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211 Die Ankunft neuen Lebens ist die größte Hoffnung, die uns der Himmel schenkt

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Das Wetter wie gestern, trübe, aber nicht finster.

Mittags sehe ich auf dem Foto einer von Japanern gespendeten Hilfslieferung den Vers: Geteilt durch blaue Berge teilen wir Wolken und Regen, wie sollte sich das Licht des einen Mondes auf zwei Dörfer aufteilen?27 Ich bin gerührt. Außerdem sehe ich ein Video mit der Dankesrede Joaquin Phoenix’ bei der Oscar-Verleihung. Er erklärt mit tränenerstickter Stimme, dass er für all diejenigen, die keine Stimme haben, sprechen möchte. Auch das rührt mich. Des Weiteren finde ich in einem Artikel ein Zitat Victor Hugos: »Es gibt ein Schweigen, das lügt.« Diesmal bin ich nicht gerührt, sondern beschämt.

Ja, ich kann mich nur schämen.

Ich habe keine Lust mehr auf weitere Videos mit Hilferufen oder Schimpfkanonaden. Ich kenne mich, ich mag noch so rational sein, momentan gerate ich an die Grenzen dessen, was ich ertragen kann. Für Leute, die weit weniger Verstandesmenschen sind als ich, gilt das vermutlich noch mehr. Wir müssen jetzt dringend erhobenen Hauptes nach Hoffnung Ausschau halten. Unseren Blick auf Menschen richten, die trotz aller Schwierigkeiten weiterkämpfen, wie zum Beispiel diejenigen, die gerade das Leishenshan- und das Huoshenshan-Krankenhaus gebaut haben. Auf diejenigen, die ums tägliche Überleben kämpfen und dennoch ihren Beitrag leisten, wie zum Beispiel die alten Leute, die in bitterer Armut leben und dennoch ihre gesamten Lebensersparnisse spenden. (Ich unterstütze den Aufruf, solche Gelder nicht anzunehmen.) Auf die zahllosen Menschen, die zu Tode erschöpft dennoch auf ihrem Posten ausharren, wie zum Beispiel die der Ansteckungsgefahr trotzenden Ärzte und Krankenschwestern. Nicht zu vergessen die Tag und Nacht für die Bereitstellung von Dienstleistungen durch die Straßen eilenden ehrenamtlichen Freiwilligen. Und auf viele andere mehr. Wenn ihr auf sie blickt, wird euch klar werden, dass wir uns in diesem Moment nicht erlauben dürfen, in Panik zu geraten oder zusammenzubrechen, andernfalls wären all ihre Anstrengungen vergebens. Gleichgültig, wie viele Elendsvideos, wie viele furchteinflößende Gerüchte uns erreichen: Wir dürfen weder in Panik verfallen noch zusammenbrechen. Das Einzige, was wir tun können: uns selbst und unsere Familienangehörigen schützen. Den Anweisungen Folge leisten, hundertprozentig kooperieren, die Zähne zusammenbeißen und die Wohnungstür fest verschlossen halten. Heule und schreie, wenn dir danach zumute ist, kümmere dich nicht mehr um den Stand der Epidemie, wenn dir’s zu viel wird, das ist alles in Ordnung. Sieh fern oder schau dir Filme an, zieh dir diese dämlichen Unterhaltungsprogramme rein, über die du früher endlos geschimpft hast, tu alles, was dir hilft, diese Prüfung zu überstehen. Darin besteht wahrscheinlich der Beitrag, den wir leisten müssen.

