Читать книгу Tod in Winterthur - Eva Ashinze - Страница 6
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«Sie wollen was?» Ich glaubte, mich verhört zu haben.
«Ich möchte, dass Sie meine Eizellen finden.» Die Frau mir gegenüber sah mich gelassen an. So, als sprächen wir über das Wetter. Über Klatsch und Tratsch aus den europäischen Königshäusern. Über irgendetwas Alltägliches. Aber sicher nicht über Eizellen. Verschwundene Eizellen. Sie schien zu spüren, dass ich der Angelegenheit skeptisch gegenüberstand.
«Hören Sie sich unsere Geschichte erst einmal an», sagte sie. Sie beugte sich vor, und ihr runder Bauch stiess beinahe an die Tischkante. «Bitte. Und danach entscheiden Sie, ob Sie den Auftrag übernehmen wollen.»
Claire Corazolla hatte per Mail um einen Termin bei mir in der Kanzlei ersucht. Sie hatte geschrieben, es handle sich um eine delikate Angelegenheit, die sie und ihr Mann gerne persönlich mit mir besprechen würden. Claire war eine feingliedrige, elegante und offensichtlich schwangere Blondine um die Vierzig. Sie trug dezente, aber teure Kleidung, am Ringfinger ihrer schmalen Hand funkelte ein grosser Diamant und entsprechende Pendants zierten die Ohrläppchen. Ihr Mann, ein grosser schlanker Mittfünfziger, war ebenso gediegen gekleidet, und sein Teint liess darauf schliessen, dass er zahllose Stunden draussen verbrachte, vermutlich auf dem Golfplatz. Herr und Frau Corazolla mussten sich verlaufen haben. Solche Klienten waren üblicherweise in den grossen Anwaltskanzleien auf der anderen Seite des Hauptbahnhofs von Winterthur zu finden. Auf der sonnigen Seite. In meinen Räumlichkeiten gingen mittellose Alleinerziehende ein und aus, die um Alimente kämpften, Kleinkriminelle und auch grössere Kriminelle in der Hoffnung, ich könnte sie vor dem Gefängnis bewahren, und Asylanten, die abgeschoben werden sollten. Meine Kanzlei war die letzte Anlaufstelle für die mittellosen Hoffnungslosen. Mandanten wie die Corazollas, Mandanten mit Geld, die waren hier äusserst rar gesät.
«Sie wurden uns wärmstens empfohlen, Frau van der Meer», fuhr Claire Corazolla fort. «Man hat uns gesagt, Sie seien die Beste. Niemand würde so für seine Mandanten kämpfen wie Sie.» Sie sah mich hoffnungsvoll an.
Obwohl ich dagegen anging, liessen Claires Worte etwas wie Stolz in mir aufkeimen. Ich war die Beste. Behauptete zumindest jemand. «Na, dann schiessen Sie mal los», hörte ich mich sagen.
Das liess sich Claire nicht zweimal sagen. Sie sah ihren Mann an. «Willst du?», fragte sie.
Er verneinte.
Also begann Claire zu erzählen. Claire und Manfredo lernten sich kennen und schnell lieben. Sie wünschte sich sehnlichst ein Kind, er wollte sie glücklich sehen, also wünschte er sich auch eines. Es klappte nicht. Nach einem Jahr erfolgloser Zeugungsversuche wandte sich das Paar an eine Fertilitätsklinik, die namhafte «Wunschkinder-Klinik». Bescheuerter Name, wenn man mich fragt. Auf jeden Fall war die Ursache schnell gefunden, es lag an Manfredo. Die Chance auf eine natürliche Schwangerschaft sei verschwindend klein, sagte man ihnen und schlug eine Befruchtung im Reagenzglas vor. Claire musste Hormone spritzen, dann entnahm man ihr reife Eizellen, siebzehn insgesamt. Diese Eizellen wurden von Hand befruchtet. Zwei der befruchteten Eizellen wurden daraufhin in Claires Gebärmutter eingesetzt. Claire und Manfredo hatten Glück, gleich beim ersten Mal wurde Claire schwanger. Das Baby sollte in gut drei Monaten zur Welt kommen.
