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»Dialekt der Kindheit«

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Noch vor der Jahrhundertwende waren die Kellners wieder in Wien. Der Traum von der Niederlassung in London hatte sich nicht erfüllt. Leon KellnerKellner, Leon hatte zwar viele Freunde gefunden, aber keine ihm angemessene Position. London sei »eine wogende, stürmische, erbarmungslose See, auf der Tausende und Abertausende um ihr Leben ringen«, schreibt er in seinem Buch Ein Jahr in England.[66] Seine Bewunderung für das Land und dessen Literatur blieb bestehen. Doch er sah auch Seiten, die ihm gar nicht gefielen, die gnadenlose Ausbeutung von Menschen durch die »Magnaten des Bodens, des Handels, des Gewerbes und des Heeres« zum Beispiel,[67] ein fragwürdiges Verhältnis zur Demokratie[68] und eine enorme Selbstgerechtigkeit:

Ein Engländer tut alles, das Beste wie das Schlechteste, aber er tut nie Unrecht. Er tut alles aus Grundsatz. Er führt Krieg aus patriotischen Grundsätzen, betrügt aus geschäftlichen Grundsätzen, hält zu seinem König aus royalen und schlägt ihm den Kopf ab aus republikanischen Grundsätzen – dabei aber tut er immer nur seine Pflicht.[69] […] Wenn er für seine Pofelware einen neuen Markt braucht, so schickt er seine Missionare aus, um den Wilden das Evangelium des Friedens zu verkünden. Die Wilden fressen den Missionar. Da greift er zu den Waffen, um für das Christentum zu kämpfen. Er ist siegreich, erobert das Land, und nimmt es als eine Belohnung des Himmels in Besitz.[70]

Die englischen Juden – jedenfalls die reichen – erschienen ihm angepasst, ungläubig und arrogant:

Sie haben zu essen und zu trinken, eine Loge im Theater, ein Boot auf dem Flusse oder gar eine Yacht auf der See, einen Sitz im Tempel und einen liebenswürdigen Rabbiner, der nicht alles sieht und gelegentlich krumm gerade sein lässt – was kann ein Jude mehr vom Leben und von seinem Gotte verlangen?

Dem Zionismus ständen sie komplett ablehnend gegenüber, da sie seinen Sinn, seine Notwendigkeit nicht sähen: »Ich bitte Sie! Ich will nicht unhöflich sein! Aber wie kann ein gescheiter Mensch wie Sie solchen Unsinn mitmachen?«, zitiert er einen jüdischen Zeitgenossen aus England.[71]

Kein Wunder, dass es ihn selbst immer mehr in die Arme des Zionismus trieb. Im Februar 1899 übernahm er die Redaktion der Welt, des von HerzlHerzl, Theodor herausgegebenen »Zentralorgans der zionistischen Bewegung«. Dafür legte er sich das Pseudonym »Leo RafaelsKellner, LeonRafaels, Leo (Pseudonym) #i#Siehe#ie# Kellner, Leo« zu, um den Wiener Schulbehörden nicht unangenehm aufzufallen. Er schrieb Artikel über den hypothetischen Staat »Palästina«,[72] wurde Beirat eines »allgemeinen hebräischen Sprachvereins«[73] und gründete eine jüdische Bildungshalle in Wien-Brigittenau, die großen Zulauf fand.[74] Doch zugleich erlitt er einen »nervösen Zusammenbruch« wegen Überarbeitung und dauernder Streitigkeiten mit HerzlHerzl, Theodor, den er mit der Zeit immer kritischer sah.[75] Was hatte dieser verwöhnte ungarische Bankierssohn überhaupt mit der jüdischen Religion zu tun? Hatte er sein Judentum nicht jahrelang verleugnet, ja gehasst? Trug er nicht die feinsten Tailleurs, um nicht als Jude aufzufallen? Hatte er sich nicht nur aus Berechnung der »Judenfrage« zugewandt, weil er als dramatischer Autor gescheitert war, weil seinen Stücken die »mimetische Treibkraft«, seinen Figuren »Seele« und »Herz« fehlten?

Es gab schwere Zerwürfnisse, in deren Verlauf KellnerKellner, Leon sein Redaktionsamt aufgab. Von »enger Freundschaft« konnte bald keine Rede mehr sein. HerzlHerzl, Theodor suchte Politiker und Finanzleute in aller Welt auf, um sie für seine Idee eines »Judenstaates« zu gewinnen. KellnerKellner, Leon dagegen versah seinen Dienst an der Oberrealschule und sehnte sich nach den alten jüdischen Ritualen seiner Kindheit, dem Kol Nidre, dem Sabbat oder dem hebräischen Synagogengesang.

Die Kinder warten mit geheimer Angst und doch auch mit Sehnsucht auf den großen, den unvergesslichen Augenblick: Jetzt ist er da! Der Vater legt die rechte Hand dem Knaben, die linke dem Mädchen aufs Haupt und segnet sie mit den uralten Worten des Erzvaters, während die Mutter eine Träne um die andere in den geschlossenen Augen zerdrückt. Wir gehen zu Kol Nidre. […] Die Außenwelt mit ihren […] lärmenden Geschäften versinkt, wie wir die Schwelle des Gotteshauses betreten, das Schicksal […] hält still in seinem Laufe, unsere eigenen Leidenschaften […] weichen für die Dauer von Nacht und Tag ehrerbietig zurück und lassen uns unangefochten allein mit unserem Gemüte, unserem Gott. […] Wunderbare Töne aus einer […] verschollenen Welt schlagen an unser Ohr, und das letzte Stäubchen Alltäglichkeit wird durch die himmlische Melodie von unserer Seele genommen.[76]

In diesem Zustand religiöser Euphorie hatte er wohl wenig Augen für Dora, die allmählich in die Pubertät kam und gar nicht mehr wusste, wohin sie gehörte: Wien, Troppau, Wien, London, wieder Wien, demnächst vielleicht Syrien, Palästina oder gar Uganda? Sie hatte nie Zeit, irgendwo sesshaft zu werden. Kaum eingelebt, musste sie schon wieder fort. Sie war wissbegierig und lernte schnell, aber viel zu unsystematisch, weil alles dem Gutdünken ihres Vaters überlassen war. Das Einzige, was ihr in diesen Jahren blieb, war der »weiche, verträumte Dialekt ihrer Kindheit«.[77] Doch selbst den hatte sie in London schon fast verlernt.

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