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Sonntag, 21. Dezember 2014. Sonntag, 21. Dezember 2014.
ОглавлениеLotta erwacht mit einem Lächeln im Gesicht. Gemütlich eingekuschelt in eine dicke Daunendecke liegt sie im Giebelzimmer von ‚Haus Westwind‘ und hört draußen den Sturm in den Baumwipfeln pfeifen.
Das alte Haus ist in beeindruckend gutem Zustand, lediglich eine Scheibe im vorderen Fenster des angebauten Schuppens ist kaputt und durch eine gut verklebte Abdeckplane ersetzt.
„Das hat mein Sohn Gerrit gemacht“, hat die alte Frau Raake gesagt, die im nicht weit entfernten ‚Haus Seemöwe‘ am Wiesenweg den Schlüssel verwahrt hat. Lotta ist die gemütliche rundliche Endsechzigerin auf Anhieb sympathisch gewesen mit ihrem graumelierten rotblonden Kurzhaarschnitt und den wachen blauen Augen.
In Anbetracht der vorgerückten Abendstunde hat sie sich jedoch schon nach wenigen Minuten verabschiedet und ist im ‚Haus Westwind‘ verschwunden. Um acht, haben die Jungs gesagt. Sebastian hat Lotta den ganzen Weg, vom Bahnhof durch die Fußgängerzone und die Süderstraße bis zum Wiesenweg hinunter, bearbeitet, bis Lotta schließlich doch zugestimmt hat, am Abend dem Italiener am Neuen Leuchtturm einen Besuch abzustatten.
So hat sie nur einen kurzen Rundgang durchs Haus gemacht, um zu prüfen, dass wirklich überall die Fenster in Ordnung sind und auch die Wasserhähne sauberes Wasser ausspucken. Pünktlich um fünf nach acht haben die Jungs an die Haustür geklopft und sie zur besten Pizza Margarita entführt, die sie außerhalb Italiens je gegessen hat.
Den ganzen Abend über hat Lotta sich mehr mit dem fröhlichen Sebastian als mit Moritz unterhalten, der zumeist schweigsam daneben gesessen und nur ab und zu eine Frage oder eine knappe Antwort eingeworfen hat. So hat sie von Basti erfahren, dass beide aus Bremen stammen und seit der Grundschule die besten Freunde sind.
„Für mich“, hat Basti nach den Antipasti mit Blick auf Moritz gelacht, „wird er immer ‚Momo‘ bleiben, auch wenn er heutzutage lieber ‚Mo‘ genannt werden würde, weil das erwachsener klingt. Weißt du, Kumpel, du solltest einfach anfangen, nur noch auf ‚Mo‘ zu hören. In ein paar Jahren hat’s dann vielleicht auch der Letzte – nämlich: ich – begriffen und hält sich dran.“
„Du?“ hat Moritz trocken erwidert. „Du kannst dich doch morgens nicht mal an deinen eigenen Namen erinnern. Und ich meine nicht, weil du einen gewaltigen Kater hast. Prost, mein Freund!“
Lotta seufzt leise in sich hinein und rollt sich gemütlich auf die Seite. In Gegenwart der beiden hat sie sich wohl gefühlt, sauwohl. Aber ohne Sebastian neben ihr hätte sie bestimmt kaum ein Wort herausbekommen. Sie hat es vermieden, Moritz direkt anzusehen, um ihren Atem nicht allzu oft stocken zu lassen. Denn dass er weder schwul noch in festen Händen ist, hat Sebastian wie beiläufig verraten, als er seinen besten Freund mit dem strahlenden Lächeln der jungen Kellnerin aufgezogen hat.
Bei je einer riesigen Portion Tiramisu und zwei bis fünf Sambuca haben sie den Abend gemütlich ausklingen lassen, bevor Lotta sich – zugegebenermaßen leicht schwankend, sie ist Alkohol einfach nicht gewohnt – von Sebastian am Arm zurück zum ‚Haus Westwind‘ hat führen lassen.
„Warme Träume“, hat er ihr mit einem verschmitzten Zwinkern gewünscht, bevor er ihr einen nach Anis duftenden Kuss auf die von Wind und Kälte gerötete Wange gehaucht hat.
„Danke, gleichfalls“, ist alles gewesen, wozu sie imstande gewesen ist, bevor Moritz sie in einer kurzen, freundschaftlichen Umarmung an sich gezogen hat. Der Anis-Duft ist bei ihm nicht so stark gewesen, obwohl er genauso viel wie Basti getrunken hat. Aber ein angenehm winterlicher Geruch nach Zimt und Sandelholz hat den Sambuca-Duft spielend überlagert.
