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II. Die Insinuation Die Lebenswende
Оглавление„Ich bin mir selbst ein Rätsel“ (Röm 7, 15), gesteht Paulus angesichts des von ihm paradigmatisch durchlebten Zwiespalts zwischen Wollen und Tun. Erst recht aber steht er staunend vor sich angesichts der „Gottestat“ (Wikenhauser), die ihn ebenso sehr aus der Bahn warf, wie sie ihn auf seinen definitiven Lebensweg und zu sich selbst brachte. Nur unter dem Druck einer gegen ihn gerichteten Aggression verstand er sich dazu, über dieses Erlebnis Auskunft zu geben. Und er konnte diese Auskunft nur in Form von knappen Hinweisen geben, weil es einer sprachlichen Wende bedurfte, damit er davon überhaupt reden konnte: der Wende von der weltorientierenden zur konfessorischen Rede24. Zwar vertrat Bruno Snell die Ansicht, dass sich das „Erwachen der Persönlichkeit in der frühgriechischen Lyrik“ vollzog25. Tatsächlich aber führen die ersten Spuren des selbstbezeugenden Redens zum altägyptischen „Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele“ zurück26. Vollends löste sich die Zunge zu dieser Sprachform in den „Konfessionen“ des Propheten Jeremia, der, wie er sich ausdrückt, von Gott zu seinem Prophetendienst „verführt“, leidenschaftlich gegen den an ihn ergangenen Auftrag aufbegehrt, um sich ihm dann doch, ebenso beglückt wie überwältigt, zu beugen; oder nun wörtlich:
Du hast mich verführt, Jahwe, und ich habe mich verführen lassen. Denn das Wort des Herrn bringt mir nur Spott und Hohn. Sagte ich aber: ich will nichts mehr von ihm wissen und nicht mehr in seinem Namen sprechen, da war es mir, als brenne in meinem Herzen ein loderndes Feuer, verhalten in meinem Gebein. Ich mühte mich, es niederzuhalten; doch ich vermochte es nicht (Jer 20, 7.9)27.
In Paulus kommt diese Sprachform endgültig zum Durchbruch, vollends in seiner „Narrenrede“ über die von ihm ausgestandenen Torturen, Strapazen und Sorgen (2Kor 11, 23–33) und im anschließenden Bericht von seiner Entrückung „bis zum dritten Himmel“ (12, 2ff.), ansatzweise aber auch schon in dem dreifachen Bericht, den er von seiner Lebenswende erstattet und der sich, bezeichnend für dessen sprachtheoretische Implikationen, von einem akustischen zu einem optischen und schließlich zu einem haptischen Zeugnis staffelt. Bezeichnend ist für Paulus jedoch ebenso, dass er sich nur unter dem Druck gegnerischer Herausforderung zu diesem dreifachen Selbstzeugnis durchrang, wie dies im ersten und im dritten Fall besonders deutlich zutage tritt. Im ersten Fall sind es seine in seine galatischen Gründungen eingebrochenen Gegner, die den von ihm Bekehrten einreden, dass ihnen von Paulus fälschlicherweise ein „erleichtertes“ Evangelium verkündet worden sei, so wie er selbst nur als zweifelhafter Apostel gelten könne. Denn zur Vollständigkeit der christlichen Botschaft gehöre – unverzichtbar – das jüdische Gesetz mit seinen Forderungen; und als Apostel könne nur der gelten, der so wie die „Säulen“ Petrus, Jakobus und Johannes von Jesus selbst dazu berufen worden sei und sein öffentliches Leben, „angefangen von der Taufe durch Johannes bis zum Tag seiner Entrückung“ (Apg 1, 22), mit ihm teilte. Auf den ersten Vorwurf antwortet Paulus mit bitterem Blick auf die schwankend Gewordenen:
Ich wundere mich doch sehr darüber, dass ihr so rasch von dem, der euch in der Gnade Christi berufen hat, zu einem anderen Evangelium abgefallen seid. Aber es gibt kein anderes Evangelium! Es gibt nur einige, die euch in Verwirrung stürzen und das Evangelium in sein Gegenteil verkehren wollen. Doch selbst in dem Fall, dass wir selbst oder gar ein Engel vom Himmel euch ein anderes Evangelium als das, was ihr empfangen habt, verkünden sollte – verflucht sei er! (Gal 1, 6–9)28.
