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Die Aspekte

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Was das Selbstverständnis des Apostels betrifft, so beginnt es im Unterschied zu dem von Gerhard Krüger nach seiner Herkunft befragten philosophischen Selbstbewusstsein weder mit der staunenden Wahrnehmung des eigenen Selbst noch mit der Niederringung der zu Beginn der Neuzeit dagegen aufkommenden Zweifel, sondern mit dem zwar stellvertretend ausgestoßenen, jedoch ureigener Betroffenheit entstammenden Aufschrei:

Ich unglücklicher Mensch! Wer wird mich von diesem todverfallenen Leib befreien (Röm 7, 24)40.

Das ist die an das „Ach“ Alkmenes aus Heinrich von Kleists Amphitryon’ erinnernde elementare Artikulation des personalen Ich, das sich in der Klage des Apostels, bahnbrechend für den gesamten Personalismus der Folgezeit, erstmals Ausdruck verschafft. Dahinter verbirgt sich gerade nicht das Staunen darüber, „dass etwas ist und nicht Nichts“ (Heidegger), sondern das Erschrecken über die Todverfallenheit, die den zu sich selbst Erwachenden ins Nichts zurückzustoßen droht. Doch auf die bange Frage: „Wer wird mich befreien?“ antwortet Paulus, kaum, dass er sie stellte, mit der „Dankesformel“ (Wilckens):

Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn! (Röm 7, 25)41.

Das klingt wie eine Vorwegnahme der Zusicherung „dann bin auch ich dein Eigen“, mit dem die in der Tiefe des Menschenherzens erklingende Gottesstimme nach Nikolaus von Kues ihre Aufforderung „sei dein Eigen!“ unterbaut42. Insofern stellt sich der Akt der personalen Selbstwerdung für Paulus ungleich dramatischer dar als aus dessen philosophischer Sicht. Für ihn geht das zu sich selbst erwachende Ich nicht aus dem Versuch seiner Selbstsetzung hervor (Fichte), sondern aus der Retterhand dessen, der es vor dem Absturz ins Nichts bewahrt.

Davon ist das anthropologische Konzept des Apostels geprägt. Zwar ist der Mensch für ihn, wenngleich in geschlechterspezifischer Abstufung (1Kor 11, 7), nach dem Ebenbild Gottes geschaffen. Doch ist die Gottebenbildlichkeit für ihn keine stabile Mitgift des menschlichen Seins. Sie kann durch die Sünde verdunkelt, ja sogar durch sittliche Perversion mit dem „Abbild von Vergänglichem, von Menschen, Vögeln, Vierfüßlern und Gewürm“ vertauscht werden (Röm 1, 23). Ebenso wird sie durch den Glauben an den, der das genuine „Abbild Gottes“ ist (2Kor 4, 4), im Sinn einer wachsenden Angestaltung wiedergewonnen (Röm 8, 29). Somit ist der Mensch für Paulus das im plastischen Sinn „bildsame“ Wesen, das sich ebenso fallen lassen und zur Barbarei erniedrigen wie zur Höhe der Gleichgestaltung mit dem Gottessohn und damit der Gotteskindschaft (Gal 4, 6f.; Röm 8, 15) erheben kann. Dem verlieh Paulus schon in seinem Selbstvergleich mit dem Schatz im Tongefäß (2Kor 4, 7) bildhaften Ausdruck. Vollends aber brachte er dieses dialektische Menschenbild mit seiner, womöglich in Anlehnung an ein „platonisches Motiv“ (Heckel), zweifellos jedoch aufgrund seines ambivalenten Existenzbewusstseins getroffenen Unterscheidung des inneren und äußeren Menschen auf den Begriff; so schon in seinem Geständnis:

Dem inneren Menschen nach habe ich Freude am Gesetz. Doch sehe ich ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das dem Gesetz meines Gewissens widerstreitet und mich im Gesetz der in meinen Gliedern wohnenden Sünde gefangen hält (Röm 7, 22f.);

erst recht aber in der die ganze Existenzdynamik durchgreifenden Aussage:

Wenn unser äußerer Mensch auch aufgerieben wird, erneuert sich doch der innere von Tag zu Tag (2Kor 4, 16)43.