Im Übrigen wendet sich die Lage tatsächlich gerade zum Besseren. Zwar weniger rasch, als wir es uns gewünscht haben, aber ist es nicht das, worauf wir hoffen? In den Provinzen außerhalb Hubeis hat die Epidemie bereits ihren Wendepunkt erreicht, und Hubei schreitet dank der allseitigen Unterstützung mit großen Schritten darauf zu. Heute haben bereits zahlreiche Personen die Behelfskrankenhäuser verlassen können. Auf den Gesichtern der Geheilten liegt ein Lächeln, kein erzwungenes, sondern ein von Herzen kommendes. Dieses Lächeln konnte man vor nicht allzu langer Zeit überall auf den Straßen sehen, aber heute wirkt es, als käme es aus längst vergessenen Zeiten. Doch bin ich sicher, dieser Neubeginn wird das Lächeln sehr bald wieder auf unsere Straßen zurückbringen.

Weil wir gerade davon sprechen, ich lebe schon über 60 Jahre in Wuhan. Ich habe die Stadt nie mehr verlassen, seit ich als Zweijährige mit meinen Eltern von Nanjing hierhergezogen bin. Hier habe ich den Kindergarten, die Grundschule, die Mittelschule und die Universität besucht, hier habe ich angefangen zu arbeiten, als Packerin (im Viertel Baibuting!), als Reporterin, als Redakteurin, als Schriftstellerin. 30 Jahre habe ich in Hankou nördlich und ebenso lange in Wuchang südlich des Yangtze-Stroms gelebt. Aufgewachsen bin ich im Bezirk Jiang’an, studiert habe ich im Bezirk Hongshan, gearbeitet im Bezirk Jianghan, niedergelassen habe ich mich im Bezirk Wuchang, und in den Bezirk Jiangxia ziehe ich mich zum Schreiben zurück. In den 30 Jahren nach meinem Hochschulabschluss habe ich in verschiedenen Funktionen an zahllosen Versammlungen und Konferenzen teilgenommen. Noch in den verstecktesten Winkeln der Stadt finde ich Nachbarn, Kommilitonen, Arbeits- und Schriftstellerkollegen, Bekannte, Freunde, sogar Menschen, die ich auf Tagungen kennengelernt habe. Ich stolpere buchstäblich an jeder Straßenbiegung über Bekannte. Mir fällt ein, dass ich auch den Vater der jungen Frau kenne, die unter Tränen für ihn um Hilfe rief und die wie ich ein Netztagebuch schreibt. Er war auch Schriftsteller. Als ich in den achtziger Jahren fürs Fernsehen gearbeitet habe, hatte ich Kontakt mit ihm. In den vergangenen Tagen ist mir sein Bild ständig im Kopf herumgeschwirrt. Wäre er jetzt nicht gestorben, hätte ich ihn womöglich vollständig vergessen.

Ich betone stets, dass die Wurzelfasern all meiner Erinnerungen in den Tiefen dieser Stadt verankert sind, sie haben sich durch all diese Bekanntschaften von frühester Kindheit bis ins Alter ausgebreitet. Ich bin eine waschechte Wuhanerin. Vor zwei Tagen hat mir eine Netzbekannte auf Sixin einen kurzen Abschnitt eines Textes geschickt, den ich längst aus dem Gedächtnis verloren hatte. Er stammt aus einer von Chen Xiaoqing moderierten Dokumentarsendung des Zentralfernsehens mit dem Titel Ein Mensch und seine Stadt irgendwann aus dem vorigen Jahrhundert, zu der ich den Text über Wuhan beigetragen habe. Ich habe damals geschrieben: »Ich frage mich manchmal selbst, was ich letztlich an der Stadt mag. Verglichen mit vielen anderen Städten auf der Welt ist Wuhan kein sonderlich angenehmer Ort, vor allem ist das Klima unerträglich. Ist es seine Geschichte, sein kulturelles Erbe? Sein Lokalkolorit? Oder sind es Glanz und Schimmer seiner Seen und Berge? Nichts davon. Die Ursache meiner Liebe zur Stadt ist meine Vertrautheit. Unter allen Städten der Welt fände ich mich nur hier zurecht. So als kämen mir Massen von Menschen entgegen, und unter den unzähligen fremden Gesichtern würde mir ein einziges vertrautes entgegen lachen: das Gesicht Wuhans.« Ich erinnere mich, dass mich der Maler Tang Xiaohe nach der Ausstrahlung der Sendung anrief, um mir zu meinem Text zu gratulieren. Ich hätte genau das ausgedrückt, was er und seine Frau Cheng Li empfänden. Die beiden leben noch länger als ich in Wuhan und sind noch mehr in der Wolle gefärbte Wuhaner.

