Читать книгу Tod in Winterthur - Eva Ashinze - Страница 11
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Die nächsten zwei Stunden verbrachte ich damit, Norah beim Schlafen zuzusehen, eine Kleinigkeit zu essen, unzählige Zigaretten zu rauchen und vor allem unruhig durch die Wohnung zu tigern – alles möglichst geräuschlos, um Norah nicht zu wecken. Sie sollte ruhig noch etwas schlafen, bevor sie sich der Wirklichkeit wieder stellen musste. Dann hielt ich es nicht mehr aus. Ich musste raus. Raus aus meinen vier Wänden, raus aus meinem gedanklichen Hamsterrad. Ausserdem hatte ich um halb vier einen Termin in der Kanzlei. Ich vergewisserte mich, dass Norah tief und fest schlief und begab mich ein Stockwerk tiefer zu Willy Morgenroth, meinem Nachbarn und Vermieter. Auf mein Klopfen hin öffnete niemand, also ging ich in den Garten. Bei schönem Wetter ist Willy oft dort anzutreffen. Charlie, sein junger Golden Retriever, lag unter einem Baum im Schatten und liess die Zunge baumeln. Willy hingegen, mit Strohhut und Leinenhemd, machte sich mit einer grossen Heckenschere an ein paar Büschen zu schaffen.
«Willy, sind Sie des Wahnsinns?», fragte ich. «Es ist zu heiss, um draussen zu arbeiten. Und erst noch an der prallen Sonne.»
Willy liess die Schere sinken und wandte sich mir zu. «Moira. Ich habe Sie nicht kommen hören.» Schweisstropfen standen ihm auf der Stirn, und sein Gesicht war gerötet. Diese Hitze war sicher nicht gut für den 75-jährigen Willy. Ich wollte mir um ihn nicht auch noch Sorgen machen müssen.
«Willy, das kann nicht gesund sein. Kommen Sie, machen Sie eine Pause.»
Willy zog ein grosses kariertes Taschentuch hervor und tupfte sich die Stirn ab. «Es ist tatsächlich warm heute», gab er zu. «Aber irgendwann muss ich das erledigen.»
«Irgendwann, aber nicht jetzt. Kommen Sie», sagte ich energisch, «ich habe eine andere Aufgabe für Sie.»
Willy schien froh zu sein, die Gartenarbeit für heute niederlegen zu können. Ohne gross nachzufragen folgte er mir ins kühle Innere des Hauses, Charlie ihm dicht auf den Fersen.
Ich bat Willy zu mir in die Wohnung und informierte ihn bei einem Glas kalten Wassers kurz über die Situation, den ermordeten Jan und die schlafende Norah.
«Wenn Sie ein Augen auf sie haben könnten?», bat ich Willy. «Nur für ein, zwei Stunden, bis ich wieder da bin. Es käme wohl nicht gut, wenn sie aufwacht und niemand ist da.»
«Wo denken Sie hin?» Willy war entsetzt. «Ich gehe mich kurz frisch machen, und dann werden Charlie und ich uns zu der jungen Dame setzen und auf sie aufpassen.»
«Willy, Sie sind ein Schatz», sagte ich.
Er winkte verlegen ab.
Die Anfänge unserer Bekanntschaft gehen zurück auf meinen Einzug in die Dachwohnung an der Rychenbergstrasse. Willy ist Besitzer des Hauses, und eine Klausel im Mietvertrag besagt, dass wir einmal im Monat zusammen zu Abend essen. Willy wollte von Anfang an vermeiden, dass zwischen uns lediglich ein anonymes Vermieter-Mieter-Verhältnis besteht. Nun, darum musste er sich keine Sorgen mehr machen. Aus den monatlichen Abendessen war nach und nach eine Freundschaft entstanden. Diese hatte sich seit dem Fall Maria Okeke intensiviert. Sie war intimer geworden. Ich wusste nun, dass ich Willy vertrauen konnte. Er würde mir zur Seite stehen, was auch geschah.
Meist wusste ich diese neue Vertrautheit in unserer Freundschaft zu schätzen, doch manchmal schreckte ich davor zurück. Ich war es nicht gewohnt, jemanden nahe an mich heranzulassen. Willy war da anders. Er war lange Jahre verheiratet gewesen und pflegte auch nach dem Tod seiner Frau alte Freundschaften, half hier und dort. Er liebte es, eine Aufgabe zu haben. Gebraucht zu werden. Er war auch immer Feuer und Flamme, wenn er mir bei einem meiner Fälle helfen konnte, und sei es nur mit einem guten Rat.
Ich liess ihn also guten Gewissens bei der schlafenden Norah zurück und machte mich zu Fuss auf in mein Büro, ich brauchte die Bewegung. Bereits nach dreihundert Metern bereute ich diese Entscheidung. Es war mittlerweile drei Uhr nachmittags, die Sonne brannte heiss vom Himmel, und meine Leinenbluse war nach wenigen Minuten durchgeschwitzt. Aber da musste ich nun durch. Es war zu spät zum Umkehren. Ich quälte mich den heissen Asphalt entlang und war froh um jedes Bäumchen, das ein wenig Schatten spendete. Sogar zum Rauchen war es mir zu heiss. Erleichtert betrat ich gut zehn Minuten später das Backsteingebäude an der Ecke Wülflingerstrasse/Schaffhauserstrasse, in dem sich mein Büro befindet. In der Eingangshalle passte mich Melvin, mein Büronachbar, ab.
