gerichtete Provokation empfinden, der er sich mit seiner von tiefem Ressentiment angestachelten Leidenschaft entgegenwarf. Dass er sich dadurch zu inquisitorischen Aktionen hinreißen und sich dafür durch Dokumente aus der Hand des Hohepriesters autorisieren ließ (Apg 9, 1f.; 22, 5), ist wiederum nur eine ihre Darstellung verdeutlichende Behauptung der Apostelgeschichte, während Paulus selbst lediglich von seinem „maßlosen Wüten“ gegen die „Kirche Gottes“ (Gal 1, 13; 1Kor 15, 9) berichtet.

Während die gängige Erklärung nur die unterschiedliche Wertung und Praktizierung des Gesetzes ins Feld führen kann, bietet der Rückblick in die „Vorzeit“ eine weit plausiblere Begründung des sich in der Verfolgertätigkeit des Paulus entladenden Gefühlsstaus. Danach war es nicht so sehr die Abweichung von seinem Gesetzesverständnis, was ihn in „rasende Wut“ versetze (Apg 9, 1), als vielmehr die Vermutung, dass die verhasste Christensekte das besaß, was er trotz aller Gesetzesstrenge nicht zu gewinnen vermochte. Es war somit eine frustrierte Liebe, die angesichts der nach allen Indizien hochgestimmten Christengemeinde in hemmungslose Aggression umschlug. Und es war die in alledem sich stellende, aber unbeantwortbare Frage nach dem Grund des „erlösten Aussehens“ (Nietzsche) der Verfolgten21.

Wenn es sich so verhielt, hatte die Damaskusvision, ungeachtet ihrer sonstigen Inhalte, für Paulus die Qualität einer Antwort. Mit ihr klärte sich ihm, und dies in Form einer spontanen Zueignung, was er bei den Anhängern des anderen Weges vermutete. Der Heteronomie des Gesetzes enthoben, wusste er, was die insgeheim Beneideten erfüllte und beglückte. Er selbst war sich so, heimgesucht durch den ihm ins Herz gesprochenen Gottessohn (Gal 1, 16), zur Antwort auf die ihn bedrängende Frage geworden. War damit aus dem „Verfolger Gottes“ (Nietzsche) aber auch dessen „auserwähltes Werkzeug“ geworden (Apg 9, 15)? Die Antwort führt zurück auf die Vorfrage nach dem Recht von Nietzsches Kennzeichnung, bei der sich dieser unverkennbar auf den Vorwurf der Himmelsstimme „Warum verfolgst du mich?“ zurückbezieht.

Gegen alle Versuche, das Gewicht dieser Frage herabzuspielen, wird man daran festhalten müssen, dass sich der Fragesteller dadurch mit der von Paulus verfolgten Gemeinde identifiziert. Das aber lag der lukanischen Christologie keineswegs so fern, wie ihr Burchard unterstellt. Denn immerhin war für sie die Gemeinde „ein Herz und eine Seele“ (Apg 4, 32); und sie war dazu durch das von der Apostelgeschichte hochdramatisch geschilderte Pfingsterlebnis geworden, das sie, zumindest unterschwellig (2, 24.32–39), als eine kollektive Ostererscheinung begriff. Im Hinblick darauf darf aus der Frage der Himmelsstimme sehr wohl eine „Identifizierung Jesu mit seinen Jüngern“ herausgehört werden22. Dann aber richtet sich die Aggression des Verfolgers im Medium der Gemeinde gegen den in ihrer Mitte Gegenwärtigen und, vermittelt durch ihn, gegen Gott.

Vor dem Hintergrund dessen, was sich in der „Vorzeit“ abspielte, gewinnt der Vorwurf eine neue Qualität. Nur vordergründig bezieht er sich dann auf das Wüten des Verfolgers, der die Gemeinde zu vernichten suchte (Gal 1, 13), hintergründig jedoch auf das Wüten Pauli gegen sich selbst, genauer noch darauf, dass er sein unerfülltes Liebesverlangen nach außen abreagierte und in Aggressionen umschlagen ließ. „Schuldig“ war Paulus dann nicht etwa durch das der Gemeinde zugefügte Unrecht, sondern dadurch, dass er dem durch die unerfüllt gebliebene Liebessehnsucht genährten Ressentiment in sich Raum gab und sich gegen sein besseres Wissen dadurch „verbittern“ ließ (1Kor 13, 5)23. Daran gemessen, hatte sein Damaskuserlebnis in erster Linie eine therapeutische Funktion. Es brach die ressentimenthafte Verhärtung auf und legte jenes durch unerfüllte Sehnsucht entstandene Vakuum in ihm frei, in das sich die Mitteilung des Gottessohnes „ergießen“ und dem Empfänger zu der zunächst vergeblich ersehnten Erfüllung verhelfen konnte. Da Paulus dieses Widerfahrnis aber zugleich als Auftrag (Gal 1, 16) und, wesentlicher noch, als Befähigung, „allen alles zu werden“ (1Kor 9, 22), empfand, verstand er sich fortan auch als „Werkzeug“ in der Hand dessen, der durch seinen stellvertretenden Dienst die Menschheit dazu aufrief, sich mit Gott und sich selbst zu versöhnen (2Kor 5, 20).