Und weil wir schon so lange hier ansässig und mit unzähligen Menschen Wuhans so eng verbunden sind, liegt uns das Schicksal der Stadt so sehr am Herzen, teilen wir ihr Leid und ihre tiefe Trauer. Diese natürlichen, offenherzigen, so gern grundlos laut lachenden Wuhaner mit ihrer stakkatohaften Sprechweise, die Auswärtigen glauben macht, sie stritten sich; diese Wuhaner mit ihrem explosiven Temperament, ihrer blutsbrüderlichen Loyalität, ihrem Selbstbewusstsein, das sich weder auf Position noch auf Herkunft oder Vermögen gründet – nur wer sie gründlich kennt, weiß, wie herzlich und aufrichtig sie sind und wie gern sie sich cool geben. Aber heute leiden viele unter ihnen oder kämpfen mit dem Tod. Und ich bzw. wir können ihnen nicht im Geringsten helfen. Wir können uns höchstens im Netz vorsichtig nach ihrem Befinden erkundigen. Und manchmal wagen wir nicht einmal das – aus Furcht, keine Antwort zu erhalten.

Vermutlich kann niemand, der nicht seine Lebenszeit in Wuhan verbracht hat, diese Stimmung nachvollziehen und diesen Schmerz verstehen. Seit 20 Tagen schlafe ich ohne Schlaftabletten nicht mehr ein. Ich werfe mir selbst vor, nicht mutig genug zu sein.

Schluss damit.

Am Nachmittag koche ich mir vier Gerichte, die für die nächsten drei Tage reichen sollen. Seit einigen Tagen gebe ich mir mit dem Kochen keine Mühe mehr. Auch den Reis koche ich auf Vorrat. Das Futter für meinen 16 Jahre alten Hund ist auch zur Neige gegangen. Er ist am Weihnachtstag des Jahres 2003 geboren, eine Art Weihnachtsgeschenk. Damals musste ich mich gerade einer Operation unterziehen. Meine Tochter war allein zu Hause, freudig überrascht und zugleich verängstigt sah sie zu, wie die Welpen eins nach dem anderen zur Welt kamen. Das kleine weiße Hündchen wurde auserwählt, bei uns zu bleiben, weil es aussah wie ein Spielzeughund. Und nun lebt er seit 16 vollen Jahren bei mir. Vor dem Neujahrsfest habe ich bei Taobao Hundefutter für ihn bestellt, aber es wurde bis heute nicht geliefert. Der Versand, sagt der Absender, sei unmöglich. Am Tag vor der Abriegelung habe ich eigens noch welches in der Tierklinik gekauft. Jetzt stellt sich heraus, dass es nicht ausreicht. Der Tierarzt in der Klinik erklärt mir am Telefon, ich solle ihm Reis zu essen geben, das sei ausreichend. Also achte ich beim Reiskochen darauf, dass auch für ihn eine Portion dabei ist.

Beim Kochen erhalte ich den Anruf einer Kollegin: Ihre Kommilitonin hat heute in einer gynäkologischen Klinik komplikationslos per Kaiserschnitt ein acht Pfund schweres Pummelchen zur Welt gebracht. Die Ankunft eines neuen Lebens stimme einen fröhlich, sagt sie.

Das ist die beste Nachricht des Tages. Stimmt, keine größere Hoffnung schenkt uns der Himmel als die Ankunft eines neuen Lebens.

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