Schon in diesem Vorwurf gibt der aufs äußerste aufgebrachte Apostel zu verstehen, dass er sich zu einer Auskunft über die Herkunft des von ihm verkündigten – einzig richtigen – Evangeliums provoziert fühlt. Erst recht gilt das von der gegnerischen Unterstellung, dass er nicht, wie er dann in der Korrespondenz mit Korinth verdeutlicht, über die „echten Kennzeichen“ des Apostels verfüge (2Kor 12, 12), weil er nicht „zu den Primärempfängern des Evangeliums“ gehöre (Mussner). Sie nötigt ihm vollends das erste und grundlegende Selbstzeugnis über seine Berufung ab, das er in engem Anschluss an die Berufungsszene des Propheten Jeremia formuliert (Jer 1, 5). Nach einem Rückblick auf seine Verfolgertätigkeit erklärt er:
Als es aber dem, der mich vom Mutterschoß an ausersehen und in seiner Gnade berufen hat, gefiel, seinen Sohn in mir zu offenbaren, damit ich die Frohbotschaft von ihm unter den Heiden verkünde, wandte ich mich nicht sofort an Fleisch und Blut, auch zog ich nicht nach Jerusalem zu denen hinauf, die schon vor mir Apostel waren; vielmehr ging ich nach Arabien und kehrte von dort wieder nach Damaskus zurück (Gal 1, 15ff.)29.
Versteckt in diesem verschachtelten Satz erstattet Paulus hier sein grundlegendes und, wie dem Stichwort „offenbaren“ (apokalyptein) zu entnehmen ist, „akustisches“ Osterzeugnis, und dies „als der Einzige, der von seinem Ostererlebnis authentisch berichtet“ (Betz)30. Was die Apostelgeschichte in den Vorwurf der Himmelsstimme „Warum verfolgst du mich?“ kleidet, versteht Paulus in dieser authentischen Version selbst als die an ihn ergehende Mitteilung des Gottessohnes. Dabei lässt das „in mir“, wie gegen alle abschwächenden Deutungen festzuhalten ist, keinen Zweifel daran, dass der „Ort“ dieser Mitteilung sein Innerstes ist, sodass es sich bei seinem Widerfahrnis um ein genuin mystisches Erlebnis handelt31. Darin wusste er sich von dem ihn berufenden Gott in einer Weise angesprochen, dass die Mitteilung mit dem Mitgeteilten identisch war. Mit dem kanadischen Medientheoretiker Marshall McLuhan könnte man auch sagen, dass das Medium – der Offenbarungsakt – für ihn zugleich die Botschaft war32. Damit war ihm aber auch alles gesagt, was ihm von Gott mitgeteilt werden konnte, und über die Botschaft entschieden, die er „unter den Heiden“ auszurichten hatte.
Besonders krass kommt der gegnerische Anlass im dritten, dem haptischen Osterzeugnis des Apostels zum Vorschein. Er nennt die Gegner „Hunde“ und „Pfuscher“ (Phil 3, 2), deren Gott „der Bauch“ ist und die mit ihrer – von Paulus polemisch als „Zerschneidung“ apostrophierten – Beschneidung angeben (3, 19). Auch in diesem Fall kontert Paulus mit dem Rückblick auf seine Vorgeschichte:
Worauf einer sein Vertrauen setzen könnte. Ich könnte es noch mehr! Am achten Tag beschnitten, stamme ich aus dem Volk Israel, aus dem Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern, ein zelotischer Verfolger der Kirche, der Gesetzesgerechtigkeit nach untadelig (Phil 3, 4ff.).
Dann aber brach jenes Ereignis in sein Leben ein, das eine totale Umwertung nach sich zog, sodass ihm alles, was ihm zuvor als Vorzug galt, seither als Verlust und Unrat vorkommt (3, 7f.). Inhalt dieses einschneidenden Ereignisses war, wie er sich ausdrückt, die „Erkenntnis Christi“ und die darin gewonnene Gottesgerechtigkeit (3, 8f.). Seitdem besteht ihm das Leben in dem Wunsch, Christus kennen zu lernen „in der Kraft seiner Auferstehung und in der Leidensgemeinschaft mit ihm“ (3, 10). Darauf folgt die neue, gleicherweise authentische Bezeugung seines Damaskuserlebnisses:
Nicht als ob ich es schon ergriffen hätte oder bereits vollendet wäre. Doch möchte ich es ergreifen, so wie ich von Christus Jesus ergriffen worden bin (3, 12).
