Читать книгу Der Philipperbrief des Paulus - Eve-Marie Becker - Страница 38
4. Die Auslegung von Phil 2,5/6ff. im Vergleich
ОглавлениеEin abschließender Blick soll der Auslegungsgeschichte von Phil 2,5/6ff. im KEK gelten – einem Text, der, wie wir schon sahen, seit dem 19. Jahrhundert nicht nur im Streit über die mögliche Unechtheit, weil: gnostische Prägung (BaurBaur, Ferdinand Christian)Meyer, Heinrich A. W.1 des Philipperbriefes eine große Rolle spielte, sondern der auch zu den theologischen Kerntexten innerhalb des Briefes, wenn nicht des gesamten Corpus Paulinum zählt. Zudem gehört dieser Abschnitt, wie in der Exegese immer wieder konstatiert wurde und wird, „zu den schwierigsten Abschnitten der paulinischen Briefe“Lohmeyer, Ernst2. Folgende Aspekte waren (und sind) bei der vergleichenden Betrachtung der KEK-Kommentare von besonderer Bedeutung für das Textverstehen: (a) die formale und funktionale Bestimmung von Phil 2,5/6-11, (b) die Verknüpfung mit dem Kontext, (c) die Interpretation des Begriffs ἁρπαγμόςἁρπαγμός, ἁρπάζω in V. 6 und (d) die Deutung der KenosisKenosis Christi in V. 7.
Meyer widmet sich in seinem Kommentar 1847 der Auslegung von Phil 2,5-11 auf den Seiten 47-63.Wette, Wilhelm M. L. deMatthies, Conrad S.3 (a) Der Textabschnitt wird unter Verweis auf 2,3f. als eine Beispielerzählung zur Ermahnung, nicht die eigenen Interessen in den Vordergrund zu stellen, verstanden (47). (b) Der Abschnitt ist im Zusammenhang von 2,1ff. bzw. 1,27ff. zu sehen (43). (c) Nach Meyer bedeutet der ἁρπαγμόςἁρπαγμός, ἁρπάζω in V. 6 nicht praeda, sondern – unter Verweis auf Plutarch (de pueror educ 120) – den Akt des Raubens oder Beutemachens (50). Meyer erklärt V. 6 wie folgt: „nicht für ein Rauben hielt er das Gott-Gleichsein, d.h. nicht so sah er die Gottgleichheit […] an, als wäre sie ein Verhältniss des Beutemachens, als bestehe sie im Ansichreissen fremden Besitzes“ (50). (d) Statt andere zu berauben, hat Christus sich selbst, d.h. der vormenschlichen Doxa entleert und die μορφὴ θεοῦ gegen eine μορφὴ δούλου eingetauscht (53). Die KenosisKenosis Christi vollzieht sich als „Ausziehen“ (ἐκδύειν) der göttlichen μορφήμορφή (54) und wird als κρύψις realisiert. Meyers Deutung, die sich 1847 noch nahe an der Tübinger Position im Theologenstreit des 17. Jahrhunderts hält, ist in vielen, aber doch nicht in allen Punkten mit der Interpretation de WettesWette, Wilhelm M. L. de verwandt.Wette, Wilhelm M. L. deKenosis4 Tatsächlich ist eine Differenz zwischen beiden Kommentaren auffällig: Bei der Beschreibung des (göttlichen) Status Jesu als handelnder PersonPerson, persona und des Vorgangs der Kenosis unterscheidet sich de Wettes Sicht auf Phil 2,6f. von der Meyers.Wette, Wilhelm M. L. deMeyer, Heinrich A. W.Kenosis5
Mit der zweiten Auflage seines Kommentars beginnend ist Meyer offenbar darum bemüht, seine Deutung von Phil 2,6ff. (möglichen) Kritikern zum Trotz zu verteidigen oder auch zu korrigieren. So fügt er eine Bemerkung zum antidoketischen Gehalt von Phil 2,7 an (18592: 60) und erweitert seine Ausführungen zur christologischen Deutung von Phil 2,6-8 (1847: 57; 18592: 62-64) in signifikanter Weise: Der göttliche Logos legte bei der Menschwerdung die μορφὴ θεοῦ ab, also die göttliche Doxa als eine „Existenzform“, behielt aber das εἶναι ἴσα θεῷ als ein göttliches „Selbstbewusstsein“ bei (18592: 63). Meyer distanziert sich jetzt – und unter explizitem Verweis auf Gottfried Thomasius (1802-1875)Person, persona6 – von seiner 1847 angedeuteten Nähe zu der von den Tübinger Theologen im 17. Jahrhundert (s.o.) vertretenen Vorstellung von der κρύψις. Meyer grenzt sich zugleich kritisch von weitergehenden zeitgenössischen Versuchen ab, die KenosisKenosis Jesu als eine „Selbstbeschränkung des göttlichen Logos“ (so Thomasius) oder eine „ethische Ineinanderbildung göttlichen und menschlichen Lebens in der PersonPerson, persona Christi“ (18592: 63) zu deuten. Solche Versuche verweist Meyer letztlich auf das Gebiet der Dogmatik (18592: 63; 18653: 69f.). Offenbar hat Meyer sich zwischen 1847 und 1859 dennoch u.a. von dem Erlanger Gelehrten Thomasius und dessen Vorstellung einer kenotischen Christologie7 im Blick auf seine Analyse von Phil 2,6f beeinflussen, wenn nicht: korrigieren lassen.Person, persona8 Die christologischen Debatten über die sogenannte „Selbstentäußerung des Logos“ im 19. Jahrhundert sind anders gelagert als die im 17. Jahrhundert9 – das hat Meyer wohl zwischenzeitlich erkannt. Die dritte und vierte Auflage seines Kommentars von 1865 und 1874 bieten demgegenüber zwar bibliographische Ergänzungen und sachliche Erläuterungen, aber keine nennenswerten Revisionen (18653: 68-70; 18744: 85-88). Nur insistiert Meyer 1865 schon in der „Vorrede“ darauf, an der paulinischen Präexistenz-Christologie des Philipperbriefes festhalten zu wollen (18653: VI). Sein Zugriff auf Phil 2,7 ist von der ersten bis zur vierten Auflage dogmengeschichtlich bestimmt.
