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23 »Ich sehe die Not des Volkes, seufze, und kann meine Tränen nicht zurückhalten«

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Der zehnte Tag des Neujahrsfestes. Wieder ein strahlender Tag. Gestern dachte ich noch, dass es ununterbrochen weiter regnen würde, doch über Nacht ist der Himmel aufgeklart. Vielleicht erhellt der Sonnenschein das Gemüt der Menschen, die auf Behandlung warten, und schenkt ihnen ein wenig Wärme. Auf der Suche nach Hilfe tragen sie das Virus überall hin und stecken andere an. Wir alle wissen, keiner von ihnen tut das aus freien Stücken, aber es bleibt ihnen keine andere Wahl, wenn sie überleben wollen. Es gibt keinen anderen Weg. Wie kalt und düster muss es in ihnen aussehen, kälter noch als dieser eisige Winter. Ich hoffe sehr, dass diese Menschen unterwegs so wenig wie möglich leiden. Auch wenn kein Krankenbett für sie frei ist, bekommen sie zumindest die wärmenden Sonnenstrahlen.

Vom Bett aus greife ich zum Smartphone. Als Erstes lese ich vom Erdbeben in Chengdu in der Provinz Sichuan. Da das Erdbeben mehr Schrecken als Schaden anrichtete, kursieren bereits Witze. Einer davon: »Die 20000 in Chengdu lebenden Wuhaner konnten auf einen Schlag identifiziert werden, weil sie in Todesangst auf die Straße rannten, während die Alteingesessenen in ihren Wohnungen heiße Fußbäder nahmen.« Ich muss wider Willen darüber lachen. Der Witz hat bestimmt vielen Wuhanern an diesem Morgen einen unbeschwerten Moment geschenkt. Nur Sichuaner sind noch witziger als wir. Mein Dank an die Witzbolde.

Viele Videos im Netz wage ich nicht mehr anzuschauen. Sie sind zu traurig. Unsere Vernunft sagt uns, dass wir uns nicht nur mit tristen Dingen umgeben dürfen. Unser Leben geht weiter, auch wenn andere von uns gehen.

Ich hoffe nur, dass wir sie nicht vergessen, all die unbekannten Menschen, all die unnötig Gestorbenen, all die traurigen Tage und Nächte. Dass wir die Ursachen im Gedächtnis behalten, die dafür verantwortlich sind, warum sie an diesem eigentlich so frohen Neujahrsfest ihr Leben lassen mussten. Solange wir unser bescheidenes Leben fortsetzen, sind wir verpflichtet, Gerechtigkeit für sie einzufordern. Wir müssen all die Pflichtvergessenen, Untätigen und Verantwortungslosen ausfindig machen und ausnahmslos zur Rechenschaft ziehen, egal welche Positionen sie innehaben. Das ist die einzige Möglichkeit, vor den Menschen, die in Leichensäcken abtransportiert werden, bestehen zu können. Menschen, mit denen wir gemeinsam die Stadt Wuhan geschaffen und ihre Errungenschaften genossen haben.

Ich schaue mir ein offizielles Video der Stadt Wuhan an. Es ist nicht schlecht gemacht, es zeigt die gegenwärtig in Wuhan herrschende Stille und Leere, als habe man auf die Stopptaste gedrückt. Das stimmt, Wuhan wurde angehalten, für die Menschen in den Leichensäcken allerdings für immer. Ach, wie schwer muss es für die Leute sein, die in diesen Zeiten in den Krematorien arbeiten. Sie dagegen sagen: Kümmert euch mehr um die Ärzte, sie sorgen sich um die Lebenden.

Am Nachmittag erkundige ich mich bei einem befreundeten Arzt über die aktuelle Lage. Er arbeitet an vorderster Front. Dennoch nimmt er sich irgendwie Zeit, um meine Fragen zu beantworten. Wir sprechen viele Themen an, ich versuche die wichtigsten Punkte zusammenzufassen:

Erstens: Die Situation in Wuhan gebe keinerlei Anlass zu Optimismus, die Lage sei nach wie vor äußerst ernst. Das medizinische Material befände sich im Zustand »knapper Balance«. Ich höre den Begriff zum ersten Mal, nach meinem Verständnis heißt das, es ist knapp, aber reicht gerade noch aus. Doch bestehe die Gefahr, dass diese Balance bald kippen könnte. Nach Auskunft des Arztes reichen die Bestände noch zwei bis drei Tage.