Stand im akustischen Zeugnis das informative Moment im Vordergrund, so hier – mit John L. Austin gesprochen – das performative33. Was ihm im Sinne seines Urzeugnisses ins Herz gesprochen worden war, hatte eine völlige Metamorphose seiner Existenz zur Folge. Wie Jeremia fühlte er sich von dem göttlichen Zuspruch überwältigt und der Macht dessen, der ihm mitgeteilt worden war, unterworfen. Und doch unterschied sich diese Überwältigung von jeder heteronomen dadurch, dass er (nach Gal 2, 20) in dem ihn Ergreifenden zu seiner definitiven Selbstfindung gelangte.
Im Blick auf das Urzeugnis (Gal 1, 16) stellt Franz Mussner die Frage, wie diese akustische Version des Damaskuserlebnisses mit der wiederholten Versicherung des Apostels zusammengehe, dass er wie die übrigen Osterzeugen „den Herrn gesehen“ habe (1Kor 9, 1; 15, 8)34. Die Antwort des Apostels darauf ergibt sich aus seinem „optischen“ Osterzeugnis (2Kor 4, 6)35. Eine Gegnerschaft deutet Paulus auch hier insofern an, als er sich von „Ränkeschmieden“ und „Verfälschern des Gotteswortes“ abgrenzt (4, 2). In ihrem Kontext weist die Aussage jedoch zurück auf die vom Gottesgeist bewirkte Beseitigung der Hülle, die auf den Augen der Ungläubigen, insbesondere auch auf den Augen und Herzen der „alttestamentlichen“ Juden liegt (3, 13ff.). Wer sich aber „zum Herrn bekehrt“, gelangt zu einer mittelbaren Spiegelschau der „Herrlichkeit des Herrn“ (3, 18), die Paulus sorgfältig vom Ziel dieser Ableitung, seinem optischen Osterzeugnis, unterscheidet. Dabei ist es ihm keineswegs um eine Selbstinszenierung zu tun:
Nicht uns selbst verkünden wir, sondern Christus Jesus als den Herrn, uns aber als eure Diener um Jesu willen. Denn Gott, der sprach: „Aus Finsternis erstrahle Licht“, er hat es auch in unsern Herzen tagen lassen zum strahlenden Aufgang der Gottherrlichkeit auf dem Antlitz Christi (2Kor 4, 5f.)36.
Für Paulus, der in der vom Mikrokosmosgedanken geprägten Denkwelt der Antike lebte, ist das eigene Schicksal mit dem seines Volkes und der Menschheit verwoben. Erst recht gilt das von der durch sein Ostererlebnis bewirkten Lebenswende. Wie sein eigenes Leben dadurch auf eine neue Basis gestellt wurde, so wurde durch die Auferstehung der Welt auch Werden und Geschichte der Welt in eine neue und höhere Dimension gehoben. Angelpunkt dessen ist die Präexistenzaussage, zu der sich Paulus mit dem stupenden Wort erhebt:
Wir haben nur einen Gott, den Vater, aus dem alles ist und für den auch wir sind, und nur den einen Herrn, Jesus Christus, durch den alles wurde, und durch den auch wir sind (1Kor 8, 6).
Deshalb vollzog sich für Paulus durch die Auferstehung der Schöpfungsakt, jetzt nur auf einer höheren Ebene, aufs Neue. Der Lichtwerdung am Schöpfungsmorgen entsprach die offenbarende „Lichtung“, die die – als Offenbarung zu verstehende – Herrlichkeit (kabod) Gottes auf dem Antlitz Jesus erstrahlen ließ. Das aber war nicht das Aufscheinen jener ideellen Wahrheit, wie sie mit jedem Erkenntnisakt einhergeht, sondern die Fulguration der antlitzhaft verfassten Gotteswahrheit, wie sie das Augustinuswort von der facies veritatis ins Auge fasst37. Doch blieb es nicht bei dieser Alternative. Vielmehr galt von der Schau der im Antlitz Christi aufscheinenden Wahrheit Ähnliches wie von dem Verhältnis von Medium und Botschaft. Die Schau des Angesichts wandelte sich in ein Gesehensein durch dieses, sodass der Sehakt mit dem Gesehenen verschmolz. Darauf bezieht sich der mit Paulus konkurrierende Symeon der Neue Theologe, wenn er in seinen Hymnen auf Gott versichert:
Ich war blind – glaubt es mir doch –, und ich konnte nicht sehen. Deshalb ist das Wunder umso erstaunlicher, das mir das Auge meines Geistes geöffnet und mich sehen gelehrt hat. Und was ich schaute, ist er selbst. Denn als das Licht gibt er sich dem Sehenden zu erkennen, und die, die in diesem Lichte sehen, schauen ihn38.
