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29 Das Leben steckt voller Schwierigkeiten, aber irgendein Weg findet sich immer

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Entsprechend chinesischer Tradition geht das Neujahrsfest erst heute wirklich zu Ende. Ich ziehe beim Aufstehen die Vorhänge zurück, ein strahlender Himmel wie im Frühsommer, das Gemüt erhellt sich auf einen Schlag. Wie sehr brauchen wir diese Sonnenstrahlen, um den trüben Dunst zu vertreiben, der über der ganzen Stadt liegt, um uns aus unserer Depression und unserem seelischen Schmerz zu lösen.

Nach dem Frühstück der Blick in die Nachrichten, ich bin erleichtert, viele positive Nachrichten im Netz. Unter guten Nachrichten verstehe ich: merkliche Verbesserung der Lage trotz anhaltender Schwere der Epidemie.

Zusammenfassend lässt sich Folgendes sagen: Erstens, die Zunahme der Verdachtsfälle außerhalb der Provinz Hubei verringert sich erheblich. Zweitens, die Zahlen der bestätigten Erkrankungen und der Verdachtsfälle in der Provinz Hubei gehen zurück. Drittens, im ganzen Land (einschließlich der Provinz Hubei) nimmt die Zahl neuer Schwererkrankungen rasant ab. Das sind wirklich erfreuliche und Hoffnung bereitende Nachrichten. Nach meiner Kenntnis sind alle leichten Erkrankungen heilbar, es sterben zumeist Schwererkrankte, deren Behandlung verschleppt wurde. Viertens, die Zahl der Geheilten wächst stetig, es wird sogar behauptet, dass sie inzwischen höher sei als die der bestätigten Erkrankungen. Ich bin nicht in der Lage, die Richtigkeit dieser Nachricht zu bestätigen. Aber wie auch immer, die vielen Geheilten bedeuten Hoffnung für alle Erkrankten. Fünftens, die klinischen Tests an Patienten mit dem amerikanischen antivirologischen Medikament Remdesivir zeigen positive Resultate. Sogar bei akut Erkrankten zeigen sich nach Einnahme des Medikaments Zustandsverbesserungen. Sechstens, es spricht einiges dafür, dass bei der Entwicklung der Epidemie in circa zehn Tagen eine Wende eintritt. Sollte diese Nachricht zutreffen, wäre sie eine gewaltige Ermutigung. All die aufgeführten Informationen stammen von Bekannten und Freunden unterschiedlichster Profession. Meiner Ansicht nach sind die Quellen verlässlich. Ich zumindest vertraue ihnen.

Betrüblich ist, dass die Sterberate nicht abnimmt. Die meisten der Verstorbenen haben sich in der Frühphase der Epidemie infiziert, sie hatten keine Chance, in Krankenhäusern aufgenommen zu werden und erhielten keine effektive medizinische Behandlung, viele darunter sind ohne Diagnose aus dem Leben geschieden. Ich habe keine Ahnung, wie groß ihre Zahl ist.

Am Morgen höre ich den Mitschnitt eines Gesprächs, meinem Eindruck nach die Befragung einer weiblichen Angestellten einer Bestattungshalle durch einen Inspektionsbeamten. Die Angestellte ist von rascher Auffassungsgabe und klarem Verstand, ihre Sprache ist einfach und direkt, ein getreues Abbild der Li Baoli aus meinem Roman Ein gequältes Herz. Sie berichtet, dass die Mitarbeiter ohne Pause durcharbeiten müssen und sie selbst kurz vor dem Kollaps steht. In ihrer furiosen Schimpfkanonade fällt sie unter Nennung von Namen über die verdammten Bürokraten, die Hunde von Beamten, her, sie lässt sprichwörtlich die Sau raus. Es ist das zweite Video, das ich heute sehe, in dem wüst geschimpft wird.

Die Wuhaner sind direkt, neigen zu Blutsbrüderschaften, sind loyal gegenüber Freunden und unterstützen jederzeit die Regierung bereitwillig. Jeder hat um drei Ecken persönliche Beziehungen zu einem niedrigeren oder höheren Beamten, da ist man verpflichtet zu helfen. In einer derartigen Katastrophe hat man auf Biegen und Brechen durchzuhalten, egal wie schwer der Druck auf einem lastet. In diesem Punkt lobe ich mir meine Wuhaner. Aber irgendwann ist bei allem Einsatz ein Punkt erreicht, wo man seinen Frust ablassen muss. Ich reiße mir für dich die Beine aus, aber du musst mir gestatten zu schimpfen. Wenn Wuhaner anfangen, andere zu beschimpfen, gehen sie in die Vollen, sie zerreißen dich in der Luft, nicht das kleinste bisschen Gesicht lassen sie dir. Sie verfluchen dich bis ins x-te Glied, selbst deine Vorfahren werden nicht verschont. Ich denke, manche Leute haben es verdient, von den Wuhanern in Grund und Boden verflucht zu werden. Gib nicht den Wuhanern die Schuld, wenn deine Vorfahren in den Dreck gezogen werden, such die Schuld bei dir selbst, bei deiner Gedanken- und Verantwortungslosigkeit.