„Bis morgen“, hat er leise an ihrem Ohr gesagt, bevor er sie wieder losgelassen hat. Sie erinnert sich vage, dass sie beinah gestürzt wäre. Mit wackligen Knien sind die zwei Stufen bis zur Eingangstür von ‚Haus Westwind‘ nur schwer zu bewältigen gewesen. Doch mit ihrem eisernen Willen hat Lotta sie dennoch gemeistert, ohne sich zu blamieren. Mit einem letzten Winken, das eher an Moritz als an Basti gerichtet gewesen ist, hat sie sich von den beiden verabschiedet und die Tür hinter sich geschlossen.
Ihr Blick fällt auf das hellblau gestrichene Nachtschränkchen mit der Leselampe darauf, deren Fuß eine hölzerne Möwe bildet. Direkt davor liegen zwei Zimtstangen, die sie gestern abend noch aus einem der Küchenschränke gezogen und mit ins Giebelzimmer genommen hat. Kein Wunder, dass sie gut geschlafen und nur von Moritz geträumt hat. Und was für Träume…
Bevor sie sich erneut im faszinierenden Malachitgrün seiner Augen verlieren und sich in seine starken Arme träumen kann, stützt Lotta sich seufzend auf den Ellenbogen und richtet sich im Bett auf.
Vor dem Fenster an der Stirnseite des gemütlichen Giebelzimmers schwanken die kahlen Äste von Nussbäumen im frischen Morgenwind. Laut Wettervorhersage soll es heute noch mehr stürmen als gestern. Ein perfekter Tag für Butter-stollen und Ostfriesentee mit Milch von glücklichen Kühen und den typischen, Kluntjes genannten, Zuckerkristallen.
Doch dafür muss sie erstmal den Supermarkt wiederfinden, den Sebastian ihr gestern im Vorbeigehen gezeigt hat. Tee und Zucker gibt es genug im Einbauschrank unter der Dachschräge in der Küche. Aber mit Milch und Christstollen sieht es mager aus, weshalb sie beides auf ihren mentalen Einkaufszettel aufnimmt. Was den Tee angeht, so wird sich schon etwas finden in all den leicht angerosteten Tee-Dosen; und sollten diese zu muffig riechen, wird das kleine Teegeschäft an der Fußgängerstraße sicherlich etwas Passendes haben.
Barfuß tappt Lotta über die kühlen Holzdielen zum Waschtisch hinüber, um sich mit einem Schwall kalten Wassers mitten ins Gesicht munter zu machen; ihre morgendliche Routine, um in Hamburg frisch und wach zur Arbeit fahren zu können. Doch auf Borkum ist alles anders. Hier klappert sie mit den Zähnen und lässt sich, ganz gegen ihre Gewohnheit, lauwarmes Wasser ein.
Mit dem Geschmack von Spearmint im Mund und der kratzigen warmen Wolldecke vom Fußende des Bettes um die Schultern steigt sie wenig später die steile Treppe ins Erdgeschoss hinunter und macht sich auf die Suche nach dem Badezimmer. Es gibt insgesamt zwei, so erinnert sie sich dunkel an ihre schnelle Erkundungstour vom Vortag. Doch wo sind sie abgeblieben?
Als sie zum zweiten Mal in die Vorratskammer neben der Küche blickt und ungeduldig von einem kalten Bein aufs andere tritt, klopft es an die Haustür. Verdutzt blickt Lotta durch den Flur und erkennt hinter dem milchigen Glas der Scheibe eine große Gestalt mit offiziell wirkender Mütze auf dem Kopf. Ein uniformierter Kollege, allem Anschein nach. Aber was will er hier?
Während sie noch überlegt, ob sie so wie sie ist im Nachthemd und mit der Wolldecke um die Schultern die Tür öffnen soll, bückt sich die Gestalt vor der milchigen Scheibe. Der Briefschlitz klappert, bevor etwas Kleines, Weißes auf die ausgetretenen Holzdielen neben der Fußmatte flattert. Dann ist der uniformierte Schatten verschwunden.
