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Zwischen Wien und Abbazia

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Im März 1904 erhielt KellnerKellner, Leon die Nachricht, dass er zum außerordentlichen Professor für englische Philologie an die Universität Czernowitz berufen worden sei. 1875 als »Franz-Josephs-Universität« gegründet, war sie noch relativ jung, die erste deutschsprachige Universität der Bukowina. Es studierten dort Deutsche, Polen, Ruthenen, Moldauer und Rumänen, darunter so viele Juden, dass böse Zungen von einer speziellen »Juden-Universität« sprachen.[91] Vorläufig gab es nur drei Fakultäten: eine philosophische, eine juristische und eine für griechisch-orthodoxe Theologie. Kaum jemand freute sich über eine Berufung in die »k.u.k. akademische Strafkolonie Czernowitz«, denn die Stadt war über tausend Kilometer von Wien entfernt, am Ende der Welt sozusagen. Die Eisenbahn brauchte fast 23 Stunden für die Strecke.

PaulaKellner, Paula weigerte sich kategorisch, mitzugehen. Sie wollte in Wien bleiben und ihr Studium fortsetzen. AnnaKellner, Anna (geb. Weiß) war verzweifelt, weil sie schon wieder umziehen musste, und dann auch noch in die hinterste Provinz. Freunde rieten ihr, wenigstens ein Wiener Hausmädchen mitzunehmen, denn in Czernowitz bekomme man »gewöhnlich nur Rutheninnen, die nichts anhätten als ein Hemd und einen Pelz«.[92]

Und Dora? Sie war 14 Jahre alt, auf dem Höhepunkt ihrer Pubertät. Nach unzähligen Umzügen hatte sie seit zwei Jahren endlich einen »festen Wohnsitz« in einem »vornehmen Zinshaus mit prachtvollem großen Garten« in der Nußdorfer Straße 25 im Alsergrund.[93] Der Besitzer, Julius LöwLöw, Julius, betrieb dort ein »Realitäten- und Hypotheken-Bureau«. Auf der Straße gab es mehrere Geschäfte: eine k.u.k. Hofbäckerei, einen Laden für »billige und elegante Kleider« und vor allem die 1880 eröffnete »Detailmarkthalle«, die heute noch steht. Hier wurde alles angeboten, was Zunge und Herz eines Feinschmeckers erfreute: Fleisch, Wild, Fisch und Geflügel, Brot, feines Gebäck, Obst, Gemüse, Gewürze, Eier, Sauerkraut und vieles mehr. Dora war fasziniert von dieser Welt, deren Bilder und Gerüche sie nie mehr loslassen würden. Noch Jahrzehnte später schwärmte sie von Stadtvierteln, aus deren Geschäften sich »Kirschen und Tulpen, Hummer, Flundern und Taschenkrebse in wildem Überfluss bis auf den Bürgersteig« ergossen, von Straßen, auf denen Händler ihr »wirres Geschrei erschallen« ließen und Hausfrauen die Lammschulter für den Sonntagstisch prüften.[94]

Und diese schöne Welt sollte sie nun verlassen, um in die »k.u.k. akademische Strafkolonie Czernowitz« zu gehen, eine Stadt mit ungefähr 80000 Einwohnern, die zwar berühmt für ihre prächtigen Kuppeln, ihre Vielfalt der Sprachen und Religionen und ihr hoch entwickeltes »deutsches« Kulturleben war, aber auch für ihre Bettler, ihren Matsch, ihren Schneeregen und ihren Straßenkot, für ihren Bahnhof, der, gelblich und halb verfallen, schon seit Jahren renoviert werden sollte, um den Reisenden eine etwas freundlichere Begrüßung zu bieten?

Im Frühjahr 1904 trat KellnerKellner, Leon seine Stellung in Czernowitz an, nachdem er sich glanzvoll aus Wien verabschiedet hatte. In der von ihm gegründeten jüdischen Bildungs- oder »Toynbee-Halle« im Stadtteil Brigittenau hatte er einen Vortrag über »Israel als Gastvolk« gehalten. Viele Zuhörer sollen unter Tränen gesagt haben, er sei es, der sie zum Judentum zurückgeführt habe durch Konzerte, Vorträge, Sprachkurse und gemeinsame Feste. Beladen mit Blumen und verfolgt von »tausendstimmigem Hoch« sei er traurig von dannen geschlichen, so als ob ihm der Jubel irgendwie peinlich gewesen sei.[95]

PaulaKellner, Paula blieb also in Wien, um ihr Studium fortzusetzen, während AnnaKellner, Anna (geb. Weiß), Dora und ViktorKellner, Viktor ihm zähneknirschend nach Czernowitz folgten, allerdings erst im Herbst, nach einem Sommerurlaub in Abbazia, heute Opatija, Kroatien, ein ungewohnter Luxus, für den KellnerKellner, Leon tief in die Tasche gegriffen haben muss. Es war nobel und schön hier. Aristokraten aus aller Welt waren zu Gast, Kaiser Franz JosephFranz Joseph I., Elisabeth von RumänienElisabeth von Rumänien, Sophie von SchwedenSophie von Schweden. In der Nähe der Strandpromenade waren viele Prachtvillen gebaut worden, aber in der Stadt gab es noch enge, italienisch anmutende Gassen und kleine Kirchen mit schlanken Türmen. Wenn der Kaiser kam, wurde der ganze Ort mit bengalischen Feuern beleuchtet. Überall wehte die Flagge der Habsburger Monarchie. In den Schaufenstern standen Kaiserbüsten. Bis in den Winter blühten Rosen, Kamelien und Oleander. Die Kellners müssen sich wie im Paradies gefühlt haben. Wenn nur die Aussicht auf Czernowitz nicht gewesen wäre!

Dora hat dieser Gegend ein literarisches Denkmal gesetzt, in ihrem Roman Gas gegen Gas, den sie in einem Nachdruck Das Mädchen von Lagosta genannt hat. »Lagosta« ist eine Phantasie-Insel vor der Adria-Küste, ein kleines Traumland, das viel Ähnlichkeit mit dem realen Abbazia/Opatija hat:

Wind, Sonne und Wasser; der trockene würzige Duft heißer Piniennadeln auf den Lichtungen des Waldes; das Brennen der erfrischten, vom kalten Salzwasser noch nassen Glieder auf den flachen, erhitzten Steintafeln des Ufers; Fahrten im Boot nach der Küste, deren Felsen sich steil vom Grün der Agaven und Lorbeerbäume erhoben; […] Fischfang am frühen Morgen oder müßiges Träumen im Schatten des geliebten blauen Baumes. […] Vor ihnen lag […] die Steinmauer, aber darunter das Meer, zu dieser Stunde der abendlichen Dämmerung mit zauberhaften Farben übergossen. Das Land fiel hier nicht schroff ab als Steilküste, sanft senkte es sich zum Wasserspiegel in vielen kleinen, weichen Buchten, schmückte sich mit unzähligen weiß, rosafarbig und glutrot blühenden Gebüschen und Bäumen. […] Rechts vom Hause fing der Wald an, aber links ging der Garten weiter, und durch die Stämme der Orangenbäume und Palmen schimmerte es vor Blumen. […] Sie hob Apfelsinen vom Boden auf und schüttelte eine japanische Mispel, dass die kleinen, gelben, kugeligen Früchte über den Weg rollten. An Blüten und Blättern roch sie. Sie strich mit der Hand über Taxus und Lorbeer, pflückte einen winzigen Zweig Jasmin und steckte die Nase in eine voll erblühte weiße Lilie, die sie gelb überpuderte.[96]

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