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Leon und Anna

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Bei AnnaKellner, Anna (geb. Weiß), ihrer Tochter, war alles anders. Sie war jung und modern, hatte eine Höhere Töchterschule besucht, spielte sehr gut Klavier und sprach als eines der ersten Mädchen der 15000-Seelen-Stadt Bielitz Englisch, Französisch und Italienisch, ja sogar Hebräisch, das sie bei einem Herrn Löwy, einem klugen, »nur etwas jähzornigen Mann«, gelernt hatte.[18] Ihrem Vater, Salomon WeißWeiß, Salomon, der aus einer berühmten Rabbiner-Familie stammte, immer ein schwarzes Samtkäppchen trug und ganze Tage in der »Schul« verbrachte, war es wichtig, dass auch die Töchter »die herrliche Sprache der Bibel« lesen konnten, um später vielleicht einmal Rabbinerinnen werden zu können, sei es in Amsterdam oder in Breslau![19]

Als AnnaKellner, Anna (geb. Weiß) ihren späteren Mann Leon (eigentlich Chaim Leib) KellnerKellner, Leon kennenlernte, war sie nicht einmal 16. Er war nur ein einfacher Gymnasiast, der ihr zufällig über den Weg lief, weil er in Bielitz, wo er Verwandte hatte, seine Matura machen wollte. Er stammte aus dem galizischen Tarnów und war als einziger Sohn streng chassidischer Getreidehändler ebenfalls zum Rabbiner bestimmt worden. Schon mit drei Jahren hatte er den Cheder, die jüdische Elementarschule, besucht, wo er bei einem »Belfer«, einem Hilfslehrer, Lesen und Schreiben gelernt hatte, begleitet von Schlägen und Grausamkeiten, deren Sinn er niemals verstand, hatte sich morgens um vier durch den Wald auf den Weg gemacht, bei Eis und Schnee, auch an Sonntagen, wobei ihm manchmal christliche Kirch- oder Wirtshausgänger begegneten, ihn an den Pejes, den Schläfenlocken, rissen und ihm die schwarze Pelzmütze über die Augen zogen.[20] Trotzdem hatte er niemals aufgehört, ein frommes Kind zu sein, das sich auf jeden Sabbat und jedes Pessach freute und im »Meschiah« die »Krone seines Lebens« sah. Er war fest davon überzeugt, dass dieser »Meschiah« eines Tages auf dem Martinsberg stehen und den Schofar blasen würde. Man musste es nur glauben und wollen.[21]

AnnaKellner, Anna (geb. Weiß) sprach als Kind ein Gemisch aus Hochdeutsch, Jiddisch und Schlesisch, »das rührende verschlampte Deutsch […] der österreichisch-ungarischen Monarchie«, das »Esperanto« des Vielvölkerstaates, wie Dora es später einmal nennen würde.[22] Sie selbst wurde nur »AnneleKellner, Anna (geb. Weiß)«, ihre Mutter nur »Mutterle« genannt. KellnersKellner, Leon Muttersprache dagegen war Jiddisch, ausschließlich Jiddisch, versetzt mit ein paar polnischen Brocken, die er auf der Straße gehört hatte. Niemand dachte daran, ihn Hochdeutsch lernen zu lassen. Warum auch? Hochdeutsch war die Sprache der Ungläubigen, der Gojim. Doch eines Tages war er aus dieser Welt ausgebrochen. Sie war ihm zu klein und zu eng.

