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Die Verarbeitung

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Das Bild, zu dem sich die Verarbeitung des paulinischen Ansatzes verdichtete, ist im Vorgriff auf das Resultat entworfen, dem eine mühsame Verarbeitung voranging. Bevor dieser nachgegangen werden kann, stellt sich jedoch die Frage nach dem denkerischen Profil des Apostels. Denn Paulus war kein Theoretiker, obwohl er seine missionarische Praxis auf eine „schauende“ Einsicht in das ihn bewegende Mysterium begründete. Er war kein Systematiker, obwohl die Mehrzahl seiner Gedanken zu einer erstaunlichen Zusammenschau konvergierte. Und er war kein Lehrer, obwohl sich seine Briefe vielfach in Unterweisungen ergehen. Als Praktiker stützte er sich fortwährend auf theoretische Einsichten. Als Schriftsteller war er bemüht, ein einheitliches Bild seiner Botschaft zu bieten. Und als Prediger ging es ihm darum, belehrend auf seine Zuhörer einzuwirken. Doch wo lagen die Schwerpunkte seines Denkens, mit Hilfe deren er die Verarbeitung seiner Einsichten zu einem Ganzen zustande brachte? Und was befähigte ihn dazu, die unterschiedlichen Motive zu koordinieren und zu einem glaubwürdigen Gesamtentwurf zu verschmelzen?

Auch wenn es die Verfolgertätigkeit des Paulus als wahrscheinlicher erscheinen lässt, dass er in seiner Jugend der „strengen Richtung“ des Pharisäertums angehörte (Apg 26, 5), als dass er „zu Füßen“ des als milde geltenden Gamaliel (5, 34–39) saß (22, 3), wird man diesen Angaben der Apostelgeschichte doch entnehmen können, dass Paulus durch eine rabbinische Denkschule geprägt wurde und überdies Impulse aus seinem geistigen Umfeld in sich aufnahm. Falls überdies die Annahme zutrifft, dass der Hymnus auf die Liebe (1Kor 13, 1–13) das Werk des jugendlichen Paulus war, müsste ihm ebenso eine hohe dichterische Begabung zugeschrieben werden, wie sie dann auch in den hymnisch (Röm 8, 31–39; 11, 33–36) und artifiziell gestalteten Passagen (Gal 4, 4ff.; Röm 10, 9) seiner Briefe zutage tritt. Wichtig für eine angenommene Verarbeitung sind jedoch vor allem die erst an seiner geistigen Lebensleistung aufscheinenden Qualifikationen. Auch wenn Paulus erst allmählich in seine Aufgabe, „das Evangelium unter den Heiden zu verkünden“ (Gal 1, 16), hineinwuchs, muss er doch den Welthorizont schon von Anfang an ins Auge gefasst haben. Dafür spricht die Präexistenzaussage (1Kor 8, 6), mit der er mit dem Johannesprolog gleichzieht, sofern dieser gleichfalls davon spricht, dass alles durch das uranfängliche Wort geschaffen wurde, dies jedoch mit dem Zusatz:

Er war in der Welt, denn die Welt ist durch ihn geworden; doch die Welt hat ihn nicht erkannt. Er kam in sein Eigentum; doch die Seinen nahmen ihn nicht auf (Joh 1, 10f.).