In dem Vorwurf Nietzsches, dass Paulus lebenslang der „Verfolger Gottes“ geblieben sei, verbirgt sich aber noch eine ganz andere Konnotation, die sich zu der Frage verdichtet: Was wäre Paulus ohne seine Gegner? Erlosch das in ihm wütende Aggressionspotential mit seiner Bekehrung, oder suchte es sich danach nur neue Ziele? Vollzog sich in ihm somit nur eine Aggressionsverschiebung, als er sich mit einer Heftigkeit gegen die Feinde seines Missionierungswerks wandte, die unwillkürlich an das „maßlose Wüten“ des anfänglichen Verfolgers erinnert? Setzte sich, anders ausgedrückt, in den bisweilen heftigen Ausfällen gegen seine Widersacher lediglich der alte Kampf, jetzt nur frontenverkehrt, fort? Wenn man sich die polemischen Töne in fast allen seiner Briefe vergegenwärtigt, entsteht sogar der Eindruck, dass diese ihr Profil nicht zuletzt der Niederkämpfung der Widerstände verdanken, die sich dem Missionswerk des Apostels entgegensetzten.

All dem liegt dann allerdings ein schwerer Verdacht zugrunde: Hat sich Paulus jemals ganz aus den Zwängen dieser Polemik befreit und zu der in Jesus verkörperten Liebe Gottes erhoben, der er so eindringlich das Wort redete? Zwar spricht der innere Vorgang der dafür besonders symptomatischen Briefe durchaus dafür, sofern sich der Galaterbrief abschließend zu der durch Christus bewirkten Freiheit bekennt (Gal 5, 1), sofern der Philipperbrief in eine Rühmung des „Herzen und Gedanken in Christus Jesus“ bewahrenden Friedens ausklingt (Phil 4, 7) und sofern der Römerbrief im Hymnus auf die Liebe Gottes gipfelt, von der keine Macht der Welt zu trennen vermag (Röm 8, 31–39). Den überzeugendsten Beweis erbringt jedoch erst die Reflexion, in der Paulus seinen Konflikt mit dem seiner Meinung nach zu kompromissbereiten Petrus verarbeitet. Denn diese klingt, scheinbar ganz unmotiviert, in das Bekenntnis aus:

Durch das Gesetz bin ich dem Gesetz gestorben. Mit Christus bin ich gekreuzigt (Gal 2, 19).

Doch dieses Bekenntnis ist insofern konsequent, als Paulus damit zum Ausdruck bringt, dass er den in der Kontroverse mit Petrus ausgetragenen Konflikt mit sich selbst nur als Leidender ganz bewältigen wird. Als der mit Christus Gekreuzigte wird er über die ihn lebenslang bewegende Spannung hinauswachsen und das in ihm anstehende Aggressionspotential überwinden. In seiner mit den im Leidenskatalog des zweiten Korintherbriefs aufgelisteten Torturen beginnenden (2Kor 11, 21–33) und durch sein Martyrium gekrönten Passion wird er sich endgültig zu der Liebe durchringen, die dann vollends von ihm Besitz ergreift, so wie sie ihn zuvor zu seinem Werk „gedrängt“ (5, 14) und definitiv zu sich selbst gebracht hatte (Gal 2, 20). Auf die Frage der Himmelsstimme „Warum verfolgst du mich?“ hätte der Aggressor dann nicht besser so wie Augustin mit dem Geständnis antworten können:

Spät habe ich dich geliebt, du ewig alte und ewig neue Schönheit, spät habe ich dich geliebt! Du warst drinnen und ich war draußen … Du warst bei mir, aber ich war nicht bei dir … Du riefst mich, und dein Schrei brach meine Taubheit; du leuchtetest mir, und dein Blick vertrieb meine Blindheit; du strömtest deinen Duft aus, und ich sog ihn ein und verlange nach dir. Ich habe dich verkostet, und nun hungere und dürste ich nach dir. Du hast mich angerührt, und nun bin ich voll brennendem Verlangen nach dem Frieden in dir! (Confessiones X, 27)

Es war die ebenso ungestillte wie unterdrückte Sehnsucht, die Paulus zum Aggressor werden ließ. Doch damit stellt sich auch schon die Frage, wie die Liebe den sich selbst Entfremdeten einholte und im zweifachen Sinn des Wortes „zu sich brachte“, die Frage nach seiner Lebenswende.