Für den im Horizont der antiken Mikrokosmosvorstellung denkenden Apostel steht der Mensch aber nicht so sehr auf dem einsamen Posten seiner Individualität als vielmehr im Ganzen eines universalen Seinszusammenhangs, der sich ebenso in ihm spiegelt, wie er in ihm sein Zentrum und Gestaltgesetz hat. Daher ist auch die Welt, analog zur Todverfallenheit des Menschen, der Vergänglichkeit unterworfen (1Kor 7, 31), sodass von ihrer Gegebenheit nur mit Vorbehalt Gebrauch gemacht werden kann (7, 29ff.). Ungeachtet dieser negativen Stigmatisierung ist sie aber zugleich unterwegs zu ihrer endzeitlichen Vollgestalt. Ihre Anthropozentrik ist nur der Schattenwurf der Folgerungen, die Paulus aus seiner Präexistenzaussage zieht; denn:

Wir haben nur einen Gott, den Vater, aus dem alles ist und für den wir sind, und nur den einen Herrn Jesus Christus, durch den alles wurde, und durch den auch wir sind (1Kor 8, 6)44.

Wenn Paulus nach Ansicht Jürgen Beckers den Gedankensplitter der „Schöpfungsmittlerschaft Christi“ selbst auch nicht auswertete, geschah dies umso nachdrücklicher in seiner Schule, die in Christus „alles geschaffen“ sieht und dies mit der These begründet:

Er ist vor allem und das All hat in ihm Bestand (Kol 1, 17).

In diesem kosmisch geweiteten Spiegel kommt nun aber definitiv das Zentrum des paulinischen Denkens zum Vorschein: Christus, der für ihn gleicherweise der Grund seiner Selbstfindung wie seines Menschenbilds und seines Weltbegriffs ist. Mit dem, was ihm ins Herz gesprochen wurde, erschloss sich ihm zugleich der Sinn des Menschseins wie der des gesamten Seins. In seiner Christologie reflektiert Paulus auf diesen „Ursprung seiner Theologie“ (Dietzfelbinger). In ihr spiegelt sich (nach 2Kor 3, 18) der, der ihm in seinem Ostererlebnis als das „Abbild Gottes“ erschienen war (2Kor 4, 4) und sich nun als der leibhaftige Sinngrund allen Seins darstellt. Als Mensch aber war er in Mitleidenschaft mit der menschlichen Hinfälligkeit gezogen, und als Grund allen Geschehens hatte er selbst eine Geschichte, beginnend mit seiner Geburt aus einer Frau (Gal 4, 4) und sich vollendend auf einem Weg, der ihn durch Erniedrigung und Gehorsam bis zum Tod zur Erhöhung „über alle Namen“ führte (Phil 2, 6–11). Deshalb steht für Paulus in diesem Zentrum seiner Christologie das im Glanz der Auferstehung erstrahlende Kreuz, in dem ihm (nach Gal 6, 14) die Welt und er der Welt „gekreuzigt“ ist. Sosehr es ihm in seiner Vorzeit als Skandal erschienen war, entdeckt er nun in ihm als „Mitgekreuzigter“ (Gal 2, 19) den Inbegriff des Heils. Damit wandelt sich seine Christologie in Soteriologie, die das durch den Kreuzestod bewirkte Heil in seiner Bedeutungsvielfalt aufscheinen lässt.

Für den den Zwängen einer Gesetzesfrömmigkeit Entrissenen besagt dieses Heil in erster Linie Freiheit (Gal 5, 1), dies jedoch nicht so sehr im Sinn der Emanzipation als vielmehr der Freisetzung zu einem neuen Gottes- und Selbstverhältnis. Heil bedeutet für Paulus, dass die Entfremdung von Gott (Röm 1, 21) durch die Versöhnung mit ihm (2Kor 5, 19f.) überwunden und dass die Entfremdung des Menschen von sich selbst (Röm 7, 15–23) in den Selbstbesitz der Gotteskindschaft aufgehoben wird (Gal 3, 26; Phil 2, 15). Darin besteht dann auch die dem Heil entstammende „Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung“ (1Kor 1, 30). Für den „allen alles“ gewordenen Paulus (9, 22) ist das alles nur als Zuwendung an alle denkbar, sodass sich seine Soteriologie spontan in seine Ekklesiologie fortsetzt. Da seiner Überzeugung nach keiner für sich selber lebt und stirbt (Röm 14, 7), ist das von Christus gewirkte Heil umfassend wie er selbst, sodass es alle, die sich ihm zuwenden, zu einer universalen Lebensgemeinschaft zusammenschließt.