Die Kommentierung von Phil 2,5ff. (91-125) in FrankesFranke, August H. Kommentar 1886 folgt (a) im Blick auf die Formbestimmung weitgehend der in der protestantischen Exegese damals üblichen Deutung des Textes als einer (ethisch orientierten) Beispielerzählung (89). Für Franke äußert sich die vorbildhafte „Gesinnungsweise“ Christi in dem Verzicht auf den ἁρπαγμόςἁρπαγμός, ἁρπάζω, die Übung der KenosisKenosis und der Selbsterniedrigung (91). (b) Phil 2,5/6-11 sind im Zusammenhang von 2,1-11 zu sehen, wo Paulus zu „liebevoller Eintracht und demüthiger Selbstverleugnung“ ermahnt (79). (c) In der Deutung des ἁρπαγμόςἁρπαγμός, ἁρπάζω erkennt Franke – anders als noch Meyer, der seine Aufmerksamkeit besonders auf V. 6a.c gelenkt hatte – den eigentlichen exegetischen „Mittelpunkt der Diskussion“ (97). Gegen Meyer – aber ähnlich wie LohmeyerLohmeyer, Ernst später – spricht sich Franke dafür aus, den ἁρπαγμόςἁρπαγμός, ἁρπάζω nicht nur als „Rauben“, sondern auch als „Beute“ (praeda), also als res rapta zu verstehen (98). Der ἁρπαγμόςἁρπαγμός, ἁρπάζω bezeichne im metonymischen Sinne das „Mittel räuberischer Selbstbereicherung“ (100 – unter Hinweis auf 1 Tim 6,5151 Tim06,5). Frankes Darstellung erfolgt umständlich, auf mehr als sechs Seiten (97-103ff.). (d) Die Kenosis Christi stehe dem ἁρπάζειν gegenüber – so wird Christus, nach Franke, zum „vollkommensten Vorbild der geforderten Gesinnung der Selbstverleugnung“ (109). Die Vorstellung von der Kenosis sei nicht mit der Selbsterniedrigung zu identifizieren (109). Anders als Meyer geht Franke davon aus, dass Christus in der Kenosis nicht nur die μορφὴ θεοῦ, sondern auch das εἶναι ἴσα θεῷ aufgegeben habe (109f.). Franke bleibt aber bei seiner Auslegung von Phil 2,5/6-11 insgesamt dem Vorgängerkommentar Meyers in Zu- wie Widerspruch (z.B. 112) eng verpflichtet.
In Erich HauptsHaupt, Erich KommentierungHaupt, Erich10 von Phil 2,5/6-11 wird (a) Phil 2,5-11 als „Muster“ für eine Gesinnung, nämlich die Übung von ταπεταπεινοφροσύνη, ταπείνωσις, ταπειν-ινοφροσύνη im Sinne von „Selbstlosigkeit, welche auf eignen Besitz und […] Wohl verzichten kann“ (60f.), verstanden. (b) Haupt begreift 2,5-11 als literarische Einheit, ohne den Abschnitt makro-kontextuell weiter einzubinden (vgl. 60). (c) Haupt versteht – so wie Meyer, aber anders als FrankeFranke, August H. – den ἁρπαγμόςἁρπαγμός, ἁρπάζω zunächst als actus rapiendi (69f.), bleibt aber bei dieser Deutung nicht stehen, weil er sie semantisch für inkonsistent hält. Haupt will den ἁρπαγμόςἁρπαγμός, ἁρπάζω letztlich nicht als (widerrechtlich angeeignete) Beute, sondern, unter Verweis auf Heliodorus (Aeth 7,20), als „Fund“ übersetzen (73): Demnach hielt Christus das εἶναι ἴσα θεῷ „nicht für einen Gegenstand, an dem er krampfhaft festhielt“ (73). Wie Meyer und Franke will auch Haupt nicht zwischen der μορφὴ θεοῦ und dem εἶναι ἴσα θεῷ qualitativ unterscheiden (69). (d) Die KenosisKenosis Christi in Phil 2,7 hält Haupt für eine unbestimmte Wendung, die sich nicht durch ihren möglichen Gegensatz zum ἁρπαγμόςἁρπαγμός, ἁρπάζω, sondern durch die Explikation μορφὴν δούλου λαβών und so im Kontrast zur μορφὴ θεοῦ erschließt (76f.). Auch Haupt knüpft in vielerlei Hinsicht an Meyer und Franke an, zeichnet sich aber gerade im Vergleich mit Franke durch eine klare und knappe Darstellung aus und sucht zielbewusst nach dem Gesamtverstehen von Phil 2,5/6ff.