1 Gregor von Nazianz, Oratio III, c. 54.

2 A. Schweitzer, Geschichte der Paulinischen Forschung. Zusammenfassung und Problemstellung, Tübingen 1911, 100.

3 E. Seeberg, Wer war Petrus? Paulus? Wer ist Christus? Drei Beiträge zum Bild von Jesus und der Urkirche, Darmstadt 1961, 46.

4 G. Ebeling, Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen 1981, 34; 122ff.

5 A. Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen 1930, 220.

6 E. Lohse, Die Entstehung des Neuen Testaments, Stuttgart 2001, 35ff.

7 F. Hölderlin, Der Rhein, in: Sämtliche Gedichte (Ausgabe Rasch), Berlin 1942, 319.

8 G. Lüdemann, Paulus, der Gründer des Christentums, Lüneburg 2001, 83. Einen Spaltbreit öffnet diese stilistische Zuordnung Pauli zu der Lichtgestalt des Stephanus (Apg 6, 15) das bisher unbeachtete Problemfeld, das sich mit der Frage nach dem Verhältnis des Jesus als Menschensohn zur Rechten Gottes erblickenden Visionärs (7, 55f.) zu dem Osterzeugen Paulus ergibt. Schlägt die Stephanusvision, so ist nämlich zu fragen, nicht die Brücke von der paulinischen Damaskusvision (1Kor 9, 1; 15, 8) zurück zu den primordialen „Augenzeugen“ (Lk 1, 2) und ihrem Protokollsatz „Ich habe den Herrn gesehen“ (Joh 20, 18)?

9 J. Gnilka, Paulus aus Tarsus. Zeuge und Apostel, Freiburg 1999, 21–33; E. Lohse, Paulus. Eine Biographie, München 1996, 18–22.

10 Lohse, a.a.O., 23ff.

11 J. Kügler, Der Jünger, den Jesus liebte. Literarische, theologische und historische Untersuchungen zu einer Schlüsselgestalt johanneischer Theologie und Geschichte, Stuttgart 1988, 429–488; dazu mein Beitrag: Was ist mit diesem? Eine theologische Improvisation über das Thema des von Jesus geliebten Jüngers, in: C. Breytenbach und H. Paulsen (Hrsg.), Anfänge der Christologie, Göttingen 1991, 323–336.

12 R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes, Göttingen 1950, 370 (unter Bezugnahme auf B. W. Bacon, The Fourth Gospel in Research and Debate, New Haven 1810).

13 J. Weiß, Das Urchristentum, Göttingen 1977, 318; E. Hoffmann, Platonismus und christliche Philosophie, Zürich 1960, 187–206.

14 G. Lüdemann, Paulus, der Gründer des Christentums, Lüneburg 2001, 110.

15 G. Bornkamm, Paulus, Stuttgart 1977, 223.

16 A. Oepke, Probleme der vorchristlichen Zeit des Paulus, in: K. H. Rengstorf (Hrsg.), Das Paulusbild in der neueren deutschen Forschung, Darmstadt 1964, 446.

17 E. Spranger, Psychologie des Jugendalters, Leipzig 1925, 31–51; 149.

18 F. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches II/II, § 85.

19 Dass daraus „keine Identifizierung Jesu mir seinen Jüngern“ herausgehört werden dürfe, ist eine von Burchard geäußerte, aber kaum bewiesene Behauptung. Ch. Burchard, Der dreizehnte Zeuge. Traditions- und kompositionsgeschichtliche Untersuchungen zu Lukas’ Darstellung der Frühzeit des Paulus, Göttingen 1970, 94.

20 J. Becker, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 1989, 60–66.

21 J. Salaquarda (Hrsg.), Dionysos gegen den Gekreuzigten. Nietzsches Verständnis des Apostels Paulus, in: Nietzsche, Darmstadt 1996, 288–322; dazu meine Studie: Nietzsche – Zerstörer oder Erneuerer des Christentums?, Darmstadt 2002, 92; 98f.; 120f.; 132f.

22 Gegen Burchard, a.a.O., 94.

23 So erklärt sich dann auch die auffällige Tatsache, dass in den originären Paulusbriefen, anders als in den Pastoralbriefen (1Tim 1, 13ff.), jedes Schuldbekenntnis fehlt.

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