Читать книгу Der Verdrüssliche - Eva Holzmair - Страница 19

XIII.

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Eine verwirrende Geschichte! Egal, welche Dokumente sie aus dem Netz holt, die Provenienzangaben zum Verdrüsslichen lauten, dass er unmittelbar nach dem Tod Messerschmidts an dessen Bruder, Johann Adam Messerschmidt, ging und später, vor 1793, von Franz Friedrich Strunz erworben wurde. Mit Strunz verliert sich seine Spur. Er taucht erst wieder um 1900 auf, wo er angeblich in den Besitz des Wiener Architekten Camillo Sitte gelangte, danach im Kunsthandel war, in den 1920er-Jahren von den Hausladens gekauft wurde und aus deren Familienstiftung 2008 ans Getty Museum ging, doch weder der Erwerb durch Sitte noch jener durch die Vorgängergeneration der Hausladens stimmt. So viel steht fest. Zudem weiß Carola aus der Literatur, dass auch noch nach Strunz weitere Besitzer bekannt sind, denn sie alle, Strunz eingeschlossen, wollten nicht einzelne Charakterköpfe verkaufen, vielmehr versuchten sie, die gesamte Serie zu veräußern, doch ihre Rechnung ging nicht auf. Das große Geschäft blieb aus. So wurden der Verdrüssliche und seine Gefährten bis etwa Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder zusammen ausgestellt, Museen und Hofsammlungen angeboten und erst danach einzeln verkauft. Nur mehr ein Teil der Serie ging an Josef Carl Ritter von Klinkosch. Es gibt keinen Beleg, dass der Verdrüssliche bei der Auktion seines Nachlasses gesichtet wurde. Demnach klafft eine Riesenlücke zwischen dem wahrscheinlich letzten Eigentümer der gesamten Serie, Joseph Juttner, und Wilfried Hausladen.

Die jüngsten Veröffentlichungen zu Messerschmidt und seinem Oeuvre sind ordentlich recherchiert. Darin gibt es keine neuen Erkenntnisse. Carola müsste schon auf alte Innenansichten oder vergilbte Fotos stoßen, auf denen der Verdrüssliche zufällig abgebildet ist, nicht als Hauptmotiv, schon eher irgendwo im Hintergrund. Oder er wurde in alten Versteigerungskatalogen als eine Steinbüste ohne nähere Beschreibung angepriesen. Wahrscheinlich haben schon Legionen von Kunsthistorikern solche Auktionseinträge übersehen, weil ein Bezug zum Gesuchten nicht hergestellt werden konnte, und sie wird ihn auch nicht herstellen können. Nein, sie muss es anders angehen, ihre Suche von hinten aufrollen und sich wie ihr Lungenwurm weiter bis zum Ende durchbohren.

Carola schiebt Jarolims Hintern von der Tastatur, um wie anno dazumal einen Akt anzulegen, der mit verdammt wenigen Fakten versehen sein wird. Nicht einmal das Entstehungsjahr ist bekannt. Irgendwann in den 1770er-Jahren hat Messerschmidt mit der Arbeit an den Charakterköpfen begonnen und wahrscheinlich bis zu seinem Tod nicht damit aufgehört. Gesichert ist einzig, dass die ersten Skulpturen dieser Art nicht aus Alabaster waren. ›Sechs Metallene Köpf-Stückhe‹ wollte Messerschmidt 1776 dem kurbayerischen Hof in München vorlegen, um Aufträge zu erhalten. Carola schaut in ihre Unterlagen. Der Brief. Genau. Datiert mit 26. Februar 1776. An den Grafen von Berchem. Darin berichtet Messerschmidt selbst davon. Der Verdrüssliche muss demnach später entstanden sein. 1777–1783 trägt Carola als Entstehungszeit in ihren elektronischen Akt ein. Darunter Johann Adam Messerschmidt, Bildhauer, 1784. Wann Johann Adams Tochter die Köpfe übernommen hat, kann sie trotz längeren Suchens nirgends entdecken. Sie ist sich aber sicher, dass sie darüber schon einmal etwas gelesen hat. Nicht so wichtig. Sie fährt mit Franz Friedrich Strunz, Traiteur, circa 1792 fort. Danach kommen Katharina Mayer, Strunz’ Lebensgefährtin, circa 1805, Franz Jacob Steger, Bronzefabrikant und Gastwirt, circa 1808, und Joseph Juttner, Eigentümer eines Anfrage- und Auskunft-Comptoirs, circa 1835, sowie Wilfried Hausladen, Antiquitätenhändler, 1960.

