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Großstadtnomaden
ОглавлениеIm Sommer 1894 kam die erlösende Nachricht: Leon KellnerKellner, Leon wurde wieder nach Wien versetzt, an eine Knabenoberrealschule im 18. Bezirk. Zunächst wohnten sie wieder in ihrem alten Quartier in der Hetzgasse. Doch in den nächsten sechs Jahren würden nicht weniger als vier Umzüge folgen: Alserbachstr. 11, Hofzeile 17, Kutschergasse 44 und Gersthofstr. 84. Waren die Mieten zu hoch? Die Nachbarn zu unfreundlich? Oder war es die tief sitzende Angst, eines Tages doch wieder vertrieben zu werden, die Angst des »Juden auf Wanderschaft«, um mit Joseph RothRoth, Joseph zu sprechen? Jedenfalls waren die Kinder »überall und nirgends zu Hause«, sondern genau das, was KellnerKellner, Leon selbst später schärfstens anprangern würde:
Nomaden oder – wenn es schöner klingt – Kosmopoliten. [53]
1895 schien sich das Schicksal von ElserleWeiss, Else Elserle wiederholen zu wollen. Auch Dora, fünf Jahre alt, erkrankte an Diphtherie.[54] Die Krankheit war lange als »Würgeengel der Kleinen« bezeichnet worden. Oft trat sie zusammen mit Scharlach auf und griff auf Herz, Nieren und Leber über. Sie galt als unheilbar, bis Ernst von BehringBehring, Ernst von ein Serum aus Pferde- und Schafspräparaten entwickelte, das »Behring’sche Gold«. Das »ElserleWeiss, Else Elserle« hatte offenbar nichts mehr davon. Ob Dora damit behandelt wurde oder aufgrund ihrer kräftigen Konstitution überlebte, ist nicht bekannt. Sicher ist nur, dass Anna KellnerKellner, Anna (geb. Weiß) mit ihr nach Meran fuhr, wovon man sich Heilung versprach. Ihr Bruder, Dr. Moritz WeißWeiß, Moritz, der gutverdienende Generalsekretär einer Kohlenwerksgesellschaft, begleitete sie auf der langen Zugfahrt und übernahm die Kosten.[55] Wieder stand Dora im Mittelpunkt. Wieder war sie der »Star«. Für PaulaKellner, Paula, die mit dem Vater in Wien blieb und an Dienstboten delegiert wurde, eine erneute Kränkung.
Doch kaum war die Krankheit überstanden, braute sich neues Unheil zusammen. Für den Herbst 1895 waren Stadtratswahlen angesetzt worden. Nach großen Erfolgen der Christlich-Sozialen Partei stand zu befürchten, dass deren Führer, Rechtsanwalt Dr. Karl LuegerLueger, Karl, Bürgermeister von Wien werden würde. Er zog bereits durch die Wirtshäuser und hielt flammende Reden, die vor allem ein Thema hatten: die Juden!
Ja, in Wien gibt es doch Juden wie Sand am Meere, wohin man geht, nichts als Juden, geht man auf die Ringstraße, nichts als Juden, geht man ins Theater, nichts als Juden, geht man in den Stadtpark, nichts als Juden, geht man ins Concert, nichts als Juden, geht man auf den Ball, nichts als Juden, geht man auf die Universität, wieder nichts als Juden. […] Meine Herren, ich kann ja nichts dafür, dass beinahe alle Journalisten Juden sind und nur hie und da in der Redaktion ein Redaktionschrist gehalten wird, den sie allenfalls vorführen können.[56]
LuegerLueger, Karl sah sehr gut aus und hatte viel Charme, der besonders die kleinen Leute, aber auch viele Beamte und Lehrer ansprach. Seine Reden hielt er in breitestem Wienerisch. Auch der katholische Klerus liebte ihn und blickte zu ihm auf wie zu einem Herrgott. Für KellnerKellner, Leon, der bisher jede politische Einmischung vermieden hatte, wurde es höchste Zeit, sein Studierstübchen zu verlassen und Position zu beziehen.