Im Sinn der wiederholt mitgeteilten Präexistenzaussage (1Kor 8, 6) erstreckt sich die Wirkung der Heilstat Christi aber nicht nur auf die von ihm gestiftete Gemeinschaft, sondern über sie hinaus auf Anfang und Ende der Welt. Denn durch seine Auferstehung ist der Schöpfungsakt aufs Neue ins Werk gesetzt, und jetzt zu dem Ziel, die dem Dasein eingestiftete Kreatürlichkeit in ein genealogisches Verhältnis zu überholen und die Welt, wenngleich unter Wehen und Tränen, dem Status der universalen Gotteskindschaft entgegenzuführen (Röm 8, 18–23)45.

Dem Grundzug dieser Protologie und Eschatologie entspricht schließlich auch die Ethik und Mystik des Apostels. Die Ethik, weil auch sie mit ihrer vom Römerbrief gebotenen Spitzenaussage darauf abzielt, das Althergebrachte einer Strategie, die vom Bösen durch Direktiven, Gebote und Verbote abzuhalten sucht, durch eine Immunisierungsstrategie zu überholen. Wie der Schlusssatz der – durch den zweifellos unpaulinischen staatstheoretischen Einschub (Röm 13, 1–7) unterbrochenen – Römerstelle (12, 9–21; 13, 8ff.) deutlich macht, erreicht das innovatorische Konzept des Apostels sein Ziel durch die Einstiftung eines Prinzips, das zum Bösen unfähig macht, des Prinzips Liebe; denn:

Die Liebe fügt dem Nächsten nichts Böses zu; die Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes (Röm 13, 10).

Die Liebe, jetzt aber in ihrer in Christus personifizierten Gestalt, ist aber auch das Prinzip der paulinischen Mystik, die, wie die zu Unrecht verdrängte, durch Deissmann, Schweitzer und Wikenhauser repräsentierte ältere Paulusforschung nachwies, auf zwei Säulen ruht: auf der Identifikationsformel „Christus in mir“ und der „Umgreifungsformel“ „in Christus“, die ihre ekklesiologische Konkretisierung in der Vorstellung vom mystischen Leib Christi erfuhr46. Wenn Paulus schon in seiner Christologie auf sein Damaskuserlebnis reflektierte, dann erst recht in seiner Mystik. Denn das dreifache – akustische, optische und haptische – Osterzeugnis konvergiert in dem Satz:

Ich lebe, doch nicht ich – Christus lebt in mir (Gal 2, 20).

Umgekehrt wirkt seine Mystik wie eine Extrapolation dieser Identitätsfindung in dem, der ihm zugesprochen und schaubar geworden war und von dem er sich überwältigt und ergriffen wusste. Sie hat ihr Zentrum im Motiv der Einwohnung Christi, das ebenso von der Paulusschule (Eph 3, 17) wie vom Johannesevangelium (Joh 14, 23; 15, 4.7) aufgegriffen und in der Spiritualität der Folgezeit, insbesondere aber in der patristischen, mittelalterlichen und neuzeitlichen Mystik vertieft und entfaltet wurde, unter dem Eindruck der ideologisierenden Tendenzen der Neuscholastik dann aber in Vergessenheit geriet (Söhngen)47. Wenn aber Karl Rahner mit seiner Prognose Recht behält, dass der Christ der Zukunft ein Mystiker oder „überhaupt nicht“ sein werde, ist die Stunde der Wiederentdeckung dieses „vergessenen Gegenstands“ angesagt. Und das schon deshalb, weil sich im Zentrum der für die gegenwärtige Spiritualität signifikanten glaubensgeschichtlichen Wende eine Kehre vom Gegenstands- zum Identitätsglauben abzeichnet48.

Paulus

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