Читать книгу Paulus - Eugen Biser - Страница 18
Die Aneignung
ОглавлениеWenn die Vorstellung einer Selbstsetzung im Sinne Fichtes abgewehrt werden soll, muss der Prozess der „Besitzergreifung“ verdeutlicht und damit gezeigt werden, wie es bei Paulus zur Aneignung des ihm eingesenkten Schatzes kommt. Sein Weg dazu ist, erstaunlich für den von Gott erwählten und ins Einvernehmen mit sich gezogenen Osterzeugen, der des Glaubens. Denn Paulus ist in deren Reihe auch in dem Sinn „der Letzte“ (1Kor 15, 8), dass er sich als Zeuge zugleich auf die Seite derer stellt, die auf sein Wort hin zum Glauben kommen. Soweit sie, wie er selbst, dem Judentum entstammen, unterstehen sie der Gesetzesforderung, die ihnen bisher als einziger Heilsweg erschien. Soweit sie aus der Heidenwelt kommen, erlagen sie bisher der Faszination des Polytheismus, sodass sie sich förmlich „zu den stummen Götzen fortreißen“ ließen (1Kor 12, 2). Beiden kommt Paulus zu Hilfe: den Heiden, indem er ihnen Fühlung mit seinem von Christus ergriffenen Herzen gewährt; den Juden, sofern er mit ihnen das Glück seines Freiheitserlebnisses (Gal 5, 1) zu teilen sucht. In beiden Fällen vor allem aber dadurch, dass er sie, soweit das nur angeht, zum Mitvollzug seiner Lebenswende bewegt. Den einen wie den andern soll klar werden, dass ihnen in seiner Botschaft der entgegentritt, der ihrem Leben allererst Sinn und Form verleiht: Sinn, sofern er ihnen zum Lebensinhalt wird und dadurch zum vollen Selbstgewinn verhilft; Form, sofern dieser Gewinn zugleich größte Verantwortung impliziert, die sie zu einem Leben im Dienst dessen verpflichtet, der von ihnen nach dem Vorgang des Zeugen Besitz ergriffen hat.
Was Paulus damit fordert, ist der Glaube. Indessen könnte er diese Forderung nicht erheben, wenn er sich ihr nicht zugleich selbst unterwerfen würde. Das verleiht seinen Aussagen über den Glauben eine unverkennbare Rückbezüglichkeit. Er fordert, was er sich zunächst – und zugleich – selbst abverlangt. In der vermutlich auf eine urchristliche Taufformel zurückgehenden Zentralstelle über den Glauben, die zudem durch ihre chiastische Gestaltung besonders hervorgehoben ist (Röm 10, 6–9), spielt der Apostel zunächst auf ein Pentateuchtargum an, das die Synagogenbesucher auffordert, das Wort der Tora nicht von Himmel herabzuholen, sondern von seiner Verkündigung im Lehrhaus zu erwarten, um die Stelle dann für den Glauben an Christus in Anspruch zu nehmen:
Die dem Glauben entstammende Gerechtigkeit spricht: Sag nicht in deinem Herzen: „wer wird zum Himmel aufsteigen?“ – um Christus von dort herabzuholen. Oder: „wer wird in den Abgrund hinabsteigen?“ – um Christus von den Toten heraufzuholen. Spricht sie nicht vielmehr: Nah ist dir das Wort; es ist in deinem Mund und in deinem Herzen – das Wort des Lebens, das wir verkünden? (Röm 10, 6ff.)90.
Das klingt wie ein Selbstgespräch des Apostels mit dem biblischen Wort. Er hatte es nicht nötig, den von ihm zunächst Bekämpften (Apg 9, 4) zur Idee zu sublimieren, um sich dann mit ihm vereinbaren zu können. Und erst recht bestand für ihn kein Anlass, Christus wie einen Gewesenen aus dem Abgrund der Vergangenheit oder gar aus dem Totenreich heraufzuholen. Denn von Christus gibt es im Grunde, wie Kierkegaard betont, kein historisches Wissen, da dieses den, der nie zu einem Vergangenen werden kann, in die Vergangenheit herabdrängen würde. In seinem Fall sind die Folgen seines Lebens, anders als im Fall der meisten Großen, niemals wichtiger als dieses selbst91. Zu ihm verschafft daher nur der Glaube den angemessenen Zugang, da ihn dieser in seiner Gleichzeitigkeit wahrnimmt; denn „nur das Gleichzeitige ist Wirklichkeit für mich“92. In dieser überwältigenden Präsenz erfuhr Paulus Christus, den er sich deswegen nicht erst zu vergegenwärtigen brauchte, und dessen im Glauben erfasste Gegenwart er dann doch zugleich als Alternative zu dem erfuhr, der dem Wissen ein in die Geschichte Abgesunkener blieb. So gesehen rührt Paulus hier an das – für ihn selbst gelöste, für seine Adressaten aber akute – Problem, das Kierkegaards „Einübung im Christentum“ als Leitgedanke beherrscht und das Lessing mit seiner Klage über den „garstigen breiten Graben“ des zwischen dem historischen Jesus und den nachgeborenen Christen klaffenden Zeitenabstands aufgeworfen hatte93. Für seine Adressaten überwand Paulus den frustrierenden Zeitenabstand, indem er sie in sein gleichzeitiges Erleben mit hineinnahm, aber auch, indem er, stellvertretend für sie, an das, was ihm zugesprochen worden war, glaubte und das Einmalige damit in bleibenden Inbesitz verwandelte. Erst vor diesem Hintergrund wird seine an die Motivworte „Mund“ und „Herz“ anknüpfende Glaubensaussage verständlich:
Wenn du mit deinem Mund Jesus als den Herrn bekennst, und in deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat, erlangst du das Heil. Denn mit dem Herzen glaubt man zur Gerechtigkeit, und mit dem Mund bekennt man zum Heil (Röm 10, 9)94.