Vorsichtig balanciert Lotta auf Zehenspitzen durch den kalten Flur und hebt das auf, was dort so unschuldig neben der Fußmatte liegt. Es ist eine Visitenkarte mit dem Wappen der Insel auf der einen Seite über dem Schriftzug Polizei Borkum, mit Polizeimeister Gerrit Raake und einer Mobilnummer darunter. Auf der weißen Rückseite stehen handschriftlich sechs Worte: Bitte melden Sie sich bei mir. Soso, der Sohn der gemütlichen Frau Raake ist also ein Kollege.
„Jetzt rächt es sich“, denkt Lotta, während sie mit der Karte in der Hand zurück in Richtung Küche geht. „Ohne Festnetz und Ladegerät auf einer Insel, warum habe ich überhaupt mein Handy mitgenommen?“
Nachdenklich legt sie die Visitenkarte auf den Tisch und geht zurück in den Flur. Das Bedürfnis ist mittlerweile sehr dringend geworden. Rasch wirft sie einen prüfenden Blick ins Wohnzimmer, von dem nur eine weitere Tür in ein kleines Lesezimmer mit deckenhohen Regalen voller gebundener Bücher abgeht.
Zwischen Küche und Treppe ins obere Stockwerk, in dem kein Badezimmer ist, steht sie wieder an der offenen Verbindungstür zum Flur, hinter der sie dieses Mal mit einem erlösten Seufzen die vermisste Badezimmertür entdeckt.
Nachdem sie in der frei stehenden Badewanne geduscht und sich ein frisches Polohemd zur verwaschenen Jeans des Vortags übergezogen hat, wirft sie noch einen Blick in den Gang zur Hintertür, durch die man in die Waschküche und den rückwärtigen Garten gelangt. Was sie für einen zweiten Vorratsraum gehalten hat, entpuppt sich als Duschbad mit Toilette.
Bei einer wärmenden Tasse Kräutertee mit Fenchel und Anis, dem einzigen und letzten Tee, der nicht wie muffiger alter Faulschlamm riecht, sitzt Lotta wenig später am altersdunklen Eichentisch auf der Küchenbank und starrt erneut nachdenklich auf die Visitenkarte.
Was wohl passiert ist, dass man sie über die hiesige Dienststelle kontaktiert? Noch dazu an einem Sonntag. Dabei hat der Chef doch ausdrücklich gesagt, sie solle nicht vor dem fünften Januar wieder auf der Wache erscheinen…
Es hilft nichts, sie muss sich wohl melden bei diesem PM Gerrit Raake. Innerlich grinsend, dass sie an ihrer Uniform zwar ein Sternchen weniger, dafür aber als Einsteiger in den gehobenen Polizeidienst schon eine höhere Besoldungsstufe hat, nimmt sie ihre dicke goldbraune Daunenjacke vom Haken.
Mit der warmen Wollmütze in freundlichem Taubenblau auf dem kurzen Haar und schwarzen, cashmere-gefütterten Lederhandschuhen an den schlanken Händen schließt sie die Haustür ab und stapft in ihren warmen Winterschuhen die Süderstraße hinunter in Richtung Bahnhof.
Irgendwo dort, zwischen den Schienen und dem gewaltigen Neuen Leuchtturm, glaubt sie gestern Abend den wohlbekannten Schriftzug auf dunkelblauem Grund gesehen zu haben.
Nicht weit entfernt muss auch das kleine Tee-Geschäft sein, wo sie sich mit Nachschub versorgen kann. Die Tee-Dosen ihrer Großmutter stehen allesamt unangetastet im Einbauschrank in der Küche und warten darauf, in den Müll entleert zu werden.
*****
„Was ist denn mit dir los?“
Moritz fühlt sich nachdrücklich am Arm gerüttelt, sodass der starke Schwarztee in seinem Becher gefährlich zu schwappen beginnt. Überrascht blickt er auf und in Sebastians fragendes Gesicht.
„Lotta?“ fragt Sebastian mit verhaltenem Grinsen.
„Sie ist seltsam, nicht wahr?“
„Seltsam?“ Sebastians Grinsen wird breiter. „Soso. ‚Seltsam‘ ist sie also.“
Moritz versteht nicht gleich, sondern starrt gedankenverloren aus dem Fenster auf die windgepeitschten Wellen am Südstrand. Es wird wieder ein stürmischer Tag werden.
