Читать книгу Der Philipperbrief des Paulus - Eve-Marie Becker - Страница 33
1.1. Der zeitgeschichtliche Kontext der Erstausgabe 1847
ОглавлениеIm zeitlichen Umfeld des Meyer-Kommentars aus dem Jahre 1847Weiß, BernhardLohmeyer, Ernst1 sind einige wichtige Kommentare zum Philipperbrief entstanden, die die Geschichte seiner Interpretation und so auch die Kommentierung Meyers beeinflusst haben.Meyer, Heinrich A. W.2 Zu nennen sind etwa die Kommentare von Conrad S. MatthiesMatthies, Conrad S. (1835)Matthies, Conrad S.Wette, Wilhelm M. L. deMeyer, Heinrich A. W.3 und Wessel A. van HengelHengel, Wessel A. van (1838)Hengel, Wessel A. van4. Dazu kommt die in einer kombinierten Ausgabe erschienene Kommentierung des Philipperbriefes durch Wilhelm M. L. de WetteWette, Wilhelm M. L. de (1843, 18472),Wette, Wilhelm M. L. de5 die der Kommentarkonzeption Meyers zeitlich und sachlich am nächsten steht, sowie der etwas später entstandene, eher als Monographie konzipierte Kommentar von Bernhard WeißWeiß, Bernhard (1859),6 mit dem sich Meyer dann in der dritten Auflage seines Kommentars explizit (kritisch) auseinandersetzt (1865)Meyer, Heinrich A. W.7. Die Bedeutung des Philipperbriefes für die protestantische Exegese und Theologie in der Mitte des 19. Jahrhunderts ist keineswegs gering, auch wenn diesem Brief gerne unterstellt wird, „nicht im Zentrum der Paulusforschung“ zu stehen (oder gestanden zu haben).8 Stellvertretend für viele Exegeten beschreibt Weiß (1827-1918) die paradox anmutende Notwendigkeit der Kommentierungsaufgabe wie folgt:
„Daß es gerade der Philipperbrief war, den ich erwählte, dafür könnte ich mancherlei Gründe anführen, die verhältnißmäßig geringe Zahl seiner neueren Bearbeitungen, wie die verhältnißmäßig große Zahl der dogmatischen loci, die er enthält“ (vi).
Gerade letztere Feststellung mag sich auf die theologische Bedeutung von Phil 2,5ff. beziehen – einen Text, den wir später eigens betrachten werden,9 nicht zuletzt auch wegen seiner Bedeutung für die christologische Lehre von der KenosisKenosis im 19. Jahrhundert, die von Phil 2,7 ausgeht.10
Wenn wir Meyers Kommentarband zunächst im forschungsgeschichtlichen Kontext seiner Entstehungszeit würdigen, zeigt sich, dass insbesondere die Jahre 1842-1847 – im mehrfachen Wortsinne – die eigentlich „kritischen“ Jahre der Philipperbrief-Exegese sind. Zeitlich genau in die Vorgeschichte des Meyer-Kommentars zum Philipperbrief fallen die historisch-kritischen Paulus-Studien BaursBaur, Ferdinand Christian aus dem Jahre 1845 (18672),Baur, Ferdinand Christian11 die zwar bereits durch dessen Arbeit an den Pastoralbriefen (1835) vorbereitet waren,Baur, Ferdinand Christian12 nun aber direkt auf die Exegese und Auslegung des Philipperbriefes ausstrahlten. Baur (1792-1860) stellte nämlich 1845 auf der Basis ausführlicher religionsgeschichtlicher und historischer, später auch stilkritischer Beobachtungen nun auch die Echtheit des Philipperbriefes in Frage. Damit ging Baur weit über die zeitgenössischen Tendenzen der historischen Paulus-Kritik, die Echtheit der Paulusbriefe in Zweifel zu ziehen, hinaus, wie Gottlieb LünemannsLünemann, Gottlieb (1819-1894) Erwiderung aus dem Jahre 1847,Lünemann, Gottlieb13 aber auch Baurs kritische Auseinandersetzung mit de WetteWette, Wilhelm M. L. deBaur, Ferdinand Christian14 verdeutlicht. De Wette (1780-1849) hatte seinerseits zuletzt – übrigens im Unterschied zu Meyer, der insgesamt im Echtheitsdiskurs eine wohl eher gemäßigte Position vertrittWette, Wilhelm M. L. de15 – die Echtheit des Epheserbriefes bezweifelt,Wette, Wilhelm M. L. de16 hielt aber an der Echtheit des Philipperbriefes fest.Wette, Wilhelm M. L. de17
Bei seiner Beurteilung der Unechtheit des Philipperbriefes im Jahre 1845 leiten BaurBaur, Ferdinand Christian im Wesentlichen drei Beobachtungen:Baur, Ferdinand Christian18 Der Philipperbrief bewege sich, wie Phil 2,5ff. zeigten, „im Kreise gnostischer Ideen und Ausdrücke“ (458);Baur, Ferdinand Christian19 der Brief sei von einer vorherrschenden „Subjectivität des GefühlsGefühl(e)“ geprägt (464), gekennzeichnet durch „Gedankenarmuth“ und Mangel an einem bestimmten „Zweck und Grundgedanken“ (1843: 464; 18672: 59); die historische Situationsbeschreibung des Paulus in Phil 1,12 etc. „steht ganz für sich“ (469).Baur, Ferdinand ChristianZeller, Eduard20 Hiermit ist die eigentliche Kontrastfolie beschrieben, vor der Meyers vielfältige PolemikPolemik in seinem Kommentar verständlich wird. Wie de WetteWette, Wilhelm M. L. de nimmt auch Meyer zum einen bereits in seiner 6-seitigen „Vorrede“ auf Baur kritisch Bezug, wenn er schreibt:
„Die neueste Kritik, welche unsern Brief den apostolischen Händen zu entwinden versucht hat, habe ich zwar kurz, aber, wie ich glaube, doch hinreichend für den gar zu prekären Versuch, auch unter Berücksichtigung der wackern LünemannLünemann, Gottlieb’schen Gegenschrift, besprochen“ (X).
Zum anderen setzt sich Meyer in § 3 seiner „Einleitung“ (1-6) mit BaursBaur, Ferdinand Christian Echtheitskritik explizit auseinander (4ff.: s.u.). Die Diskussion über die Echtheit des Philipperbriefes nimmt Meyer sogar zum Anlass für grundsätzliche theologische und hermeneutische Erwägungen. Er beschreibt, wie er die exegetische Kritik in seiner Zeit sich überschlagen sieht, und kritisiert scharf die, wie er sagt, „Gelüste, […] den Philipperbrief […] zu einer untergeschobenen raffinirten Tendenzschrift zu stempeln“ (X).Wette, Wilhelm M. L. de21 Demgegenüber versteht Meyer den Philipperbrief als „Liebesbrief unter den Paulinischen Schreiben“ (Xf.). Nur „schwerlich anderswo [hört man] den inneren Herzschlag Pauli“ (XI). Meyer lässt auf seine einleitende Kritik an der Paulusexegese seiner Zeit zugleich Überlegungen folgen, die die exegetische Forschung programmatisch auf ihre theologische wie kirchliche Verantwortung hinweisen und verpflichten. Philologisch-exegetische Forschung und kirchliche Lehre gehören für den Begründer des KEK – wie diesen emphatischen Worten zu entnehmen istWette, Wilhelm M. L. de22 – untrennbar zusammen (vgl. auch XIV):
„Die Freiheit der Kritik muss innerhalb der protestantischen Kirche ihr volles Recht behalten, aber sie soll auch ihre Gränzen erkennen, an welchen sie zur Verirrung wird, die an Verhärtung gränzt, wenn ihr Schwerdt die Scheide nicht finden kann“ (XI).