Indessen hätte sich Paulus auch diese tragische Fortsetzung des Hymnus angesichts seiner von bitteren Rückschlägen gekennzeichneten Missionserfahrung zu Eigen machen können; doch auch so bleibt die Übereinkunft erstaunlich. Erstaunlicher aber noch ist die Figur des Schöpfungsdenkers, zu der er sich in seiner Präexistenzaussage erhebt. Dabei besteht die nicht einmal vom Johannesprolog erreichte Kühnheit in der Gleichordnung der Schöpfungstat Gottes mit der Jesu Christi, die nur im Blick auf sein Verständnis der Auferstehung Jesu begreiflich ist. Nach dem Eingang des Römerbriefs wurde Jesus durch die Auferstehung „zum Gottessohn mit Macht“ eingesetzt (Röm 1, 3f.). Indem ihn Gott dem Gesetz der Todverfallenheit alles Lebendigen entriss, nahm er ihn zugleich in ein genealogischer Verhältnis zu sich auf. Wie Paulus in seiner Spekulation über die Verfassung des Auferstehungsleibes andeutet (1Kor 15, 35–49), ist diese Aufnahme gleichbedeutend mit der Aufhebung der Grenzen von Raum und Zeit. Als Auferstandener ist Christus an jedem Ort gegenwärtig und mit jeder Zeit gleichzeitig, insbesondere mit dem Anfang der Zeit. Dort begann das Werk der „Neuschöpfung“, die Paulus in der Korrespondenz mit Korinth mit der Lichtwerdung am Schöpfungsmorgen gleichsetzt (2Kor 4, 6) und von der er erklärt:

Wer in Christus ist, ist eine Neuschöpfung. Das Alte ist vergangen; siehe, Neues ist geworden (2Kor 5, 17)49.

Die Vergleichsstelle aus dem Johannesprolog führt jedoch noch auf eine zweite Spur. Der Hinweis auf die Ablehnung des Logos (Joh 1, 10f.) verweist unübersehbar auf die alttestamentliche Weisheitsspekulation, im zweiten Fall sowohl auf eine Stelle im äthiopischen Henochbuch als auch auf einen, damit verglichen, um den tragischen Schlussgedanken verkürzten Passus aus dem Buch Jesus Sirach. Dort heißt es von der „aus dem Mund des Höchsten“ hervorgegangenen Weisheit:

Da befahl mir der, der das All erschuf: In Jakob schlage dein Zelt auf und in Israel suche dein Erbteil (Sir 24, 8)50.

Dagegen weiß die erste Stelle auch um die vergebliche Wohnungssuche der Weisheit in der Menschenwelt:

Die Weisheit fand keinen Platz, wo sie wohnen konnte; doch hatte sie einen Wohnplatz in den Himmeln. Von dort ging sie aus, um unter den Menschenkindern zu wohnen; sie fand aber keine Wohnung. So kehrte sie an ihren Ort zurück und nahm wieder ihren Platz unter den Engeln ein51.

In welch hohem Maß Paulus nicht nur Schöpfungs-, sondern auch Weisheitsdenker war, zeigt sich vor allem in seiner Auseinandersetzung mit der Gemeinde von Korinth, der er vorwirft, ihm aufgrund ihrer Zerstrittenheit nicht bis in die Höhe seiner Weisheitslehre folgen zu können (1Kor 3, 1ff.), nachdem er diese zuvor aufs schärfste von der „Weisheit der Welt“ abgegrenzt hatte (1Kor 1, 20–25). Dabei folgt er der von ihm attackierten Philosophie sogar noch darin, dass er, ebenso wie Platon den Antrieb zur Ideenschau, den Schlüssel zu seiner Weisheitsschau (nach 2, 9) in der Liebe erblickt. Der entscheidende Differenzpunkt besteht dann aber darin, dass er das Prinzip Liebe nicht in dem nach dem Guten und Schönen begehrenden Eros, sondern in dem erblickt, der ebenso wie der Inbegriff der Liebe (Röm 8, 39) so der der Weisheit ist; denn, so versichert er seinen Adressaten:

In ihm habt ihr das Sein in Christus gewonnen, der für uns von Gott zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung geworden ist (1Kor 1, 30)52.

