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131 Auch beim Schmeicheln darf man nicht übertreiben

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Heute ist der siebte Tag des Neujahrsfestes. Der Himmel strahlt, ist das ein gutes Omen? Diese Woche ist entscheidend für den Verlauf der Epidemiebekämpfung. Laut Meinung der Experten wird bis zum Ende der Feiertage bei nahezu allen Infizierten die Krankheit ausgebrochen sein. Das wäre der Wendepunkt. Das bedeutet, wir müssen noch eine Woche durchhalten. Dann sind nahezu alle Infizierten isoliert und die Gesunden dürfen wieder vor die Tür. Bedeutet das, dass wir unsere Freiheit wiederbekommen? Seit der Abriegelung der Stadt vor neun Tagen leben wir nun schon eingesperrt, aber das Gröbste haben wir hinter uns.

Der erste Blick nach dem Aufwachen geht zum Smartphone. Eine erfreuliche Nachricht: Der junge Mann aus unserer Einheit hat sich nicht infiziert. Nachdem er gestern Tabletten gegen Durchfall genommen hat, ist heute wieder alles in Ordnung. So ein Vollidiot! Er hat uns allen einen gehörigen Schrecken eingejagt. Wenn alles vorbei ist, wird er uns als Wiedergutmachung zum Essen einladen müssen.

Doch meine Freude hält nur kurz an. Aus der nächsten Nachricht erfahre ich, dass ein Bekannter aus unserem Freundeskreis, ein Mitglied der regionalen Tanz- und Musiktruppe, gestorben ist, nachdem er tagelang darauf gewartet hat, ins Krankenhaus eingeliefert zu werden. Kurz nachdem ihn die Nachricht erreicht hat, dass ein Platz für ihn freigeworden ist. Es sollen sich auch eine Reihe von Funktionären der Provinz Hubei infiziert haben, einige von ihnen sollen sogar bereits gestorben sein. Mein Gott, wie viele Menschen haben hier in Wuhan bereits Familienmitglieder verloren? Und bisher gibt es niemanden, der sich entschuldigt oder die Verantwortung übernimmt. Überall nur Formulierungen und Artikel, worin die Schuld auf andere beziehungsweise die Umstände abgewälzt wird.

Wem sollen die Überlebenden überhaupt die Schuld geben? Dass ein Schriftsteller in einem Interview von einem »vollständigen Sieg« über das Virus spricht, macht mich sprachlos. Wie kann man angesichts der Verhältnisse in Wuhan, ja des ganzen Landes, angesichts von Millionen angsterfüllter Menschen, von Abertausenden in Lebensgefahr schwebenden Kranken und unzähligen zerrissenen Familien von einem »Sieg« sprechen? Welcher »Sieg«? Und gar »vollständig«? Es tut mir leid, dass ich gegenüber Kollegen ausfallend werden muss. Davon auszugehen, dass manche Leute nicht nachdenken, bevor sie den Mund aufmachen, wäre noch hinzunehmen. Doch so ist es nicht. Diese Leute wägen jedes Wort gründlich ab, wenn es darum geht, den Oberen zu gefallen.

Zum Glück lese ich gleich darauf einen kritischen Artikel eines anderen Schriftstellers. Er stellt präzise Fragen und wählt seine Worte mit Ernst und Gewicht. Es beruhigt mich zu wissen, dass es noch Autoren mit Gewissen gibt. Ich bin zwar nicht mehr Vorsitzende des Schriftstellerverbands der Provinz Hubei, aber ich bin noch immer Schriftstellerin. Liebe Kollegen aus Hubei, bestimmt werdet ihr, wenn alles vorüber ist, dazu aufgefordert, lobpreisende Essays und Gedichte zu verfassen. Doch ich bitte euch, nehmt euch Zeit, bevor ihr mit dem Schreiben beginnt, um euch darüber klar zu werden, wen ihr preisen wollt. Auch beim Schmeicheln darf man nicht übertreiben. Ich bin alt geworden, doch mein kritischer Geist ist um keine Sekunde gealtert.

Den ganzen Nachmittag verbringe ich hektisch damit, Essen zu kochen, das ich am Abend meiner Tochter vorbeibringen will. Sie ist am 22. Januar gegen Mitternacht von ihrer Japanreise zurückgekehrt und wurde prompt von der Abriegelung der Stadt überrascht. Sie war total unvorbereitet und hatte nichts Essbares in der Wohnung. Ich habe ihr am Neujahrsabend und am ersten Feiertag Essen vorbeigebracht. Ein paar Tage später erklärte sie, sie hielte es nicht mehr aus und wolle sich Essen liefern lassen. Ich war absolut dagegen, ihr Vater ebenso, deshalb entschied ich mich, für sie Koch- und Lieferdienste zu übernehmen. Meine Tochter wohnt nicht weit entfernt, mit dem Auto etwa zehn bis 20 Minuten. Ich erkundige mich bei der Polizei und erhalte die Auskunft, Autofahren sei kein Problem. Ich mache mich also ans Werk, bereite mich darauf vor, ihr die fertigen Gerichte bis vor die Tür zu liefern, und komme mir dabei vor wie bei der »Getreidelieferung an die Soldaten der Roten Armee«.18 Die Wohnanlage meiner Tochter ist für Außenstehende geschlossen, also übergebe ich ihr das Essen am Eingangstor. Meine Tochter ist die Einzige aus der jungen Generation meiner Familie, die in Wuhan geblieben ist, und ich muss sie gut beschützen.

Das Eingangstor ihrer Wohnanlage führt auf die Zweite Ringstraße. Normalerweise ist hier die Hölle los. Auto an Auto und vorbeiziehende Menschenströme. Jetzt sind kaum Autos und noch weniger Menschen zu sehen. Überall hängen bunte, glänzende Neujahrsfestdekorationen, doch die Läden sind geschlossen. Die Stimmung ist gespenstisch. Zu den Militärweltspielen im vorigen Jahr hat man an den Häuserfassaden Lichterketten angebracht. Mir gehen diese blinkenden Dinger gewöhnlich auf die Nerven, aber heute, als ich im Auto die verlassene Straße entlangfahre, empfinde ich beim Anblick der fröhlich blinkenden Lichter ein Gefühl innerer Ruhe. Wir sind wirklich in eine andere Zeit geraten.

Unerwarteterweise sehe ich Minimärkte, die noch geöffnet haben, und am Bürgersteig stehen Menschen, die Gemüse verkaufen. Ich kaufe ihnen etwas Pak Choi ab. Im Minimarkt besorge ich Eier und Milch (Eier finde ich erst im dritten Supermarkt). Ich frage die Verkäufer, ob sie keine Angst vor Ansteckung haben. Auch wir müssen leben, genau wie ihr, so ist es nun mal, bekomme ich zur Antwort. Sie haben ja so recht. Ich bewundere diese Vertreterinnen der arbeitenden Bevölkerung. Wenn ich mich ab und zu mit ihnen unterhalte, fühle ich mich auf eine merkwürdige Weise beruhigt und gestärkt. In den ersten Tagen der Panik sah man auf den verlassenen Straßen im kalten Regen und Wind die Straßenreiniger pflichtbewusst und sorgfältig den Boden fegen. Bei ihrem Anblick schämte ich mich, und meine Angst und Nervosität waren von einem Moment auf den anderen verschwunden.

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