Ernst LohmeyerLohmeyer, Ernst widmet sich auf den Seiten 90-99 seines Philipperbrief-Kommentars der Interpretation von Phil 2,5/6-11. Sie führt zu einer grundlegenden exegetischen Neubewertung und -deutung des Textabschnitts. (a) Lohmeyer versteht Phil 2,6ff. als einen vorpaulinischen „Hymnus“ und betrachtet den Abschnitt isoliert von seinem Kontext. Diese Deutung, die Lohmeyer schon in seinem „Kyrios Jesus“ (1927/1928) darlegt,Lohmeyer, Ernst11 ist teils durch formgeschichtliche Fragen,12 teils aber auch durch stilkritische Untersuchungen, die am Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt einsetzen, inspiriert.Lohmeyer, Ernst13 Die Bezeichnung von Phil 2,5/6ff. als Hymnus wird durch Lohmeyers Kommentar zum Philipperbrief terminologisch und genrespezifisch in die Forschung eingeführtLohmeyer, Ernst14 – weder bei Adolf DeissmannDeissmann, Adolf (1911) noch bei Martin DibeliusDibelius, Martin (19252) begegnet sie zuvor – und fortan von den zeitgenössischen Kommentatoren ganz selbstverständlich aufgenommen.Deissmann, AdolfDibelius, MartinChristuslied15
Nach LohmeyerLohmeyer, Ernst spricht Phil 2,6-11 als ein „Psalm“ (98) oder „Hymnus“ (91 oder 99) von „der Gegenständlichkeit eines göttlich-menschlichen Geschehens, nicht aber von der Vorbildlichkeit einer ethischen Gesinnung“ (98). Christus steht Paulus „in diesem Gedichte als Vorbild des Martyriums“ (98). (b) Zwar ordnet auch Lohmeyer Phil 2,5/6-11 dem Duktus von 1,27ff. zu – dieser handelt aber aus seiner Sicht von der „Gemeinde im MartyriumMartyrium, Märtyrer, martyrologisch“ (70). (c) Lohmeyer versteht – hierbei FrankeFranke, August H. ohne Nennung folgend – den ἁρπαγμόςἁρπαγμός, ἁρπάζω sowohl als res rapta und res rapienda, denn die Gestalt Christi ist „Kyrios kraft ihrer göttlichen Art und wird Kyrios wieder durch die eigene Tat“ (93). (d) Die KenosisKenosis Christi in Phil 2,7 deutet Lohmeyer als Beschreibung der „Menschwerdung“, als Vorgang, bei dem „die göttliche Gestalthaftigkeit […] der Knechtsgestalt weicht“ (93). Die diffizilen syntaktischen und dogmatischen Diskussionen über die christologische Bedeutung der Kenosis, wie sie bis zum Ende des 19. Jahrhunderts geführt wurden, setzt Lohmeyer indes nicht fort.
LohmeyersLohmeyer, Ernst sprachlich-literarische und sachliche Deutung des Textabschnitts setzte sich in der Exegese durch und wurde lange durchgehalten.Christuslied16 Sie hat, gerade weil sie einen formgeschichtlichen und philosophischen Ausweg aus den dogmengeschichtlichen Dilemmata der Auslegungsgeschichte aufzuzeigen versuchte, die früheren KEK-Kommentare zum Philipperbrief überboten, wenn nicht in den Schatten gestellt. Doch auch Lohmeyers Deutung steht zur Diskussion. Die kritische Auseinandersetzung mit seinem Zugang zum Philipperbrief in jüngster Zeit konzentriert sich zum einen darauf, die literarische Deutung von Phil 2,6-11 als Hymnus bzw. poetischer Text zurückzuweisen.17 Zum anderen wurde und wird an Lohmeyers martyrologischerMartyrium, Märtyrer, martyrologisch Deutung des Philipperbriefes Kritik geübtLohmeyer, ErnstMichaelis, Wilhelm18 und dabei auch die textpragmatische Funktion von Phil 2,6-11 neu überdacht.Lohmeyer, ErnstMartyrium, Märtyrer, martyrologischSelbst, self, selfhoodDemut19 Ein Blick in die Auslegungsgeschichte des Philipperbriefes im KEK des 19. Jahrhunderts kann daher dazu anleiten, nicht nur hinter Lohmeyers wirkungsvollen Kommentar zurückzufragen, sondern auch über diesen hinauszusehen.