August 1960. Der Kaufbeleg. Mit ihm muss sie beginnen. Der Name der Verkäuferin. Wie hieß sie doch? Es war eine Frau. Ganz bestimmt. Irgendetwas mit G. Gerda, Gertrud, Grete, Gitta, Gudrun, und ein Familienname, der negative Assoziationen in Carola wachrief. Daran kann sie sich erinnern. Es hatte mit ihrer Schulzeit zu tun. Eine blöde Lehrerin, lästige Mitschülerin? Wenn die unangenehmen Gefühle von der Volksschule herrührten, dann hat sie schlechte Karten. Nicht einmal beim Anblick von Klassenfotos würden ihr alle Namen aus dieser Zeit einfallen. Abrupt steht sie auf, während Jarolim die Tastatur belegt und Carolas zuletzt gesetztes Fragezeichen durch wa2sers3eftgrftgv ergänzt und mit gggggggttt abschließt.

Carola reißt Schubladen und Kastentüren auf. Da Aufnahmen von Bürofeiern und Betriebsausflügen, dort das Hochzeitsbild der Eltern und einige Familienschnappschüsse. Das dickliche Kind mit den trotzig vorgeschobenen Lippen, das ist sie. Verbindet sie noch etwas mit diesem Mädchen? An viel kann sie sich nicht erinnern, bloß an ein ständiges Gefühl der Unzulänglichkeit. Nicht hübsch genug, nicht geschickt genug, nicht gescheit genug zu sein, keine Außenseiterin, aber nahe dran an den Schulbänken, in denen sich die Unbeliebten zusammengefunden hatten, weil niemand sonst bei ihnen sitzen wollte. Wo waren sie, die Fotos aus der Gymnasialzeit? Aufnahmen von Denkmälern und Kunstschätzen wären kein Problem. Angefangen von den Fotos, die sie als Studentin im grauen Wien der frühen 1960er-Jahre gemacht hatte, über die zahlreichen Aufnahmen von Barockgärten bis zu ihren letzten auf dem Tablet festgehaltenen Eindrücken von den Schlössern Hof und Niederweiden könnte sie alles im Schlaf finden. Sogar von ihren amtlichen Entscheidungen hat sie stichwortartige Notizen und Ablichtungen. Darin ist alles dokumentiert: die politischen Interventionen, die klaren und die strittigen Fälle sowie all jene, die Wilfried betrafen. Aber Klassenfotos? Rund zwei Dutzend Mädchen, unter denen eine stets abweisend in die Kamera blickte, so als wollte sie den Fotografen dafür bestrafen, dass er seine Arbeit tat.

