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130 Sie können die Verantwortung auf niemanden und nirgendwohin abwälzen

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Ein schöner klarer Tag. Es herrscht die angenehmste Winteratmosphäre, es sind die Wintertage, die wir am meisten genießen. Nur verdirbt die Epidemie den Leuten gründlich die Stimmung. Die herrlichste Aussicht, und keiner, der sie genießt.

Was sich vor unseren Augen ausbreitet, ist die unbarmherzige Realität. Nach dem Aufstehen gilt der erste Blick den Nachrichten: Ein Bauer wird um drei Uhr morgens an den provisorischen Absperrungen vor der Stadt gestoppt und festgehalten. Wie sehr er auch fleht, die Straßenposten lassen ihn nicht durch. Mich beunruhigt vor allem die Frage, wo der Bauer in der nächtlichen Eiseskälte Zuflucht finden wird. Maßnahmen zur Verhinderung der Epidemieausbreitung schön und gut, aber müssen sie auf Kosten einfachster Menschlichkeit durchgeführt werden? Woher stammt die Neigung unserer Funktionäre, aus schriftlichen Direktiven unmenschliche Dogmen zu machen? Ist es unmöglich, dem Bauern, solange er eine Schutzmaske trägt, einen Raum zuzuweisen, wo er unter Quarantänebedingungen die Nacht verbringen kann? Oder nehmen wir den Fall eines gehirngeschädigten Kindes, das, weil man seinen Vater in Quarantäne gesteckt hat, fünf Tage allein und unversorgt zu Hause ausharren musste und schließlich verhungert ist.

Der Ausbruch einer Epidemie zeigt uns das wahre Gesicht der Menge, er führt uns das moralische und professionelle Niveau von Funktionären überall im Land vor Augen, und noch deutlicher enthüllt er die Krankheiten unserer Gesellschaft. Krankheiten, die bösartiger und langwieriger sind als das Coronavirus. Und nirgends ist Heilung in Sicht, dafür fehlen sowohl die Ärzte wie der Wille, Therapien zu entwickeln. Mich erfüllt das mit tiefer Bitterkeit.

Vor ein paar Minuten informierte mich ein Bekannter, dass in unserer Einheit17 ein junger Mann seit zwei Tagen erkrankt ist, er hat Atembeschwerden, es besteht Verdacht auf eine Infektion mit dem neuen Virus, aber da es noch nicht diagnostiziert wurde, kann er nicht in eine Klinik gebracht werden. Ein anständiger und gutherziger junger Bursche, seine Familie kenne ich gut. Hoffen wir, dass es sich nur um eine banale Erkältung handelt, man darf nicht immer gleich das Schlimmste annehmen.

Ich erhalte zahlreiche Rückmeldungen auf mein Interview mit der China News Agency, die begrüßen, was ich dort gesagt habe. Natürlich wurde das Interview nicht in vollem Wortlaut gesendet, dafür habe ich Verständnis. Einige Streichungen allerdings waren meiner Meinung nach unnötig. Zum Thema der Selbstheilung habe ich etwa gesagt: »Am wichtigsten sind die infizierten Patienten und die Familienangehörigen der an der Epidemie Verstorbenen, ihnen spielt das Schicksal sicherlich am härtesten mit, ihre Wunden sind so tief, dass manche bis ans Lebensende nicht darüber hinwegkommen werden. Sie vor allem brauchen den Trost und die Fürsorge des Staates …«

Denke ich an den in tiefer Nacht zurückgewiesenen Bauern, an das allein in seinem Haus verhungerte Kind, an die vielen vergebens nach ärztlicher Hilfe rufenden einfachen Leute und an die wie herrenlose Hunde herumstreunenden und überall abgewiesenen Wuhaner in der Fremde (einschließlich zahlreicher Kinder), dann weiß ich nicht, wann solche Wunden sich wieder schließen werden. Vom Schaden, der für das ganze Land entstanden ist, ganz zu schweigen.