„Träumst du noch von ihr?“ neckt Sebastian und zwinkert Moritz zu. Als dieser nicht antwortet, kichert Sebastian fröhlich in sich hinein und fährt gut gelaunt fort: „Also hat’s diesmal dich erwischt, Kumpel. Und wie’s aussieht, ganz schön heftig, nicht wahr?“
„Hm“, macht Moritz und senkt den Blick auf die wie sturmbewegte Oberfläche seines Tees. ‚Ganz schön heftig‘, das ist die Untertreibung des Jahrhunderts. Die ganze Nacht hat er von ihr geträumt. Beim Aufwachen hat er im ersten Moment gar geglaubt, ihren zierlichen Körper neben sich zu spüren.
Mit klopfendem Herzen und schnellem Atem ist ihm der feuchte Fleck in seinen sportlichen schwarzen Pants erst aufgefallen, als er im Badezimmer unter die Dusche steigen wollte. Ist er etwa schon so ausgehungert, dass ein Bambi-Blick aus haselnussbraunen Knopfaugen ihn so um den Verstand bringen kann?
Wenn er nur daran denkt, sie heute nachmittag zum Adventstee mit Stollen und Lebkuchen im ‚Haus Westwind‘ wiederzusehen, wird ihm ganz heiß. Aber bis dahin sind es noch einige Stunden, in denen sie zunächst einkaufen (gleich zu allererst Lebkuchen) und dann etwas lernen müssen, um ihrer Abmachung und dem Plan bis zu den Prüfungen gerecht zu bleiben.
„Wenn du fertig bist“, hört er Sebastian mit belustigter Stimme aus dem Flur rufen, „dann komm in die Gänge, Kumpel. Es ist schon zehn Uhr durch.“
Schweigend schlendert Moritz wenige Minuten später, dick eingepackt in Schal, Mütze, Handschuhe und eine olivgrüne Daunenjacke, die auch den scharfen Wind abhält, neben seinem besten Freund her. Er bemerkt irritiert, dass Basti entgegen der Gewohnheit nicht die gesamte Süderstraße hinuntergeht, sondern an den Bahngleisen nach links abbiegt und dann die Neue Straße hinunter bis zum Rathaus nimmt.
Gerade als sie mit vollen Plastiktüten, in denen sich Lebkuchen für eine halbe Armee nebst Obst, Brot, Aufschnitt und Tee befindet, wieder hinaus auf die Straße treten, sieht Moritz sie. Wie vom Blitz getroffen bleibt er stehen, sodass Basti, der direkt hinter ihm ist, mit ihm zusammenstößt.
„Was ist denn? Warum gehst du nicht weiter?“
Anstelle einer Antwort deutet Moritz die Straße hinauf, wo sie in einiger Entfernung ein beleuchtbares Schild mit dem Wort Polizei darauf sehen können. Doch das ist es nicht, was Moritz schockstarr an den Boden genagelt hat. Vielmehr ist es die zierliche Frau in goldbrauner Daunenjacke und taubenblauer Wollmütze, die soeben aus der Tür getreten ist und nun schnellen Schrittes in Richtung Bahnhof davongeht.
Kurz entschlossen packt Moritz seinen besten Freund am Arm und zieht ihn hinter sich her, immer Lotta hinterher, die schnurstracks auf den Zeitungskiosk neben der Insel-Apotheke zugeht und darin verschwindet. Schon von weitem kann Moritz die heutige Schlagzeile der Borkumer Zeitung lesen:
Lebensgefährlicher Sturm – 1 Tote, 4 Verletzte
Stumm macht er Basti darauf aufmerksam. Der nickt und sieht abwartend zur Tür des Kiosks, durch die in diesem Moment Lotta wieder auf die Straße tritt, unter dem Arm eine zusammengefaltete Zeitung.
Sie wirft einen raschen Blick über die Schulter und geht dann zielstrebig an den Bahnschienen entlang bis zur Fußgängerzone. Moritz und Sebastian folgen ihr automatisch, aber auf der anderen Straßenseite. Als sie die Sparkasse an der Ecke erreicht haben, bleiben sie stehen und schauen sich vorsichtig um. Lotta ist in dem Teegeschäft gegenüber verschwunden.
Während sie noch darauf zugehen und sich die draußen ausgestellten Borkum-Souvenirs ansehen, bemerkt Moritz einen Mann, der weniger an den glasierten Namenstassen als vielmehr an den Kunden im Geschäft interessiert scheint. Auf den zweiten Blick erkennt er, dass es der Mann ist, der Lotta am Schiff sein Rad in die Fersen geschoben hat. Wenn er sich nicht sehr täuscht, dann beobachtet der Mann nicht die quirlige Bedienung, die eine Teekiste nach der anderen aus den Regalen zieht, sondern Lotta, die an den diversen Schwarz- und Fruchttee-Mischungen schnuppert.