«Du hast Besuch», flüsterte er und wies mit dem Kinn Richtung Küche, die auch unser Aufenthaltsraum ist. Seit einem Einbruch in mein Büro vor ein paar Monaten war Melvin etwas paranoid. In jedem Besucher sah er eine potentielle Gefahr und behielt ihn aufmerksam im Auge.
Erstaunt und wenig erfreut zog ich meine Augenbrauen hoch. Mandanten, die zu spät kommen, sind ein Ärgernis. Mandanten, die viel zu früh kommen, sind eine Unverschämtheit.
Ich schloss die Tür zu meinen Büroräumlichkeiten auf, setzte mich an meinen Schreibtisch und leerte eine Halbliterflasche Mineralwasser. Danach fühlte ich mich etwas besser. Etwas weniger erhitzt. Ich sass einen Moment lang da und überlegte, ob ich tatsächlich tun sollte, was ich zu tun gedachte. Ja, beschloss ich, ich sollte.
Ich zog ein Handy aus meiner Tasche. Norahs Handy. Während sie ihren Dornröschenschlaf schlief, hatte ich einen Blick in ihre Handtasche geworfen und es mitgehen lassen. Was natürlich grenzwertig war. Vom moralischen Standpunkt her. Was den rechtlichen Standpunkt betraf, da befand ich mich bereits voll und ganz in der Illegalität. Aber besondere Umstände verlangen nach besonderen Mitteln. Ich durchsuchte Norahs Handy, das glücklicherweise nicht durch einen Code gesichert war. Das hatte ich gehofft. Ich kenne viele, die ihre Handys nicht sichern. Denen es zu mühsam ist, erst einen Code eingeben zu müssen. Bei mir ist das nicht der Fall. Aber ich bin von Natur aus misstrauisch. Ich gehe bei allen grundsätzlich einmal vom Schlechtesten aus.
Ich sah mir die Liste mit den ein- und ausgehenden Anrufen der letzten Tage an. Es waren merkwürdig wenige. Norah schien ihre sozialen Kontakte auf jeden Fall nicht per Handy zu pflegen. Zwei Nummern waren am häufigsten aufgeführt. Eine Nummer gehörte zu Jan, die andere zu einer Rebecca. Ich wählte letztere. Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass es sich um Norahs engste Freundin handelte. Tägliche Telefonate führt man nicht mit der Putzfrau. Und wie ich in Erinnerung hatte, hatte Norah keine Geschwister.
Eine weibliche Stimme meldete sich am anderen Ende der Leitung. Ich hatte richtig gelegen. Rebecca war Norahs Freundin. Sie war erschüttert, als ich ihr die Neuigkeiten berichtete. Sie versprach, Norah am späteren Abend abzuholen und mit zu sich zu nehmen. Norah konnte vorerst bei Rebecca wohnen. Ich war erleichtert. Norah einen Tag lang bei mir aufzunehmen, war eine Sache. Sie über einen längeren Zeitraum in meiner Wohnung zu haben eine vollkommen andere. Dafür wäre die grösste Wohnung zu klein. Ich brauche das Alleinsein. Die Einsamkeit.
Ausserdem war Norah für mich eine Fremde. Klar, sie war mit meiner Schwester befreundet gewesen. Aber das war lange her, und ich hatte sie nie gut gekannt. Ich nahm an, sie wollte mich als Anwältin mandatieren. Weswegen sonst hatte sie mich am Morgen anrufen lassen? Vielleicht würde ich als ihre Anwältin Ansprüche gegen Jans Mörder geltend machen müssen. Vielleicht würde ich als ihre Anwältin aber das bestmögliche Strafmass für sie als Mörderin von Jan herausschlagen müssen. Das war ein unwahrscheinliches Szenario, aber ich musste alles in Betracht ziehen. Ich wusste nicht, was die nächsten Tage brachten. Welche Beweise, Indizien oder Ergebnisse schliesslich vorliegen würden. Deswegen war es besser, ich liess mich nicht zu stark auf Norah ein. Deswegen war es besser, ich hielt eine gewisse Distanz.
Ich schaltete Norahs Handy aus und verstaute es wieder in meiner Tasche. Zuvor hatte ich einen kurzen Blick auf ihre neusten Mails, SMS und WhatsApp Nachrichten geworfen. Ich kam mir schäbig vor, aber wo ich das Handy schon mal hatte, wollte ich die Gelegenheit nutzen. Es gab weder im Posteingang noch bei den Textmitteilungen etwas Auffälliges; kein Mordkomplott war per Mail geschmiedet, kein reumütiges Geständnis per SMS an eine Freundin versandt worden. Auffällig war höchstens, dass Norah sehr wenige Mails und Nachrichten versandte beziehungsweise erhielt. Mit Rebecca hatte sie ab und zu gesimst und auch mit einigen anderen, aber immer ziemlich unverbindlich. Abmachungen zum Pilates und solches Zeugs. Die Mails bestanden zur Hauptsache aus Werbekram. Norah nutzte die sozialen Medien noch weniger ich. Aber es passte zu den spärlichen Telefonaten. Norah schien ein ziemlich einsamer Mensch zu sein, das war die Erkenntnis, die der schnelle Blick in ihr Handy mir lieferte.
Ich stand auf, um mich um meinen Mandanten zu kümmern, der noch immer in der Küche auf mich wartete.