Bekanntlich hat sich Gerhard von Rad dafür ausgesprochen, dass die Apokalyptik mit ihrem vorwärts gerichteten Geschichtsbild nicht, wie vielfach angenommen wurde, „als ein Kind der Prophetie“, sondern als eine Frucht des Weisheitsdenkens zu gelten habe53. Auf Paulus übertragen heißt das, dass er als Weisheitsdenker auch zum Geschichtsdenker geworden ist. Und das heißt des Weiteren, dass er es seiner Einsicht in das Geheimnis des „für uns zur Weisheit“ Gewordenen zu verdanken hat, dass er im Römerbrief das geradezu evolutionäre Bild einer unter Seufzen und Wehen dem Ziel der universalen Gotteskindschaft entgegenstrebenden Welt entwerfen konnte (Röm 8, 18–25). Zu dieser Sicht gelangte er aber nur deshalb, weil sein Denken durch das Damaskuserlebnis in diesem Sinn strukturiert worden war, sodass er im Weltgeschehen das entdecken konnte, was sich in seinem Selbstvollzug spiegelte. Den Beweis dafür erbringt sein haptisches Osterzeugnis, das ihn, den von Christus Ergriffenen, in einer prozessualen Selbstaneignung erscheinen lässt (Phil 3, 12).

Im Ausgriff auf sein eigenes Erfüllungsziel gelangte er zur Einsicht in das zielgerichtete Weltgeschehen. Diese Übertragung lag ihm umso näher, als er im Sinn der antiken Mikrokosmosvorstellung die individuelle Existenz als Abriss des Kosmos und diesen als Großform der Selbstverwirklichung verstand54. Die Qualifizierung des Apostels als Weisheitsdenker wirft aber angesichts zahlreicher Sophiendarstellungen, insbesondere in der byzantinisch-russischen Kunst und den in Wladimir Solowjews autobiographischem Gedicht „Drei Begegnungen“ kulminierenden Berichten über Sophienvisionen die Frage auf: „War Paulus ein Visionär?“, verstanden als die Frage, die Bernhard Heininger affirmativ zu beantworten sucht55.

Zweifellos weisen eindeutige Aussagen des Apostels in diese Richtung, auch wenn er sich dabei nur im Bericht von seiner Himmelsreise des Ausdrucks „Schauungen“ (optasiai) bedient (2Kor 12, 1)56. Dabei stützt sich Heiningers Antwort ebenso auf die authentischen Auskünfte des Apostels wie auf die von jenen klar unterschiedenen „Fremdzeugnisse“, bei denen die von der Apostelgeschichte berichtete Tempelvision (Apg 22, 17–21) im Vordergrund steht57. Bei dieser ist zwar ausdrücklich von einem „Sehen“ des zu Paulus sprechenden Christus die Rede; doch ist sie schon deshalb als legendär einzustufen, weil sie Paulus der Beteiligung an der Steinigung des Stephanus bezichtigt (22, 20), die dieser im Fall ihrer Historizität bei der wiederholten Erwähnung seiner Verfolgertätigkeit keinesfalls verschwiegen hätte, die so aber der geschickten Regieführung des Lukas zuzuschreiben ist. Doch so sorgfältig Heininger zwischen authentischen Berichten und Fremdzeugnissen unterscheidet, fehlt bei ihm eine vergleichbar klare Differenzierung innerhalb der originären Selbstzeugnisse. Zwar ist von einem „Nachklang“ der Damaskusvision die Rede, doch nicht im Blick auf die gerade dafür bezeichnende Himmelsreise (2Kor 12, 1–5). So sehr sie von Paulus, wenngleich zögerlich, als lebensgeschichtliches Faktum dargestellt wird, liegt sie doch keinesfalls auf derselben Ebene wie die Damaskusvision. Vielmehr wirkt sie angesichts des Motivs der Entrückung und des Vernehmens „geheimer Worte“ (12, 4) wie eine Widerspiegelung, um nicht zu sagen ein Replikat der Damaskusvision. Darin begegnet Paulus zwar (nach 2Kor 4, 6) auch als Visionär, dies jedoch im Sinn eines einmaligen, einzigartigen und für die Entstehung des Christusglaubens grundlegenden Ereignisses. Insofern erscheint hier das visionäre Erlebnis als eine Begleiterscheinung der Zeugenschaft und diese nicht als eine Bestätigung der Schau. Für die Bestimmung der Denkstruktur des Apostels aber ergibt sich daraus, dass er bei aller diskursiven und argumentativen Qualifikation zuletzt doch ein intuitiver Denker war, der seine Einsicht mehr spontanen Eingebungen als abwägenden Überlegungen verdankt.