«Und»? fragte ich ungeduldig. «Wo liegt das Problem? Hat man Ihnen eine falsche Eizelle eingepflanzt? Die Eizelle einer anderen Frau?» Das war schon vorgekommen und wurde in den Boulevardmedien entsprechend ausgeschlachtet: «Eizelle verwechselt: Weisse Frau bringt schwarzes Kind zur Welt» oder «Chaos-Klinik in Italien: Mehrere Eizellen vertauscht und den falschen Frauen eingepflanzt».
Claire und Manfredo sahen sich an.
«Nein», ergriff Manfredo das Wort. Es war das erste Mal, dass ich ihn sprechen hörte. Er hatte eine angenehme Stimme, die nun aber aufgewühlt klang. «Nein. Umgekehrt. Wir vermuten, dass unsere Eizellen einer anderen Frau eingesetzt worden sind.»
Ich war verblüfft.
Manfredo sprach weiter. «Von den siebzehn Eizellen, die man meiner Frau entnommen hat, wurden zehn befruchtet. Das hat die Biologin uns so gesagt. Die restlichen sieben waren defekt. Zwei Eizellen wurden Claire eingesetzt. Bleiben also acht.»
Ich nickte. So viel Kopfrechnen lag noch drin.
«Diese acht befruchteten Eizellen haben wir einfrieren lassen. Falls es beim ersten Mal nicht geklappt hätte, hätte Claire nicht die ganze Prozedur mit der Eizellenentnahme nochmals über sich ergehen lassen müssen. Es wären einfach zwei Eizellen aufgetaut und eingesetzt worden, verstehen Sie?» Manfredo sah mich fragend an.
Ich nickte wieder. Das war mir alles klar. Nicht klar war mir, worauf Manfredo hinaus wollte.
«Nun gut.» Claire übernahm. «Auf jeden Fall haben wir vor einer Woche das hier erhalten.» Sie streckte mir ein Papier entgegen. Ich nahm es und sah es mir an. Es war eine Rechnung der Fertilitätsklinik. Kryokonservierung von fünf Zygoten, Kostenpunkt CHF 400.
«Fünf Zygoten. Nicht acht. Was ist aus den restlichen dreien geworden?» Claire strich sich nervös eine Haarsträhne hinter das Ohr. «Ich habe natürlich gleich in der Klinik angerufen. Man hat mich abgewimmelt. Ich hätte mich geirrt, haben sie gesagt. Es habe nie zehn befruchtete Eizellen gegeben. Lediglich sieben.»
Ich wollte etwas sagen, doch Manfredo kam mir zuvor.
«Sie zweifeln, ich sehe es Ihnen an. Aber ich war dabei. Es waren zehn befruchtete Eizellen. Wir hatten extra nachgefragt und uns über die grosse Anzahl gefreut. Es waren definitiv zehn.» Claire und Manfredo sahen mich erwartungsvoll an. «Glauben Sie uns nun?»
«Ich glaube Ihnen. Ich glaube Ihnen, dass es ursprünglich zehn befruchtete Eizellen gegeben hat. Nun gut, jemand hat nachlässig gearbeitet, drei Eizellen sind zerstört worden. Wurden aus Versehen weggeworfen. Die Möglichkeiten sind vielfältig. Aber dass sie einer anderen Frau eingesetzt wurden, das erscheint mir doch etwas abwegig.» Ich zuckte die Schultern. «Weshalb sollte die Klinik ein solches Risiko eingehen?»
«Siehst du?» Manfredo wandte sich an seine Frau. «Sie hält uns auch für Phantasten. Ich habe es dir ja gesagt.» Er sammelte die Papiere ein und erhob sich halb von seinem Stuhl.
«Warte.» Claire hielt ihn zurück. Sie sah mich an. «Ich bin nochmals in die Klinik gegangen. Ich wollte mich persönlich mit unserem Arzt unterhalten.»
«Und?», fragte ich ungeduldig.