In den letzten Tagen rücken mir die Toten immer mehr auf den Leib. Die Cousine meiner Nachbarin ist gestorben. Der jüngere Bruder eines Bekannten ist gestorben. Vater, Mutter und Ehefrau eines Freundes sind gestorben, anschließend auch er selbst. Man kommt nicht mehr nach, sie zu beweinen. Auch in normalen Zeiten haben wir den Tod eines lieben Freundes, den Tod von unheilbar Kranken erlebt. Der enge Freund war am Ende seiner Kräfte, der Arzt am Ende seiner Kunst, man fügt sich in das Unvermeidbare. Obwohl wir dieser Entwicklung ohnmächtig gegenüberstehen, können wir sie zumeist akzeptieren, selbst der Kranke fügt sich allmählich ins Unvermeidliche. Aber im Fall der in der Frühphase der Epidemie Infizierten geht es nicht um das Sterben allein, sondern mehr noch um Verzweiflung, um die unerhörten Schreie nach Rettung, das erfolglose Flehen um ärztliche Hilfe, die Unmöglichkeit, an lebenswichtige Medikamente zu gelangen. Zu viele Kranke, zu wenige Betten, die Krankenhäuser waren darauf nicht im Geringsten vorbereitet. Denen, die keine Aufnahme fanden, blieb nur das Warten auf den Tod. All diese Kranken haben mit einem guten, geruhsamen Leben gerechnet; wirst du krank, suchst du den Arzt auf. Sie hatten keine Möglichkeit, sich innerlich aufs Sterben vorzubereiten, und haben sich nicht vorstellen können, eines Tages vergeblich um ärztliche Behandlung zu flehen. Ihr Schmerz und ihre Verzweiflung im Anblick des Todes müssen abgrundtief gewesen sein.

Heute unterhalte ich mich mit einem guten Bekannten über die Unmöglichkeit, angesichts der täglich eintreffenden Nachrichten den Gefühlen von Bedrückung und Trauer zu entkommen. Die Wendungen »keine Übertragung von Mensch zu Mensch« und »kontrollierbar und eindämmbar« haben sich in Blut und Tränen verwandelt, in grenzenlose Bitterkeit.

Liebe Netzzensoren, gewisse Dinge auszusprechen müsst ihr den Wuhanern gestatten. Das schafft ihnen etwas Erleichterung. Wir sind nun mehr als zehn Tage von der Außenwelt abgeschnitten, wir haben so viele menschliche Tragödien mit ansehen müssen. Wollt ihr ernsthaft, dass wir alle durchdrehen, weil ihr uns verbietet, unseren Kummer loszuwerden, indem ihr jeden Ausdruck von Unzufriedenheit und jede Reflexion unterdrückt? Lassen wir’s. Durchdrehen löst keine Probleme, was kümmert es sie, wenn wir krepieren. Kein Wort mehr darüber.

Wir werden an den Tagen, die noch vor uns liegen, weitermachen. Wir werden weiter nach Kräften mit der Regierung kooperieren. Wir werden uns weiter einriegeln und durchhalten – immer in der Hoffnung, dass der Wendepunkt nicht mehr lange auf sich warten lässt und die Abriegelung Wuhans baldmöglichst aufgehoben wird. Vor allem beten wir für die Genesung aller Erkrankten.

Mit zunehmender Zeit wird das Problem der Nahrungsmittelversorgung akut. Bemerkenswert ist, in wie vielen Wohnanlagen über Nacht fähige und tatkräftige Personen aus dem Boden zu schießen scheinen. Mein drittältester Bruder erzählt, dass sich in seiner Wohnanlage spontan eine Gruppe von Lebensmitteleinkäufern gebildet hat. Jeder, der dieser Gruppe beitritt, erhält eine Nummer und wird am kollektiven Lebensmitteleinkauf beteiligt. Jeder Haushalt hat einen nummerierten Beutel. Die Beutel werden mit den gekauften Lebensmitteln auf einem freien Platz in der Wohnanlage abgelegt, dann holen sich alle in der Reihenfolge der Nummern ihren Beutel ab, ohne sich zu begegnen. Ist man mit dem Einkauf nicht zufrieden, nimmt man zunächst seinen Beutel, begibt sich auf einen anderen freien Platz, ruft den Verantwortlichen an und verlangt Umtausch. Sie haben sich sogar ganze Einkaufsstrategien zurechtgelegt, das Ganze wird ein immer ausgefeilteres System. Auf diese Weise ist die Versorgung mit Lebensmitteln gesichert, ohne dass jeder einzeln in den Supermarkt gehen muss.

Auch in der Wohnanlage einer Kollegin etabliert sich jetzt so eine Einkaufsgruppe, sie kaufen kollektiv Schweinefleisch und Eier. Bestelllisten für unterschiedliche Menüs sind beigefügt, unterteilt nach in Streifen geschnittenem Fleisch, Hackfleisch, magerem Fleisch und Koteletts, Menge und Preis auf einen Blick klar überschaubar. Sobald sich 20 Personen zusammenfinden, wird die Arbeit aufgeteilt, nach der Anlieferung holt sich jeder seinen Teil ab. Die Kollegin fragt an, ob ich mitmachen will. Natürlich will ich. Schließlich haben wir noch zwei Wochen durchzustehen. Ich wähle eine Portion Schweinefleisch nach Menü C, insgesamt 199 Yuan. Das Leben steckt voller Schwierigkeiten, aber irgendein Weg findet sich immer.

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