In seiner Darstellung hebt Heininger aber noch auf eine weitere Seite der Denkergestalt des Apostels ab: auf seinen Anspruch, „allen alles geworden“ zu sein (1Kor 9, 22), der sich wie eine die übrigen Aspekte übergreifende Klammer ausnimmt58. Wenn er versichert, dass er sich bei aller Souveränität und Freiheit „zum Knecht aller gemacht“ habe und „den Juden … ein Jude, den Gesetzesleuten ein Gesetzesmann …, den Gesetzlosen ein Gesetzloser, den Schwachen ein Schwacher“, ja „allen alles geworden“ sei (1Kor 9, 19–22), entsteht geradezu der Eindruck einer multiplen Persönlichkeit. Doch Paulus unterläuft diese Vermutung mit dem Hinweis, dass er sich dazu nur aus missionarischem Interesse hergegeben habe, um sich so optimal auf die jeweilige Adressatengruppe einzustimmen. Dabei musste er dann auch im Stil eines kerygmatischen Pluralismus argumentieren. Daraus dürfte sich die Mehrzahl der Inkonsistenzen und Widersprüche in seinem Briefwerk erklären. Für die Bestimmung der Denkergestalt ergibt sich so das Bild einer ungemein flexiblen, sich ständig neu orientierenden und auf die jeweiligen Rezipienten sich bis zur Selbstverleugnung einstimmenden und dabei doch scharf profilierten Persönlichkeit. Wenn dieser Selbstgewinn in der Verausgabung erklärt werden soll, dann nur im Blick auf die Selbstwerdung Jesu, der seine Identität nicht wie die allgemein menschliche in Akten der Abgrenzung und Unterscheidung, sondern (nach Mk 10, 45) der Hingabe und Selbstübereignung gewinnt59. Dadurch findet die Rolle, welche die „vielfarbige“ Gottesweisheit bei der Auffächerung des Damaskuserlebnisses Pauli und der Verwandlung seines definitiven Lebensinhalts in die für seine Verkündigung grundlegende Sinngestalt spielt, eine nachhaltige Bestätigung. Wie gestaltet sich dann aber die Verarbeitung des paulinischen Schlüsselerlebnisses?