Er […] sparte die Kreuzer, die er für sein Mittagsbrot bekam, und kaufte eine lateinische Grammatik, mittels derer er sich im Geheimen auf die Prüfung für die dritte Gymnasialklasse vorbereitete. Eines Tages fand ihn ein christlicher Lehrer […] am Schabbat im hohen Mais versteckt schlafend, die lateinische Grammatik neben sich. […] Er bestand darauf, mit dem erschrockenen Kinde zu den Eltern zu gehen – er werde durchsetzen, dass es ins Gymnasium komme.[23]

Nach vielen Auseinandersetzungen mit seinem Vater, Rafael KellnerKellner, Rafael, erlaubte man ihm, auf das jüdisch-theologische Seminar in Breslau zu gehen, in der Hoffnung, dass er vielleicht doch noch Rabbiner werden würde. Seine Mutter LeaKellner, Lea schickte ihn zum Friseur, ließ ihm die Pejes abschneiden und vertauschte seinen Kaftan mit einem schwarzen Rock. Doch vorher ließ sie ihn noch einmal in der gewohnten Tracht fotografieren. Seine Tochter PaulaKellner, Paula hat das Bild aufbewahrt.

Es zeigt einen schmächtigen Jungen mit ganz hellen Locken, einem ganz leichten Schnurrbartanflug, verträumten Augen und schlanken Händen.[24]

Aber Chaim Leib, der sich nunmehr »Leon« KellnerKellner, Leon nannte,[25] weil das europäischer und weniger jiddisch klang, konnte sich in Breslau nicht einleben. Die Stadt war ihm viel zu preußisch und viel zu groß. Das Seminargebäude erschien ihm wie eine Kaserne. Die Lehrer gefielen ihm nicht. Er geriet in Konflikte, in eine »Nervenkrise«, bekam Heimweh nach dem engen, kleinen Tarnów, aber auch nach der Welt der Literatur, die er immer mehr kennen- und schätzen lernte, LessingLessing, Gotthold Ephraim, SchillerSchiller, Friedrich, Moses MendelssohnMendelssohn, Moses, Daniel DefoeDefoe, Daniel. Zweifel an seiner Berufung kamen in ihm auf. Wollte er wirklich ganz in der Welt des Judentums leben oder nicht doch lieber Literat, Gelehrter, vielleicht gar Anglist werden, denn das Englische, das er sich im Selbststudium beibrachte, fiel ihm merkwürdig leicht und lag ihm gut auf der Zunge?

Einer seiner Lehrer verstand seinen Zwiespalt. Er riet ihm, auf ein normales »Obergymnasium« zu gehen, und zwar in Bielitz, das »schön gelegene Städtchen an der Grenze von Galizien zu Preußisch-Schlesien«.[26] Eine Freundin machte ihn mit »AnneleKellner, Anna (geb. Weiß)« bekannt, einer jungen Schönheit, die ihn als »furchtbar gescheiten Menschen« empfand, der wie ein Buch redete und »etwas übermittelgroß, hochblond, von blühender Gesichtsfarbe« war, »mit auffallend schönen Händen«. Sie waren noch keine Viertelstunde zusammen und schon verliebt. AnnasKellner, Anna (geb. Weiß) MutterWeiß, Klara sah das mit größter Skepsis. Sie selbst hatte zwar im gleichen Alter geheiratet. Aber er war doch noch ein Schüler und außerdem viel zu jung! Romantische Ausflüge zu zweit kamen nicht infrage. Aber immerhin ließ sie es zu, dass er AnnaKellner, Anna (geb. Weiß) »die herrlichsten deutschen Bücher« ins Haus brachte: AuerbachAuerbach, Berthold, FreytagFreytag, Gustav, StormStorm, Theodor, FontaneFontane, Theodor, Jean PaulJean Paul.[27] Manchmal saßen sie auch alle zusammen im Wohnzimmer und sangen, vor allem MendelssohnMendelssohn Bartholdy, Felix und MeyerbeerMeyerbeer, Giacomo. Denn AnnasKellner, Anna (geb. Weiß) VaterWeiß, Salomon hatte eine schöne Tenorstimme, die er gern in der Schul zum Vorbeten einsetzte. Er lehnte es ab, in den Tempel zu gehen, in dem Orgel gespielt wurde und ein gemischter Chor sang, aber gegen Lieder und Arien zum Klavier hatte er nichts einzuwenden, besonders nicht, wenn sie noch so entfernt mit dem Judentum zu tun hatten.