Was Paulus durch die Schau des Auferstandenen widerfuhr und was sich zugleich im Weltgeschehen spiegelte, das gilt auch für jeden, der sich durch den Glauben in sein Sehen hineinnehmen lässt. Nur muss er sich, anders als der Neue Theologe, der Abkünftigkeit seiner Schau bewusst bleiben, weil er nie zu dieser Schau gekommen wäre, wenn ihn der „antwortende Osterzeuge“ nicht auch in dieser Hinsicht an seinem Ostererlebnis hätte teilnehmen lassen.
Wie Mussner nach der Vereinbarkeit von Vision und Audition fragte, so stellte seinem Hinweis zufolge Otto Betz die Frage, wie es möglich war, dass Paulus die „Vielfalt von Tatsachen und Aufgaben aus dem Erlebnis der Christusvision ableiten konnte“. Das aber war, wie Christian Dietzfelbinger genauer formulierte, die Frage, wie ihm das visionäre Erlebnis zum „Ursprung seiner Theologie“ und damit seiner Botschaft und Lehre werden konnte39. Wenn Betz meinte, dass ihm dazu weder „die Worte eines vom Himmel her redenden“ noch „eines auf Erden helfenden Christus, sondern die Worte der heiligen Schrift“, insbesondere Wendungen aus den Berufungsszenen der Propheten Jesaja und Jeremia verholfen hätten, wird er dem erklärten Selbstzeugnis des Apostels nicht gerecht. Zu deutlich widerspricht dem dessen Behauptung, dass er sein Evangelium weder von einem Menschen übernommen noch gelehrt bekommen, „sondern durch eine Offenbarung Jesu Christi“ erhalten habe (Gal 1, 12). Wenn er dem hinzufügt, dass ihm in seiner Damaskusstunde die Gottessohnschaft mitgeteilt worden sei (Gal 1, 16), war er zur Deutung seines Erlebnisses gerade nicht durch Vorgaben biblischer, ägyptischer oder gnostischer Art, sondern allein durch dieses selbst gelangt. Es stand für ihn, wie sich dies in seinem optischen Osterzeugnis klärte, in seinem eigenen, im Antlitz des Auferstandenen erstrahlenden Licht (2Kor 4, 6). Was im Unterschied zu Mussner und Betz hätte erfragt werden sollen, war die Aneignung dessen, was ihm „zugesprochen“ und aufgegangen war. Doch dieser Frage kommt Paulus durch sein drittes, als haptisch qualifiziertes Osterzeugnis zuvor, wenn er darin auf sein stimulierendes Ergriffensein durch den Auferstandenen abhebt (Phil 3, 12).
Der an ihn ergangene Zuspruch brachte ihm nicht nur die für sein ganzes Denken entscheidende Information; vielmehr erging er an ihn zugleich mit performativer Intensität, die ihm zur Aneignung dessen verhalf, der sich als der geoffenbarte Offenbarer erwies und sich seiner nach Art eines „Werkzeugs“ (Apg 9, 15) bemächtigte. Doch dadurch wurde er selbst zum leibhaftigen Interpretament des ihm Zugesprochenen. Sein Offenbarungsempfang zog eine Anverwandlung an das Empfangene nach sich. Die erste – und wichtigste – Frucht dessen aber bestand darin, dass er den ihm Geoffenbarten als „Gottessohn“ erkannte. Im Vernehmen des Zuspruchs war er über den Status der Kreatürlichkeit und des kreatürlichen Erkennens hinausgehoben und in ein genealogisches Gottesverhältnis versetzt worden. Als Hörer des an ihn ergangenen Wortes war er, wie er dann gleichsinnig im Galater- und Römerbrief versichert (Gal 4, 4ff.; Röm 8, 15), der Heteronomie des Daseins enthoben und in ein Kindesverhältnis zu Gott aufgenommen worden. Das musste dann aber erst recht auf den ihm Zugesprochenen zutreffen, den er nun – vor jeder anderen Qualifikation – als den „Sohn Gottes“ begriff. Darin bestand der diamantene Kern seiner Konzeption, der sich dann im Zug seiner Verarbeitung in die unterschiedlichen Aspekte der Botschaft auffächerte. Diese Selbstauslegung aber kam dadurch in Gang, dass Paulus den Kern seiner Konzeption auf die unterschiedlichen Felder seiner Selbst- und Weltwahrnehmung, seines christozentrischen und soteriologischen Heilsverständnisses, seiner Proto- und Eschatologie sowie seiner Ethik und Mystik bezog.