Vor dem Hintergrund dieser Profilbestimmung ist es erst möglich, die Grundlinien durchzuziehen, denen Paulus bei dieser Verarbeitung folgte. Dabei fällt seine Bemerkung ins Gewicht, dass er sich nach seiner Lebenswende nicht „an Fleisch und Blut“ gewandt, ebenso wenig aber nach Jerusalem zu denen begeben habe, die schon vor ihm Apostel waren, sondern nach Arabien und von dort wieder nach Damaskus gezogen sei (Gal 1, 16f.). Wenn sich Paulus auch über den Anlass dieses „Rückzugs“ nach Arabien ausschweigt, drängt sich doch die Erinnerung an das Verhalten ähnlicher Offenbarungsempfänger auf, angefangen von Buddha, der sich nach seiner großen Erleuchtung zunächst in die Einsamkeit zurückzieht, und von Jesaja, der nach Klaus Baltzer auf seine Tempelvision mit dem vielsagenden Ausruf „ich muss schweigen“ reagiert, bis hin zu Jesus, der sich nach seinem visionären Erlebnis nicht, wie die Evangelien suggerieren, vom Geist in die Wüste treiben lässt, „um vom Teufel versucht zu werden“ (Mt 4, 1), sondern in erster Linie zu dem Ziel, den an ihn ergangenen und alle Traditionen sprengenden Anruf „du bist mein geliebter Sohn“ zu verarbeiten60. Spuren dieser Verarbeitung lassen sich in seinen Bildworten erkennen, in denen vielfach von der Steppenflora und -fauna die Rede ist: von Lilien, Disteln und Dornen (Mt 6, 28; 7, 16), Füchsen und Geiern (Lk 9, 58; Mt 24, 28) und von dem Schaf, das sich in der Steppe verirrt hat (Lk 15, 4). Hier, in der Wüste, dürfte er, dieser Konjektur zufolge, sodann den Mittelbegriff „Reich Gottes“ gefunden haben, der es ihm ermöglichte, die ihm zugesprochene Gottessohnschaft dem (nach Mt 9, 36) hirten- und orientierungslosen Volk mitzuteilen. Hier, in der Wüste, dürfte dann aber auch seine große Sprachleistung ihren Anfang genommen haben, das – nach Origenes, wenn nicht schon nach Markion mit ihm identische – Gottesreich im Sprachgewand von Bildworten und Gleichnissen an seine Hörerschaft heranzutragen. Erst vor diesem Hintergrund wird dann auch die versucherische Anzweiflung seiner Gottessohnschaft mit dem Konditionalsatz „wenn du der Sohn Gottes bist“ (Mt 4, 3. 6) verständlich61. Unterstand aber Paulus gleichfalls einer derartigen Anfechtung?

Wenn man die Heftigkeit seiner bisweilen bis zum Zynismus gesteigerten Reaktionen auf die Angriffe seiner Gegner ins Auge fasst, spricht viel für diese Vermutung. Dann brächten sie in ihrer Polemik etwas zur Sprache, was in ihm selbst noch nicht ganz abgeklungen war und was er, von der Stunde seiner Lebenswende an, in sich selber niederkämpfen musste. Das verlieh seiner Freiheitsbotschaft eine besondere Qualität. Sie war nicht nur ein ihn überwältigendes Geschenk, sondern eine von ihm errungene Leistung, im Blick auf die Denkleistung Kierkegaards gesprochen: eine aus dem Abgrund seines Innersten hervorgeholte und der Welt mit triumphierender Geste dargereichte Perle62.

Auch die von Paulus verwendete Metaphorik erinnert durchaus an die von Jesus der Steppen- und Wüstenlandschaft und in der Folge seiner agrarischen Umwelt entnommenen Bilder. Zwar ist bei ihm, anders als in den Gleichnissen Jesu, nur beiläufig von Giftschlangen (1Kor 10, 9), vom Säen und Ernten (2Kor 9, 6), vom Sauerteig (Gal 5, 9; 1Kor 5, 6f.) und vom Pfluge (9, 9f.) die Rede, und sein Ölbaumvergleich (Röm 11, 13–24) gilt zu Recht als Missgriff. Dafür lässt er sich in seinen Bildern umso mehr von Eindrücken des Theaters mit seinen Gladiatorenkämpfen (1Kor 4, 9; 15, 32), des Bau- und Militärwesens (3, 9–17; 2Kor 2, 14) und nicht zuletzt des Sports (1Kor 9, 24ff.) inspirieren. Was sich in seinen Bildern spiegelt, ist die Welt der antiken Großstädte mit ihren Tempeln (6, 19), ihren Geräuschen und ihrer Musik (14, 7f.), ihrem Gestank und ihren Düften (2Kor 2, 15f.). Danach ist Paulus nicht nur ein intuitiver und dialektischer Denker, sondern auch ein für visuelle, akustische und sensitive Eindrücke empfänglicher Sinnesmensch, der das von ihm auf seinen Wanderungen Aufgenommene ebenso sensibel registriert wie konstruktiv verarbeitet. Hat aber auch die Verarbeitung des himmlischen Zuspruchs in Jesu Wüstenaufenthalt eine paulinische Entsprechung?