Wenn Paulus das „Herzstück“ des Glaubensaktes mit der Zustimmung zur Auferstehung Jesu gleichsetzt, bezieht er ihn in aller Form auf den Zentralinhalt seines Damaskuserlebnisses. Wie ihm damals der Gekreuzigte als der durch Gott erweckte „Sohn“ geoffenbart wurde, so steht für ihn die Auferstehung des Gekreuzigten auch im Zentrum des heilstiftenden Glaubensaktes. Damit interpretiert – und legitimiert – Paulus den Glaubensakt grundsätzlich im Sinn seines Osterzeugnisses. Wer seiner Vorgabe zufolge glaubt, begründet sich nicht nur auf die Gottestat, die den Gekreuzigten zu neuem Leben erweckte; vielmehr steht er auch, ohne dadurch einem Zirkelschluss zu verfallen, für sie ein. Denn nicht er trägt den Glauben, sondern der Glaube trägt ihn. Glaubend begründet er sich auf jene „Neuschöpfung“ der Welt (2Kor 5, 17), die sich in und mit der Auferweckung des Gekreuzigten ereignete. So wird er in abkünftigem Sinn, was Paulus auf primordiale Weise ist: zum Osterzeugen.
Bestätigt wird diese Herleitung dadurch, dass sich von ihr her der überraschende Vordersatz erklärt. Denn noch vor der Inhaltsbestimmung sprach Paulus von der Bekenntnispflicht der Glaubenden. So aber entsprach es vollauf der mit der an ihn ergangenen Offenbarung des Gottessohns (nach Gal 1, 16) einhergehenden Verpflichtung, „die Frohbotschaft von ihm unter den Heiden zu verkünden“. Um den Bekehrten die Dringlichkeit der mit ihrem Glauben verbundenen Verpflichtung vor Augen zu führen, musste von ihr noch vor der Inhaltsangabe die Rede sein. Denn auch von ihnen galt, was Paulus mit dem an den kartesianischen Cogito-Satz erinnernden Grundsatz umschreibt:
Ich glaube, darum rede ich (2Kor 4, 13).
Der Glaube verlieh ihnen eine neue Mündigkeit. Der Bann der Sprachlosigkeit, dem sie zusammen mit den „stummen Götzen“ verfallen waren, war gebrochen, ihre Zunge war gelöst, sodass sie von dem, was ihr Herz erfüllte, reden konnten (Lk 6, 45).
Ist das aber nicht doch der Absturz in jene „Talsenkung“, in die sich Martin Buber versetzt fühlt, wenn er diese Glaubensweise mit der des jüdischen emuna-Glaubens vergleicht, der seinen Halt nicht in definierenden Sätzen, sondern in der tragenden Gotteswirklichkeit sucht und findet?95 Sosehr der Wortlaut dafür zu sprechen scheint, führt von der Paulusstelle doch, entgegen der Annahme Bubers, kein Weg zu den erst mit Hilfe des griechischen Wesensdenkens zustande gekommenen Glaubenssätzen „im Sinn des christlichen Dogmas“96. Was für Paulus im Zentrum des Glaubensaktes stand, war vielmehr eine Spiegelung (2Kor 3, 18) dessen, was ihm vor Damaskus widerfahren war und für ihn dessen Grundbestand ausmachte97. Diese Selbstbegründung in der Wirklichkeit Christi erfüllte vollauf die von Buber als einzig richtige anerkannte Glaubensform der emuna, nur mit dem Unterschied, dass der Auferstandene den Glaubenden an sich zog und damit die Mittlerschaft zu Gott übernahm. Strukturell aber entsprach das ganz der Verankerung in der Gotteswirklichkeit, in der Buber die Grundform des von Jesus geteilten Glaubens der Propheten ausmachte98.