Zweitens: Die Gemeindekrankenhäuser in den Vierteln hätten mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen, sie seien an sich schlechter ausgestattet, man habe sie vernachlässigt, sie verfügten über geringe medizinische Ressourcen. Mein Bekannter bittet mich, dazu aufzurufen, diesen Krankenhäusern mehr Beachtung zu schenken. Doch er erzählt auch, dass die Behörden an der Basis, die Verwaltungen der Stadtviertel und der ländlichen Gemeinden sehr gute Arbeit leisteten, sich viel Mühe gäben und dort die Isolierung der Kranken besser funktioniere als auf der Ebene der Stadt Wuhan.

Drittens: Es sei keine Option, Patienten mit Fieber in die Gemeindekrankenhäuser zu verlegen, ohne sie vorher zu testen. Dort fehle es an Spezialisten und Schutzausrüstung, man würde die Kräfte dort überfordern. Hinzu käme, dass das Personal dort selbst Angst vor einer Infektion habe, was die Sache nicht einfacher mache. Das stimmt, denke ich, solche Fehlentscheidungen würden dazu führen, dass der Ansteckungskreis sich erweitert und weitere Familien infiziert werden.

Viertens: Die Ärzte in den Krankenhäusern arbeiteten unter Hochdruck, und ärztliches Personal aus anderen Abteilungen werde an die Epidemiefront verlegt. Es würden allerdings bis jetzt nur Patienten behandelt, die stationär aufgenommen seien, die Zahl der Infizierten und der Verdachtsfälle steige explosionsartig. (Ich habe nicht gewagt zu fragen, ob man überhaupt dazu kommt, Neuinfizierte zu behandeln.)

Fünftens: Er schätzt, dass die Zahl der Infizierten am Ende erschreckend hoch sein wird. In einer Sache ist er sehr entschieden: »Die Epidemie kann nur eingedämmt werden, wenn alle stationär aufgenommen werden, die stationär behandelt werden müssen, und alle isoliert, die isoliert werden müssen.« Man könne sich drehen und wenden, wie man wolle, es sei die einzige Methode, die helfe.

Nun, betrachtet man die letztlich getroffenen Maßnahmen, scheint das auch die Regierung verstanden zu haben.

Beim Ausbruch der Epidemie, von der anfänglichen Ausbreitung bis zur jetzigen Explosion, haben wir die Situation zuerst falsch eingeschätzt, dann verschleppt und schließlich falsch gehandelt. Wir haben es versäumt, dem Virus zuvorzukommen und rennen seither ständig hinter ihm her. Dafür zahlen wir einen enorm hohen Preis. Sich Schritt für Schritt voranzutasten hat sich gegenüber einer aggressiven Epidemie als falscher Ansatz erwiesen. Wir machen nicht zum ersten Mal so etwas durch. Warum hat man keine Lehren aus der Vergangenheit gezogen? Hätte es nicht genügt, die alten Hausaufgaben zu kopieren? Vielleicht stelle ich mir das auch zu einfach vor.

In einem weiteren Video von heute wird eine Familie gezeigt, die über die Brücke fährt, die von Chongqing in die Provinz Guizhou führt. Im Auto befindet sich ein Ehepaar mit Kindern (wie viele es sind, kann man nicht genau erkennen). Der Mann kommt aus Chongqing, die Frau aus Guizhou. Nachdem sie die Brücke überquert haben und die Grenze von Guizhou erreichen, wird dem Mann untersagt, Guizhou zu betreten. Die Frau allerdings dürfe in ihre Heimatstadt. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als zu wenden. Auf der anderen Seite wird ihnen mitgeteilt, sie hätten Chongqing bereits verlassen, der Mann dürfe zurück, doch die Frau nicht. Der Mann sagt: »Wir dürfen nicht vor und nicht zurück. Sollen wir jetzt auf der Brücke leben?«

Man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll. Ich habe mal eine Novelle geschrieben mit dem Titel Die Belagerung der Stadt Wuchang. Sie handelt von der einmonatigen Belagerung Wuchangs durch eine Armee des Nordfeldzugs.21 Während der Belagerung starben unzählige Menschen in Wuchang an Hunger oder Krankheiten. Von Hankou und Hanyang aus wurden mehrere Rettungsversuche unternommen, und schließlich konnten sich beide Seiten einigen: Die Bewohner bekamen drei Tage Zeit, die Stadt zu verlassen. Die Belagerungsarmee unternahm keine Angriffe, die Verteidiger ließen sie passieren. Das war im Jahr 1926. Obwohl sich zwei Armeen bekriegten, konnte man sich in diesem Punkt einigen. Und heute kann man nicht einmal bei einer derartigen Kleinigkeit ein Auge zudrücken? Möglichkeiten gibt es genug! Wie die Geschichte der Familie ausgegangen ist, weiß ich nicht.

»Ich sehe die Not des Volkes, seufze, und kann meine Tränen nicht zurückhalten« – dieser Satz des Dichters Qu Yuan wird in den letzten Tagen viel zitiert.

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