Dafür spricht der im Epheserbrief vorliegende Grenzfall neutestamentlicher Pseudoepigraphie63. Denn in dieser der Paulusschule entstammenden Schrift übernimmt der Verfasser nicht nur die Rolle des Apostels, sofern er seine Schrift als Paulusbrief herausgibt und dessen Geltung für sie beansprucht; vielmehr versetzt er sich ausdrücklich in den Offenbarungsempfang des Apostels, sodass er seinen Lesern in Anspielung auf dessen Damaskuserlebnis erklären kann:

Mir, dem Geringsten unter allen Heiligen, wurde die Gnade zuteil, den Heiden die Frohbotschaft von dem unergründlichen Reichtum Christi zu verkünden und allen Klarheit über die Verwirklichung des Heilsplans zu verschaffen, der seit Ewigkeit in Gott, dem Vater des Alls, verborgen war. So sollte jetzt den Mächten und Gewalten in den Himmelshöhen die vielfarbige Weisheit Gottes kundgetan werden, wie es dem ewigen Vorhaben entspricht, das er in Christus Jesus, unserm Herrn ausgeführt hat (Eph 3, 8–11)64.

Wenn diese Aussage nicht aus der Luft gegriffen, sondern ihrem Anspruch zufolge einer extremen Einfühlung in das Damaskuserlebnis des Apostels entnommen ist, gibt sie Auskunft über dessen auf weltweite Veröffentlichung drängende Explikation. Was vor Damaskus geschah, entstammte danach einem seit Ewigkeit gefassten göttlichen Heilsplan, der von Paulus offengelegt und nicht nur „in weitem Bogen von Jerusalem bis Illyrien“ (Röm 15, 19), sondern in der ganzen Weite des Kosmos verkündet werden sollte. Medium und Mittelbegriff dieser Entfaltung ist der Versicherung des fiktiven Paulus zufolge die von ihm als „vielfarbig“ (polypoikilos) bezeichnete Weisheit, die in ihrem Perspektivenreichtum dem Apostel zur Aufschlüsselung seines Erlebnisses verhalf65. Dabei beschränkt sich der Verfasser auf die Andeutung der – Himmel und Erde umfassenden – Dimensionen, in die sich die Entfaltung und Promulgation erstrecken sollte. Dagegen schweigt er sich über die existentielle und spirituelle Aneignung des Erlebten aus. Indessen gibt er in der Folge doch eine indirekte Auskunft, wenn er für seine Adressaten bittet, dass Christus durch den Glauben „in ihren Herzen wohnen“ möge (Eph 3, 17). Denn damit überträgt er auf sie den Identitäts- und Herzenstausch, zu dem sich Paulus im Anschluss an sein akustisches Osterzeugnis (Gal 2, 20) bekannt hatte. Dafür bot diesem der Aufenthalt in Arabien (1, 17) den für die Aneignung des ihm zugesprochenen Gottessohnes erforderlichen Raum. Dort erwachte er zum Bewusstsein der ihm durch den Zuspruch zugeeigneten Gotteskindschaft (Gal 4, 6; Röm 8, 15), der er in der Folge den Schlüsselbegriff seiner Anthropologie entnahm.

Damit ist auch schon der innerste Kern des paulinischen Lebenswerkes berührt. Wie er erst im Kampf zu seiner Hochform auflief, fand er erst in der missionarischen Verausgabung ganz zu sich selbst. Paulus ohne seine Gegner ist nur der halbe Paulus; Paulus ohne sein Missionswerk – ein Nichts. In der Konsekutivbestimmung, wonach er den neuen Lebensinhalt zu dem Ziel empfangen habe, damit er das ihm zugesprochene Geheimnis der Gottessohnes „unter den Heiden verkünde“ (Gal 1, 16), drückt sich aber ein zusätzliches Motiv seiner Missionstätigkeit aus, das zulänglich nur mit dem Begriff einer göttlichen Sendung bestimmt werden kann. Worin bestand sie?

Paulus

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