Читать книгу Tod in Winterthur - Eva Ashinze - Страница 12
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Der Mann erhob sich, als ich die Küche betrat. Mein Halb-vier-Uhr-Termin war er definitiv nicht. Ich hatte ihn noch nie gesehen.
«Frau van der Meer?», fragte er. «Moira van der Meer?»
Ich antwortete nicht. Spontane Besuche von potentiellen Klienten kann ich nicht ausstehen. Ich führe schliesslich kein Reisebüro, sondern eine Anwaltskanzlei. Ich musterte den Mann. Er war gross und früher wohl schlank gewesen, doch nun hatte er einen unübersehbaren Bauch und wirkte auch sonst irgendwie massig. Aufgeschwemmt. Auf seinem rosigen Schädel wuchs flaumiges blondes Haar, und seine Augen waren hellblau, das Weisse rot geädert. Instinktiv verspürte ich Abneigung dem Unbekannten gegenüber. Ich mochte ihn nicht.
«Ich bin Paul Petersen», sagte er. Er sah mich an, als müsste mir das etwas sagen. Als müsste ich Bescheid wissen. «Jan Krügers Partner. Geschäftspartner», fuhr er auf mein Schweigen hin fort.
Ich atmete ein. Ich konnte Alkohol riechen. Paul Petersen hatte in den letzten Stunden offensichtlich getrunken. Es schien ihm nicht gut zu gehen.
«Es tut mir leid wegen Jan», sagte ich.
Er antwortete nicht. Statt dessen zog er ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich die Nase. Auch eine Möglichkeit, seine Gefühle zu zeigen. «Kann ich mit Ihnen reden?», fragte Paul.
Eine etwas merkwürdige Frage. Weswegen war er sonst hierhergekommen? «Deswegen sind Sie hier, nehme ich an», entgegnete ich. Ich führte ihn in mein Besprechungszimmer. Wir sassen uns gegenüber.
Paul schwieg.
«Also», hakte ich schliesslich ungeduldig nach. Ich wollte meinen nächsten Mandanten nicht unnötig lange warten lassen.
«Jan wurde ermordet», sagte Paul.
Ach was. Das waren ja Neuigkeiten. «Ich weiss», sagte ich lapidar. Wieder herrschte Schweigen. «Sind Sie deswegen hier?», fragte ich. Diese Unterhaltung strengte mich an, obwohl sie gar noch nicht richtig begonnen hatte.
Paul starrte vor sich hin. «Ich habe Jan gesehen. Heute Morgen. Wir hatten ein Meeting mit einem wichtigen Klienten. Vorher wollten wir bei ihm zu Hause noch zwei, drei Details besprechen.»
Ich hatte gewusst, dass Jan einen Geschäftspartner hatte. Ich hatte ihn mir nur anders vorgestellt. Etwas weniger vierschrötig vielleicht. Aber der erste Eindruck kann natürlich täuschen. Wahrscheinlich hatte Paul ebenfalls Kunstgeschichte studiert und mit summa cum laude abgeschlossen.
«Weshalb?»
«Weshalb was?» Paul sah mich erstaunt an.
«Weshalb wollten Sie bei Jan zu Hause geschäftliche Dinge besprechen? Weshalb nicht im Büro?»
Als ich mich mit Jan beruflich unterhalten hatten, war das in einem Zweihundert-Quadratmeter-Loft im Sulzerareal passiert, das eher Ähnlichkeiten mit einer Galerie hatte denn mit einem simplen Büro.
«Mal so, mal so. Jan hat in letzter Zeit lieber von zu Hause aus gearbeitet. Er ist vielleicht zweimal die Woche im Geschäft aufgetaucht.» Er sah mich an. «Ist das wichtig?»
Ich zuckte die Achseln. «Vielleicht. Vielleicht auch nicht.»
Paul sah etwas irritiert aus.
Mir kam ein Gedanke: «In letzter Zeit, sagten Sie, arbeitete Jan lieber von zu Hause aus. Seit wann?»
Paul zuckte die Schultern. «Ich weiss nicht genau. Seit ein paar Monaten. Ein halbes Jahr vielleicht.» Er sah an mir vorbei.
«Und Sie haben keine Ahnung, weshalb das so war?»
Paul schüttelte den Kopf. Er sah irgendwie verlegen aus. Definitiv nicht wie jemand, der die Wahrheit sagt.
Ich liess es auf sich beruhen. «Fahren Sie fort», sagte ich. «Sie wollten also heute Morgen zu Jan.»
