Читать книгу Tod in Winterthur - Eva Ashinze - Страница 7

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Ich lernte Jan in einer regnerischen Freitagnacht kennen. Ich war mit einer Studienkollegin quer durch Zürichs Ausgehlokale gezogen, und schliesslich landeten wir in einer kleinen Bar am Kreuzplatz, unweit von meiner damaligen Studentenbude, einer wenig heimeligen Einzimmerwohnung an der Asylstrasse. Die Bar gibt es schon längst nicht mehr, das ganze Gebäude ist abgerissen worden. Damals war sie mein zweites, gemütlicheres Zuhause. In dieser Freitagnacht, es musste kurz vor Mitternacht gewesen sein, war die Bar spärlich besucht. Ich sass mit meiner Freundin an einem Tisch in der Mitte, Jan mit zwei Bekannten am Tisch vor unserem. Er warf mir immer wieder verstohlene Blicke zu, aber wenn ich ihn dabei ertappte, schaute er schnell woanders hin. So was passierte mir damals oft. Es war keine Seltenheit, dass mir ein Wildfremder in einem schummrigen Lokal verstohlene Blicke zuwarf. Meine Haut mit der Farbe von Milchkaffee, meine langen Beine und meine grünen Augen schienen die Männern unwiderstehlich anzuziehen. Trotzdem war es diesmal anders. Es war besonders. Vielleicht lag es an seinen stahlblauen Augen, die in seltsamem Kontrast zu seinem schmächtigen Körper standen. Vielleicht lag es an seinem flüchtigen, schüchternen Lächeln.

Irgendwann fasste er sich ein Herz und prostete mir mit seinem Bierglas zu. Ich sah, welche Überwindung ihn dies kostete. Das musste belohnt werden. Ich sagte zu meiner Freundin, ich sei gleich wieder da, stand auf und ging auf ihn zu. Seine Augen weiteten sich ungläubig.

«Ich bin Moira», sagte ich und streckte ihm die Hand entgegen.

«Ich bin Jan», sagte er und schüttelte meine Hand. Er sah mich lange an. «Du bist schön», sagte er.

«Ich weiss», antwortete ich. Dann setzte ich mich neben ihn. Wir unterhielten uns. Wir sprachen über das Studium – er studierte Kunstgeschichte, ich Rechtswissenschaften. Wir sprachen über Kunst, über Bücher und vor allem über uns selbst. Jan war klug. Irgendwann verabschiedete sich meine Kollegin und auch seine Bekannten gingen ihres Weges. Irgendwann kam der Inhaber der Bar und kündigte die Schliessung an.

Für den Weg von der Bar zu mir nach Hause benötigten wir über eine Stunde. Wir waren klatschnass vom Regen, spürten aber weder Nässe noch Kälte. Danach waren Jan und ich für ein paar Monate zusammen.

Dann brach ich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion meine Zelte in Zürich ab. Ich verfrachtete meinen ganzen Krempel in das Haus meiner Mutter an der Seidenstrasse in Winterthur und bereiste für einige Monate die USA. Ich lebte in San Francisco und arbeitete illegal in einer Sandwichbude, Seite an Seite mit chinesischen Immigranten. Es zog mich nach Las Vegas und schliesslich ins Death Valley. Ich schien nach etwas zu suchen, was ich verloren hatte. Etwas, von dem ich selbst nicht wusste, was es war. Natürlich fand ich es nicht. Ich fand nicht einmal zu mir selbst. Meine Reise war vergeblich gewesen. Es schien, als hätte sie einem einzigen Zweck gedient: Jan zu entkommen. Jans Liebe zu entkommen. Liebe kann sanft sein und erbauend. Liebe kann dem Liebenden aber auch den freien Willen nehmen. Ihm das Gefühl geben, im freien Fall zu sein ohne Aussicht auf eine sanfte Landung. Ich schien Liebe nicht gut zu ertragen. Vielleicht, weil ich sie nicht gewohnt war.

Ich hätte Jan im Voraus informieren können. Ich hätte ihn anrufen können. Oder ihm einen Brief schreiben. Ich tat nichts davon. Als ich irgendwann in die Schweiz zurückkehrte und mein Studium wieder aufnahm, war Jan neu liiert. Ich gönnte es ihm. Ich freute mich für ihn. Ehrlich. Ich zog in eine Wohngemeinschaft in Winterthur und fuhr da fort, wo ich vor Jan aufgehört hatte: Ich arbeitete daran, mich Stück für Stück in meine Einzelteile zu zerlegen. Wobei Alkohol keine unerhebliche Rolle spielte. Das war vor fünfzehn Jahren. Ich war damals fünfundzwanzig Jahre alt.

Ein paar Jahre später traf ich Jan zufällig im Salzhaus. Er trug noch immer enge Jeans und ein weisses Hemd, wie ehedem. Wir waren beide gekommen, um eine Band zu sehen, Element of Crime. Vor Beginn des Konzerts standen wir an der Bar und unterhielten uns über Belanglosigkeiten. Unser Gespräch war angestrengt, die frühere Vertrautheit war uns abhandengekommen. Jan hatte mir das abrupte Ende unserer Beziehung noch immer nicht verziehen. Nach wenigen Minuten betrat Norah das Salzhaus. Ich kannte sie von früher, sie war eine Freundin meiner Schwester gewesen. Sie kam vom Eingang her auf uns zu, gross und schlank und blond, ein Hingucker.

«Moira», sagte sie und nahm meine Hand. «Ich habe dich von Weitem erkannt. Es ist eine Ewigkeit her.» Sie musterte mich. «Wie geht es dir, Moira?»

«Gut», sagte ich. «Es geht mir gut, Norah.» Dann stellte ich ihr Jan vor. Ich konnte es in ihren Gesichtern, in ihren Blicken sehen, bevor sie selbst es wussten. Ich liess die beiden allein. Ein Jahr später waren sie verheiratet. Seither habe ich die beiden kaum noch getroffen.

Tod in Winterthur

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