Paulus überrascht aber in diesem Zusammenhang dadurch, dass er Gleichsinniges auch vom Gebet sagt und dadurch der üblichen Distanzierung des Glaubens als Verstandesakt vom Gebet als „Erhebung des Herzens“ widerspricht. Für ihn besteht zwischen beiden ein Verweisungszusammenhang, sodass das Gebet als Anbahnung des Glaubens und dieser als Krönung des Gebets zu gelten hat. Bei aller Gegnerschaft stimmt ihm Buber darin zu. Denn für ihn ist das Gebet – und damit überträgt er das emuna-Motiv in das neutestamentliche Bild von dem durch die rettende Heilandshand dem Todesabgrund entrissenen Petrus (Mt 14, 30f.) – die nach Gott ausgestreckte Hand und als solches die Bitte, dass Gott „sie halte“99. Dabei macht er sich, erstaunlicher noch, die der Bach-Motette ‘Der Geist hilft unserer Schwachheit auf’ zugrunde liegende Paulusstelle (Röm 8, 26) zu Eigen, die er mit den Worten paraphrasiert, dass sie von einem Menschen berichte,
der zuweilen nicht zu beten weiß, „wie es sich ziemt“ und dem in dieser seiner Not widerfährt, dass der Geist über ihn kommt, „für ihn eintritt“ und nicht mehr in geordneter Wortfolge, sondern „in unaussprechlichen Seufzern“ redet, ein Göttliches zu Gott100.
Wenn Paulus im Angang zu der Stelle versichert „wir wissen nicht, um was wir beten sollen, wie sich’s gebührt“, verweist er alle gängigen Motive wie die Bitte um Hilfe in den Notlagen des von Unglück, Krankheit und Einsamkeit bedrohten Menschenlebens in den Bereich der Anlässe, während er gleichzeitig zu verstehen gibt, dass es im Gebet um etwas ungleich Höheres geht, um Gott. Deshalb hat das um die Fühlung der Gotteswirklichkeit und die Verankerung in ihr ringende Gebet für ihn die Qualität eines mit der ganzen Existenz des Menschen geführten Gottesbeweises. Dabei nimmt Gott dem Anrufenden die Sache des Gebets aus der Hand, um sie in Gestalt des für ihn eintretenden Geistes zu der seinen zu machen. Seufzend stimmt der Geist in das Stammeln des Beters ein, damit es durch seinen Zuspruch dem erhörenden Gott verständlich werde. Zwar braucht Gott, wie Buber versichert, „nicht zu hören, um zu ‘erhören’“; doch will er, dass der Mensch sich an ihn wende101.
Das ist mehr, als was der Beter von seiner Anrufung Gottes jemals erhoffen konnte. Und doch ist es nach Bubers Interpretation des Gebets nicht genug. Denn in seiner ‘Gottesfinsternis’ erklärt er:
Gebet im prägnanten Sinn nennen wir jenes Sprechen des Menschen zu Gott, das, um was immer auch gebeten wird, letztlich die Bitte um Kundgabe der göttlichen Gegenwart, um das dialogische Spürbarwerden dieser Gegenwart ist102.
Das ist insofern eine doppelsinnige Auskunft, als sie zwischen Dialog und Fühlung schwankt. Wenn aber das Gebet die mit dem Herzen gestellte Gottesfrage ist, zielt es auf mehr als nur eine Fühlung ab. Denn mit dieser würde die Frage nur beschwichtigt, nicht aber beantwortet. Insofern geht es jedem Gebet letztlich um eine Antwort des von ihm angerufenen Gottes. Die aber kann es nur erlangen, wenn es sich dem Glauben übergibt, wenn sich also der Gebetsakt in einen Glaubensakt übersteigt. Erst damit wird klar, weshalb Paulus den Glauben zu einer Herzenssache erklärt und ihn damit, zumindest tendenziell, auf das Gebet zurückbezieht. Auf die Frage der Aneignung zurückbezogen, ergibt sich daraus, dass Paulus den „Zuspruch“ des Gottessohns (Gal 1, 16) dadurch als glücklicher Schatzgräber in seinen Besitz nimmt, dass er betet, und dass er die Aneigung seiner Botschaft durch seine Adressaten dadurch unterstützt, dass er, stellvertretend für sie, an das von ihm Verkündete glaubt. So entspricht es dem sprachtheoretischen Befund, dass nur das überzeugend zur Sprache gebracht werden kann, was sich der Sprecher zuvor selbst „gesagt sein lässt“. Das meint Paulus mit dem drastischen Bild, dass er seinen Leib „zerschlage“ und sich so seine Botschaft auf den Leib schreibe, um sie andern hilfreich und wirkungsvoll ausrichten zu können (1Kor 9, 26f.). Insofern ist seine Verkündigung sogar durch eine zweifache – betende und glaubende – Aneignung unterbaut. Doch wer war dieser vielfach torturierte Selbstquäler und dieser selbstvergessen Liebende und Dienende?