«Genau. Ich wollte zu Jan. Schon von Weitem habe ich die ganzen Leute gesehen, die Polizisten, die Gaffer. Als ich aus dem Auto ausgestiegen bin, haben sie ihn gerade abtransportiert.» Er tastete seine Hemdtasche ab und zog ein Päckchen Zigaretten hervor. «Darf ich?»
Ich nickte, schob ihm einen Aschenbecher hin und öffnete das Fenster.
«Sie auch?» Er hielt mir das Päckchen hin.
Warum nicht? Mir ist so gut wie jede Gelegenheit zum Rauchen willkommen.
Paul zündete erst mir und dann sich selbst die Zigarette an. Nach einigen Zügen fuhr er mit seiner Schilderung fort. «Ich habe erst gar nicht begriffen, worum es geht. Als die Bahre rausgetragen wurde, dachte ich, es sei ein Unfall passiert. Ich dachte, es sei sie, die da liegt, Norah! Ich wollte rein zu Jan. Die Polizisten haben mich zurückgehalten. Und dann habe ich erfahren, was geschehen ist. Dass Jan tot sei. Ermordet. Erschossen.» Paul nahm sichtlich bewegt einen letzten Zug und drückte seine Zigarette aus. Die Erinnerung machte ihm zu schaffen.
Ich liess ihm Zeit, um sich zu sammeln. «Was wollen Sie von mir?», fragte ich dann.
«Jan hat Sie oft erwähnt», sagte Paul. «Er hat oft von Ihnen gesprochen. ‹Wenn du Probleme hast, dann such Moira van der Meer auf›, hat er gesagt. ‹Sie kann dir helfen.›»
«Und?», fragte ich und drückte meine Zigarette aus. «Haben Sie Probleme?» Ich hatte noch immer keinen blassen Schimmer, weswegen Paul Petersen hier war.
Paul starrte mich an. «Ich weiss, wer es getan hat», stiess er schliesslich hervor. «Ich glaube, sie war es. Norah.» Er fing an zu weinen. Dieser massige Mann sass in meinem Besprechungszimmer und weinte.
«Glauben Sie oder wissen Sie?»
Er zuckte mit den Schultern. Also glaubte er.
«Weswegen verdächtigen Sie Norah?», fragte ich.
Er hörte schlagartig auf zu weinen und sah mich an. «Das liegt auf der Hand», sagte er. «Sie bekommt jetzt alles.»
Ich schwieg. Meiner Meinung nach wird Geld als Mordmotiv überschätzt, von Raubmord einmal abgesehen. Es gibt andere, stärkere Beweggründe: Liebe, Eifersucht. Neid. Macht. Angst. Pauls Theorie überzeugte mich nicht. Ausserdem sah Norah nicht aus, als würde es ihr an Geld mangeln. Jan war schon immer grosszügig gewesen.
«Ich weiss noch immer nicht, was Sie von mir wollen», sagte ich. «Mit Ihrem Verdacht sind Sie bei der Polizei besser aufgehoben als bei mir.» Ich stiess meinen Stuhl zurück und erhob mich halb. Es war Zeit, dieses Gespräch zu beenden. Paul hatte mir mitgeteilt, was er mir hatte mitteilen wollen. Er führte irgendetwas im Schilde. Ich wusste nur nicht was.
Paul machte keine Anstalten aufzustehen. «Sie verstehen nicht», sagte er. «Jan war reich. Er hat ein Vermögen verdient.»
Ich reagierte nicht.
«Jan und Norah hatten so ihre Schwierigkeiten», fuhr Paul fort.
«Wer hat die nicht?»
«Es ging anscheinend über das übliche Mass hinaus.»
«Ich habe verstanden, worauf Sie hinauswollen. Aber was wollen Sie von mir?»
«Ich wollte nur, dass Sie das wissen. Das ist alles. Sie sollten es wissen.» Nun erhob Paul sich endlich.
Ich führte ihn zur Tür und verabschiedete ihn, ohne ihm die Hand zu geben. Er war mir zuwider. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Seine Trauer schien mir plötzlich nur gespielt.
Auf halbem Weg hinaus drehte Paul sich um. «Das mit Jan tut mir auch echt leid für Sie. Waren Sie nicht einmal zusammen?»
Ich spürte seinen lauernden Blick auf mir. «Wir waren befreundet», sagte ich, schloss die Tür und lehnte mich dagegen. Ich dachte über Paul nach. Über Norah. Und über Jan. Meine Gedanken gefielen mir gar nicht. Ich setzte mich an den Tisch, zündete eine weitere Zigarette an und sah auf die Uhr. Kurz vor vier. Zeit, mich meinem Mandanten zu widmen. Er sass vermutlich in der Küche und wartete.