Im Netz wird wie wild über das Verhalten der nach Wuhan entsandten Experten diskutiert. Keine Frage, diese wohlsituierten, unbekümmerten Herrschaften haben mit ihren leichtfertig verkündeten Schlussfolgerungen, dass »eine Ansteckung von Mensch zu Mensch auszuschließen« sei, und »Eindämmung und Kontrolle kein Problem« seien, ein himmelschreiendes Verbrechen begangen. Falls sie noch einen Rest von Gewissen haben und fähig sind, dem Zustand der geplagten Bevölkerung einen Blick zu gönnen, müssten sich auch bei ihnen Schuldgefühle einstellen. Die Hauptlast der Verantwortung für die Unversehrtheit von Land und Leuten tragen natürlich die leitenden Funktionäre der Provinz Hubei. Wer, wenn nicht sie, ist verantwortlich für den gegenwärtigen Zustand von Bedrohung und Verunsicherung? Die jetzige Situation der Epidemie ist dem Zusammenwirken mehrerer Seiten geschuldet. Sie können die Verantwortung auf niemanden und nirgendwohin abwälzen. Im Moment hoffen wir, dass sie sich aufraffen und mit dem Bewusstsein, eine Schuld abtragen zu müssen, vor allem aber mit Verantwortungsbewusstsein die Bevölkerung von Hubei aus diesen schweren Zeiten herausführen. Auf diese Weise können sie sich Nachsicht und Vergebung der Bevölkerung erwerben. Das ganze Land hält durch, wenn Wuhan durchhält.

Fast alle meine Verwandten leben in Wuhan. Gott sei Dank sind bis jetzt alle gesund. Mein ältester Bruder und meine Schwägerin sind beide über 70, mein drittältester Bruder geht ebenfalls auf die 70 zu. Wir sind gesund, damit helfen wir dem Land. Wie gut, dass auch meine Nichte und ihr Sohn heute Morgen sicher und wohlbehalten in Singapur gelandet sind. Sie werden nun in einer Ferienanlage isoliert. Ich muss an dieser Stelle der Verkehrspolizei des Bezirks Hongshan meinen tief empfundenen Dank aussprechen. Gestern erhielt meine Nichte die Benachrichtigung, sie solle sich am Abend auf dem Flughafen einfinden, das Flugzeug nach Singapur starte früh morgens um drei Uhr. Doch in der Stadt fahren weder U-Bahnen noch Busse, und mein Bruder hat keinen Führerschein, meiner Nichte und ihrem Sohn standen also keinerlei Verkehrsmittel zur Verfügung, um zum Flughafen zu gelangen.

Die Aufgabe, das Problem zu lösen, wurde mir übertragen. Die Zentralchinesische Hochschule für Wissenschaft und Technik, auf deren Gelände mein Bruder wohnt, gehört zum Bezirk Hongshan, also fragte ich bei der dortigen Verkehrspolizei nach, ob ich eine Sondergenehmigung bekommen könne. Unter den dortigen Polizisten befindet sich eine größere Anzahl meiner Leser. Ich solle die Angelegenheit ihnen überlassen, wurde mir erklärt, und brav zu Hause meinen Blog schreiben. Am Abend holte der Verkehrspolizist Xiao meine Nichte ab und brachte sie zum Flughafen. Unsere ganze Familie bedankt sich aus tiefsten Herzen für die Hilfe. In brenzligen Situationen ruf die Verkehrspolizei, auf die ist Verlass. Dass die Nichte und ihr Sohn in Sicherheit sind, ist meine einzige Freude am heutigen Tag.

Heute ist bereits der sechste Tag des Neujahrsfestes, wir gehen in den achten Tag der Abriegelung. Die Wuhaner Bürger sind zwar von Natur aus Optimisten, und die Aktivitäten der städtischen Behörden geraten zunehmend in geordnete Bahnen, aber die Situation der Stadt ist nach wie vor grimmig.

Am Abend schlürfe ich einen Hirsebrei. Ein kurzes Pensum auf dem Laufband, ein paar Schweißtropfen, dies für das Protokoll.

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