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1 Dora Kellner: Wiener Kindheit um 1900 Großmutter Klara
ОглавлениеAm 6. Januar 1890 war es in Wien bitterkalt. Seit Tagen jagten Schneestürme über die Stadt. Die Straßen waren kaum passierbar, sämtliche Schulen geschlossen, die Hospitäler hoffnungslos überfüllt mit Patienten, die an Lungenentzündung oder Influenza litten. »Mit Ausschluss der Vororte« starben pro Tag etwa 40 bis 50 Wienerinnen und Wiener, darunter hauptsächlich Frauen, Alte und Kinder. Zeitweise seien es aber auch schon über 100 gewesen, und zwar ausgerechnet während der Weihnachtstage, schreibt die Neue Freie Presse.[11] Ein Ende der Grippe war nicht in Sicht, weder in Wien noch in anderen Metropolen Europas.
Trotzdem hatte sich Klara WeißWeiß, Klara, geborene Schwarzberg, aus Bielitz im österreichischen Oberschlesien aufgemacht, um ihrer Tochter Anna bei ihrer zweiten Niederkunft beizustehen. KlaraWeiß, Klara war 50 Jahre alt, eine große, schlanke Erscheinung, obwohl sie zwölf Kinder bekommen hatte: Leopold, MoritzWeiß, Moritz, AnnaKellner, Anna (geb. Weiß), Hermine, Sidonie, Jenny, RosaSchanzer, Rosa (geb. Weiß), HenrietteWeiß, Henriette, Leo, Laura, Cilly und Hugo. Sie hatte bisher allen Töchtern geholfen, wenn sie Kinder bekamen, und wollte es auch diesmal, trotz Grippe und Schnee, wieder tun. Die »richtige« Hebamme, Klara DreikursDreikurs, Klara,[12] die sich mit Mühe durch die verschneiten Straßen gekämpft hatte, war beinahe umsonst gekommen.
Klara WeißWeiß, Klara sah sich in der Wohnung um, die AnnaKellner, Anna (geb. Weiß) und ihr Mann Leon KellnerKellner, Leon erst vor kurzem bezogen hatten. Es gefiel ihr gar nicht hier. Viele Räume, aber sehr ungemütlich. Hetzgasse 8, dritter Bezirk. Schon der Name klang scheußlich. Ein Mietshaus, das wie ein riesiger Eckzahn in die Straße ragte. Alles grau. Nirgendwo Farbe an den feuchten Wänden. Dauernd raste die Pferde-Tramway, die sogenannte »Glöckerlbahn«, vorbei. Außerdem hörte man jedes Geräusch aus den Nachbarwohnungen. Die Toiletten, draußen, auf halber Treppe, waren ständig verstopft und verschmutzt. Nicht einmal einen Garten gab es, nur einen traurigen Hof ohne ein Fleckchen Grün, der zum Wäscheaufhängen benutzt wurde.
Klara WeißWeiß, Klara war lange dagegen, dass ihr »AnneleKellner, Anna (geb. Weiß)« diesen brotlosen Gelehrten heiratete, diesen aus Tarnów in Galizien stammenden Leon KellnerKellner, Leon, der zwar seinen Doktor in englischer Philologie gemacht hatte, nun aber Knaben an einer Oberrealschule unterrichten und sich ein Zubrot als Hilfslehrer für israelitische Religion verdienen musste. »Ein Hungerleider, mein Gott, ein Schulmeister!«[13] Doch AnneleKellner, Anna (geb. Weiß) blieb stur:
Ich liebe ihn und er liebt mich wieder, und wenn er fertig ist, werden wir heiraten![14]
Früher wurden die Ehen noch vom Vater, vom Rabbiner oder vom Schadchen arrangiert, ihre eigene mit dem Wollhändler Salomon WeißWeiß, Salomon zum Beispiel, als sie erst 16 war. Sie war viel jünger als er und hatte ihn noch nie in ihrem Leben gesehen, denn er lebte im oberschlesischen Bielitz und sie im russischen Berdyczew,[15] mehrere Tagereisen entfernt. Doch ihr Vater, ein reicher Kaufmann namens Moses Meier SchwarzbergSchwarzberg, Moses Meier, war der Ansicht, dass sie nun heiraten müsse. Denn er war zum zweiten Mal verwitwet und fand es unpassend, mit einer hübschen 16-jährigen Tochter unter einem Dach zu leben. Nach der Hochzeit sollte sie ihn nie wiedersehen. Er starb kurz nach der Geburt ihres ersten Kindes.[16]
Die ersten Jahre mit Salomon WeißWeiß, Salomon waren nicht einfach für sie. Sie hatte Heimweh und wusste ja nicht, was das ist: Liebe und Ehe. Vom Haushalten verstand sie schon gar nichts, denn als Liebling des Vaters war sie wie eine Prinzessin aufgewachsen, hatte stets nur Seidenkleider getragen und noch nie Kaffee oder Tee gekocht. Anfangs konnte sie nur Sticken, ein paar Brocken Französisch sprechen und Apfelstrudel backen. Letzteres allerdings so grandios, dass ihre Kinder und Enkel später gar nicht genug davon bekommen konnten.
Ja, manchmal ist sie ihm davongelaufen bis zum Bahnhof von Bielitz oder ans Ufer der Bialka, die zwar »die Weiße« hieß, aber doch schmutzig und trübe war, weil sie sich zwischen Maschinen- und Tuchfabriken dahinschlängelte, die ihr Abwasser in den Fluss laufen ließen. Doch wohin sollte sie gehen? Zu ihrer Familie? Oder nach Wien? Unmöglich. Also weinte sie ein paar Stunden und ging zurück zu Salomon WeißWeiß, Salomon, der zwar selten lachte, aber sehr fromm, fleißig und pflichtbewusst war, sparsam mit Geld umging und viel von Wolle verstand, die er in Ungarn persönlich einkaufte, wenn sein Geschäft auch keine großen Reichtümer abwarf, da die Textilindustrie billige Baumwolle aus Indien oder Amerika bevorzugte.
Mit 17 bekam KlaraWeiß, Klara ihr erstes Kind, dem noch elf weitere folgen sollten. Über 20 Jahre lang war sie entweder schwanger oder hatte ein Kind an der Brust. Zwar lernte sie nie akzentfrei die Sprache des Landes, aber das taten die wenigsten in Bielitz, wo ein Gemisch aus Deutsch, Polnisch, Tschechisch, Slowenisch und Jiddisch auf den Straßen zu hören war. Mit der Zeit wurde sie aber eine perfekte Haus- und Geschäftsfrau, die das Kommando über Mann, Kinder und Dienstboten hatte. Sie fand, dass die Frau nur eine Aufgabe habe: Gattin und Mutter zu sein. An die romantische Liebe glaubte sie nicht. Eine Ehe müsse auf gegenseitiger Achtung begründet sein, weiter nichts, schrieb sie einmal an ihre Tochter AnnaKellner, Anna (geb. Weiß).
In dieser Welt muss man ein wenig nüchtern sein und von vornherein auf mancherlei verzichten. In meinen Augen ist die Notdurft des Lebens das Wochentagskleid, der Idealismus der Schmuck, der es verschönt. Ich kann aber eher auf diesen Schmuck, als auf dieses Kleid verzichten, eher also auf die Erfüllung meiner Ideale, wenn sie auch das Leben verschönern und einem viel Freude machen.[17]