»Das war ihm der Kern jeder Sache«, meinte Tochter AnnaKellner, Anna (geb. Weiß).[28]

Im Herbst 1880 ging KellnerKellner, Leon auf die Universität Wien, »ohne Geld und ohne Gönner«,[29] studierte Englisch, Französisch, Germanistik, Sanskrit, Lautphysiologie, Orientalistik und vergleichende Grammatik der indogermanischen Sprachen. Er war fleißig und konsequent, gab sich mit den einfachsten Quartieren zufrieden und arbeitete als Hausschullehrer bei einem Pfeifenfabrikanten, um seinen Eltern nicht auf der Tasche zu liegen. Diese hatten noch vier Töchter, die versorgt werden mussten: Feige, Chane Mindel, Dwora und Fryderyka.[30] Mit 24 war er bereits promoviert über »Die genera verbi bei Shakespeare«.[31]

Danach, 1884, durften sie endlich heiraten. Ganz schlicht, in der jüdischen Volksschule von Bielitz. Zwei große Schulzimmer waren in Weiß und Rot – den Farben der Monarchie – drapiert worden. Es gab eine kleine Bühne und einen Hochzeitshimmel, der mit grünen Blattpflanzen dekoriert war. Ein befreundeter Lehrer spielte Harmonium. Dazu sangen AnnasKellner, Anna (geb. Weiß) jüngere Geschwister mehrstimmig jiddische Lieder.[32]

Zwölf Monate später wurde ihr erstes Kind PaulaKellner, Paula geboren, und jetzt, im Januar 1890, das zweite. Es war gesund und fing sofort an zu schreien. Nur die MutterKellner, Anna (geb. Weiß), 28 Jahre alt, war ein wenig enttäuscht, dass es schon wieder ein Mädchen war und schämte sich fast, ihren Mann zu rufen, um es ihm zu zeigen. Doch Leon KellnerKellner, Leon beruhigte sie:

Ein Kind ist ein Kind, ob Bub oder Mädel ist egal. Und dann – was wäre aus mir geworden, wenn du nicht auch ein Mädel gewesen wärest?[33]

Sie nannten es Dora, nach KellnersKellner, Deborah jüngerer Schwester »Dwora«, die 1887 mit erst 2 Jahren verstorben war. Eigentlich hieß sie Deborah, hebräisch für »Biene«. Aber Deborah war auch der Name einer Richterin aus dem Alten Testament, die prophetische Gaben hatte und den Ausgang von Kriegen voraussehen konnte. Wenn das Volk Israel eine Schlacht gewonnen hatte, sang sie ein Lied, das Deborah-Lied, in dem es hieß:

Lobet den Herrn, dass man sich in Israel zum Kampfe rüstete und das Volk willig dazu gewesen ist.

Höret zu, ihr Könige, und merket auf, ihr Fürsten:

Ich will singen, dem Herrn will ich singen, dem Herrn, dem Gott Israels, will ich spielen.[34]

Und noch einen zweiten Namen bekam das Kind: Sophie, »die Tugend« oder »göttliche Weisheit«. Ihre Schwester PaulaKellner, Paula, die nur einen Namen trug, war ein wenig neidisch. »Ich litt schwer unter Eifersucht«, wird sie später schreiben, »ein hässlicher Zug in meinem Charakter, der mir auch später noch viel Leid verursacht hat. Aber sie war eben doch das Nesthäkchen, und vielleicht war auch der tiefste Grund für meine kindliche Eifersucht, dass sie mein Bett usurpierte! Ich war doch schon ein großes Mädel, aber ich schlief immer noch in einem hohen hölzernen Gitterbett. […] Jetzt wurde die Kleine dahinein gelegt, und ich schlief in einer Art Lade […], die abends aufgezogen wurde.«[35]

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