Lächeln oder gar herzhaftes Lachen waren auch später keine Selbstverständlichkeit. Sie nehmen alles viel zu schwer. Und eine Hand auf Carolas Schulter. Wilfrieds Hand. Die erste Begegnung anlässlich ihres Vortrags im letzten Studienabschnitt. Vor vielen Menschen. Auch Institutsfremde waren gekommen, weil Carola in Ostdeutschland gewesen war. Das interessierte. Die Berliner Mauer war erst im Vorjahr errichtet worden. Diese Barbaren hatten das Stadtschloss gesprengt. Wie gingen sie sonst mit den übernommenen Kulturgütern um? Carola war hier, um zu berichten, aufgeregt, obwohl sie doch alles perfekt vorbereitet hatte. Auch die Aufnahmen von den noch erhaltenen Irrgärten in Altjeßnitz und Mosigkau. Und dann klemmte das ohnedies nur jeweils zwei Dias fassende Magazin des Projektors! Ungeduldig riss Carola daran, als jemand aus dem Publikum rief, dass sie die Antiquität nicht ruinieren solle, was natürlich mit Gelächter quittiert wurde. Wie sie diese leicht abzuholende Heiterkeit verabscheute. Dafür musste sich niemand anstrengen, bloß schlagfertig sein. Ohne Fleiß viel Preis. Am liebsten hätte sie den Apparat hochgenommen und ins Auditorium geworfen. Ihr ganzer Vortrag war auf die Dias zugeschnitten. Da eilte ein baumlanger, leicht korpulenter Mann die Stufen zum Podium hinauf, murmelte, ich hab auch einmal so einen Mist gehabt, und fuhr mit einem dünnen Bleistift in den Schlitz, in dem das Magazin feststeckte. Carola sah, wie geschickt der Mann mit dem Stift hantierte und dabei vorsichtig am Magazin zog, bis es tatsächlich leichtgängig bewegt werden konnte.

Sie legte das erste Dia ein und begann mit ihrem Vortrag. Kein Danke. Nichts. Ihre Augen tränten, die Stimme zitterte leicht. Erst als sie mittendrin war in den Hainbuchenhecken des Irrgartens von Altjeßnitz, fiel ihr ein, wie unhöflich sie gewesen war. Sie hatte nicht einmal mitbekommen, wann der Mann das Podium verlassen hatte. Nun wurde mit jedem Schieben des Magazins nicht nur ein neues Bild auf die Leinwand projiziert, sondern Carola sah, wann immer sie ein Dia herausnahm und ein weiteres einsetzte, die eine Hand mit dem Stift und die andere am Magazin, die kräftigen Finger des Fremden, die so sicher mit dem widerspenstigen Apparat umzugehen wussten. Sie schob die uralte Blutbuche rein, die Kanzel mit Rundblick über den Garten raus. Der Stift, die Hand. Rein, raus. Welche Farben! Carola hatte gar nicht in Erinnerung, dass das Rot der Blätter so intensiv gewesen war. Vielleicht lag’s an der gewählten Belichtung. Ihre Wangen brannten. Sie hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Nur nicht verhaspeln. Die Statue der Ceres am Eingang zum Irrgarten. Sie tauschte die Kanzel gegen die steinerne Göttin aus. Ceres rein, die Blutbuche raus. Grauweißer Faltenwurf auf der Leinwand, während die romanische Kapelle wartete. Mit fahrigen Bewegungen holte Carola das Baumbild aus dem Magazin und legte das baufällige Kirchlein ein. Nun wieder schieben. Die Hand, der Stift. Rein, raus. Weiter nach Mosigkau. Ceres raus, Weitwinkelbild des Schlosses rein. Die Hitze, die der Projektor abstrahlte. Die Hand, der Stift. Das ständige Schieben. Rein, raus. Die Hand. Nein, das war nicht seine, das war ihre. Feucht die Innenseite. Sie musste darauf achten, keine Flecken auf den Dias zu hinterlassen. Wieder wechseln. Neues Dia reinschieben und gleichzeitig das soeben gezeigte rausschieben. Rein, raus. Rein, raus. Carola wurde immer heißer. Die Hand, der Stift. Das Rokoko-Schlösschen. Rein, raus. Der nächste Irrgarten. Kein Ausgang in Sicht. Nichts als flirrendes Licht. Carolas Körper ein Backrohr. Irgendwie brachte sie den Vortrag zu Ende. Verstohlen wischte sie die verschwitzten Hände am dunklen Pulli ab und nahm erstaunt das Beifallsgetrommel wahr.