«Doktor Brock war nicht da, nur seine Vertretung, eine Frau Doktor Altmann. Wieder hat man mich abgewimmelt. Alles sei korrekt abgelaufen, hiess es. Man könne nichts für mich tun, hiess es. Aber danach, ich war bereits wieder am Gehen, hat die Biologin auf dem Flur meinen Weg gekreuzt. Sie wollte schnell an mir vorbei, aber dann ist sie doch stehengeblieben. ‹Es tut mir leid›, hat sie mir zugeflüstert.» Claire starrte vor sich hin, in Gedanken versunken. Dann hob sie den Blick, sah mich direkt an. «Was war das, wenn kein indirektes Schuldeingeständnis? Weswegen sollte sie mich bedauern, Mitleid mit mir haben? Die Behandlung war ja offensichtlich erfolgreich.» Claire deutete auf ihren dicken Bauch. «Da ist doch irgendetwas faul.»
«Selbst wenn etwas faul sein sollte», erwiderte ich. Was ich bezweifle, fügte ich im Stillen hinzu. «Selbst wenn, so wären Sie bei der Staatsanwaltschaft besser aufgehoben. Ich kann die Klinik anschreiben, allenfalls diesen Doktor Brock um ein Treffen bitten. Erstatten Sie Anzeige. Die Staatsanwaltschaft kann dann ein Verfahren eröffnen.» Ich überlegte kurz. «Natürlich könnte ich die Anzeige für Sie verfassen. Mehr kann ich nicht tun.»
Manfredo winkte ab. «Eine Anzeige wegen Diebstahls oder was? Wir haben keine Beweise, keine Zeugen. Machen Sie sich nicht lächerlich. Die Staatsanwaltschaft würde keine zwei Minuten für so etwas verschwenden.»
Claire stiess ihm den Ellbogen in die Seite.
Ich wollte aufbegehren und ihn zurechtweisen, obwohl er Recht hatte: Mit einer Anzeige wegen mutmasslich entwendeter Eizellen würden die Corazollas bei der Staatsanwaltschaft ins Leere laufen. Bevor ich aber etwas sagen konnte, läutete mein Handy. Ich sah kurz auf die Nummer. Es war Béjart, mein Bekannter bei der Polizei. Ich würde ihn später zurückrufen. Ich sah auf und direkt in Claires veilchenblaue, mit Tränen gefüllte Augen.
Sie griff nach meinen Händen. «Helfen Sie uns. Bitte.» Mit einer Hand wischte sie eine Träne weg. «Wenn Sie herausfinden, dass die drei Eizellen weggeworfen wurden, in Ordnung. Dass sie unsachgemäss behandelt wurden und nicht mehr zu gebrauchen waren, ebenfalls in Ordnung. Damit kann ich, damit können wir leben. Aber mit dem Gedanken, dass vielleicht irgendwo ein Kind von Manfredo und mir zur Welt kommt, ausgetragen von einer anderen Frau, dass dieses Kind in eine andere Familie geboren wird, von Fremden aufgezogen wird, damit kann ich nicht leben.»
Ich wollte etwas erwidern, aber Claire ergriff bereits wieder das Wort. «Stellen Sie sich vor, in zwanzig Jahren ist da eine junge Frau. Sie findet heraus, dass sie mit ihrer Familie nicht blutsverwandt ist, dass sie die Folge einer Unregelmässigkeit in einer IVF-Klinik ist.» Claire schlug sich die Hand vor den Mund. Sie rang nach Fassung. Dann fuhr sie sich mit der Hand über das Gesicht, setzte sich gerade hin. «Gehen Sie der Sache nach. Wir zahlen Ihnen einen Stundenansatz von 400 Franken.» Claire sah mir in die Augen.
Ich horchte auf. Das war beinahe das Doppelte meines üblichen Honorars.
«Ausserdem», fuhr Claire fort, «ausserdem möchten wir Ihnen einen Vorschuss überweisen. Wir hatten an 10 000 Franken gedacht.»
Mir stockte der Atem.
«Wir wissen, dass Sie das wert sind.» Claires Stimme war leise, aber bestimmt.
Mein Handy gab einen Summton von sich. Eine SMS war eingegangen. Das kam mir gelegen, ich brauchte etwas Zeit, um mich zu sammeln. Um zu überlegen, ob ich den Vorschuss annehmen sollte. Ob ich den Auftrag annehmen sollte. Ich griff nach dem Telefon und sah mir die SMS an.
«Moira, ruf mich zurück», stand da. «Es ist jemand gestorben.»