Sie blickte sich um. Da saßen sie: ihr Doktorvater, breit und stolz, Carolas Dissertation sollte nun kein Problem mehr sein; ihre Studienkollegen, manche mit etwas verkniffenen Mundwinkeln, das graue Mauserl hatte mehr drauf als gedacht; und dort hinten er, der fremde Mann, sein Lächeln schwer einzuordnen, doch dass es ihr galt, das glaubte Carola, sie, die immer noch oben auf dem Podest stand, eine unvorteilhaft gekleidete junge Frau, für die Schlabberröcke, als sie noch nicht in Mode waren, schlicht dazu dienten, die dicken Waden zu verstecken. Als das Klopfen auf den Tischen langsam verebbte, drängte sich Carola am Professor vorbei nach hinten, um den großen Mann rechtzeitig einzuholen. Sein Kopf tauchte immer wieder einmal da, einmal dort auf, ragte aus der Menge heraus, während Carola zwischen den hinausdrängenden Leibern stets eine falsche Richtung einschlug. Erst als sie mit einem Glas schlechten Weins in der Hand im Vorzimmer des Instituts Gratulationen entgegennahm, sah sie ihn wieder. Er kam herein und grüßte in die Runde, die ihr Doktorvater zum Umtrunk geladen hatte. Carola wollte ihren Fehler rasch ausbügeln, ging auf den Fremden zu und stotterte etwas von Dank nachholen. Wieder dieses eigenartige Lächeln. Sie nehmen alles viel zu schwer. Und die Hand auf ihrer Schulter.

Jaris Knurrlaute unterbrechen ihre Gedanken. Was ist denn nun schon wieder? An der Kordel baumelt erneut ein Kärtchen. Heute übertreibt Herr Nierlich. Normalerweise schickt er höchstens einmal wöchentlich wenig freundliche Botschaften. Carola ist sich keiner Schuld bewusst. Jarolims Gedärme haben sich beruhigt, sie hat auch nichts bei offenem Fenster gekocht, nur rasch eine Käsesemmel gegessen. Was will denn der Spinner?

Frau Dr. Broggiato!

Es ist ein Uhr nachts, eine Zeit, zu der Menschen im Normalfall schlafen. Sie hingegen nutzen die nachmitternächtliche Stunde offenkundig dazu, Ihre Wohnung umzuräumen und im Stechschritt zu durchschreiten. Gehen Sie endlich zu Bett! Morgen ist auch noch ein Tag, den wir beide ausgeschlafen erleben sollten.

Johannes W. Nierlich

Perplex starrt Carola auf die Karteikarte. Sie hat Fotos gesucht, und dabei sind Erinnerungen hochgekommen. Die sind doch nicht laut! Gut, die Kästen und Schränke hat sie vielleicht etwas heftig geöffnet, aber danach ist sie nur noch … Carola bleibt stehen. Natürlich, das ist es! Sie ist auf und ab gegangen. Die lockere Holzdiele in der Mitte des Zimmers. Die muss sie mindestens hundert Mal in der letzten halben Stunde zum Knarren gebracht haben, ohne es zu bemerken. Möglichst leise geht sie zum Computer und lacht beim Anblick von Jarolims Einträgen auf. Der hellhörige Nierlich wird ihre Heiterkeit womöglich auf sich beziehen. Egal. Jari tut ihr einfach gut. Sogar das Lachen hat er ihr beigebracht. Sie hält inne.

wa2sers3eftgrftgv gggggggttt

Jarolim, du bist ein Genie! Wasserscheidt hieß die Frau. Grete Wasserscheidt. Genau. Das war der Name, der auf dem Kaufbeleg stand. Und Wasserscheidt hieß der grässliche Schulwart des Gymnasiums, von dem alle behaupteten, er wäre nicht ganz dicht, was angesichts seiner oft eingenässt wirkenden Hosen auch im wörtlichen Sinn gemeint war. Carola belässt Jarolims kryptischen Eintrag, verschiebt ihn per Copy und Paste und tippt von ?? bis 1960 dazu. Zufrieden fährt Carola den Computer herunter und schlendert ins Bad, sorgsam darauf achtend, nicht auf die knarzende Diele zu treten, während Jarolim wenig elegant hinter ihr herhinkt.

Der Verdrüssliche

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