Stumm macht Moritz seinen besten Freund auf den merkwürdigen Mann aufmerksam, würde ihn aber am liebsten sofort auf den Mond schießen, als Basti gut gelaunt an den Mann gewandt sagt:
„Ja, das ist sie. Sie können sich gleich bei ihr entschuldigen.“
Der ältere Mann fährt herum und starrt Basti verständnislos an. Dann brummt er irgendetwas über „heutige Jugend“ in den Kragen seines dunklen Wintermantels, macht auf dem Absatz kehrt und geht zügig in Richtung Strandpromenade davon. Erstaunt blicken Moritz und Sebastian ihm nach und wandern langsam über die Bahnschienen hinüber zu den Fahrradständern.
„Komischer Typ“, konstatiert Basti kopfschüttelnd, als der Mann am oberen Ende der Fußgängerstraße verschwunden ist.
Moritz wendet sich um, schaut zum Teegeschäft hinüber und wandert langsam darauf zu. Sebastian tut es ihm gleich und setzt wie auf Knopfdruck sein fröhlichstes Lächeln auf, als er Lotta mit einer kleinen Plastiktüte aus dem Geschäft kommen sieht. Sie duftet nach Rosen, Zimt und Nelken.
„Na, so ein Zufall“, grinst Basti breit und macht trotz der schweren Einkaufstüte einen halbwegs gut gelungenen Diener.
Lotta lacht hell auf und lächelt ihn an. Als sie ihre Reh-Augen Moritz zuwendet und sich das Lächeln schlagartig zu einem Strahlen verwandelt, ist ihm, als ob sein Herz aus seinem Hals springen wolle. Ein, zweimal räuspert er sich, bevor er ein einigermaßen akzeptables „Hallo“ hervorbringt.
*****
Stirnrunzelnd liest Karl Jostermann die Schlagzeile. Einmal, zweimal und dann ein drittes Mal. Der Kaffeebecher in seiner Hand ist vergessen, während er mit seltsamer Distanz die Worte liest, die Gesche zu Papier gebracht hat.
Der Sturm hat Borkum fest in seinem Griff. Auch für die nächsten Tage wird Sturmtief „Engel“ weiter wüten und mit Böen um die 100 km/h über die Insel fegen.
Wie gefährlich es sein kann, sich bei diesem Unwetter allzu weit vom Schutz der Häuser zu entfernen, das beweisen die jüngsten Unglücksfälle.
Gestern nachmittag musste die Freiwillige Feuerwehr Borkum gleich zweimal ausrücken, um zwei vom Sturm verwehte Touristen aus den sumpfigen Dünen am Nordstrand zu retten. Wenige Stunden zuvor hatten die Rettungskräfte einer älteren Insulanerin zur Hilfe eilen müssen, die auf dem Ostland von einem umgestürzten Baum eingeklemmt worden war.
Bereits am Freitagabend wurden im Kurpark ein schwer verletzter Hund und eine ältere Frau mit Kopfverletzung aufgefunden. Der Hund befindet sich auf dem Wege der Besserung, während für die Insulanerin Margit Geedes (58) jede Hilfe zu spät kam. Die Beerdigung findet kommenden Samstag um 14:00 Uhr auf dem reformierten Friedhof an der Deichstraße statt.
Die Kurverwaltung Borkum gibt erneut die Warnung heraus, sich bei diesem Wetter…
Gesche hat Wort gehalten und sich an die Absprache mit Gerrit gehalten. So macht es tatsächlich den Anschein, als ob Margit ein Opfer des Sturmes geworden ist, ohne dass es ausdrücklich so geschrieben steht.
Nur wenige wissen, dass Gesche mit diesen wohlgewählten Worten eigentlich von einem Mord berichtet. Und das ist gut so, denn Karl hat auch so schon mehr als genug um die Ohren. Die Enkelkinder um sich zu haben, ist immer ein Erlebnis, auch wenn sie mit den Jahren zwar älter, aber keineswegs unkomplizierter geworden sind.
Mats erzählt ununterbrochen von seinem Dienst als Arzt im Praktikum am Universitätsklinikum von Hamburg, wo er im Frühjahr sein Physikum machen wird. Anders als vom Vater Martin gewünscht, der Neurologe an derselben Klinik ist, träumt Mats davon, Chirurg zu werden. Karl kann nicht recht verstehen, was dem Jungen solchen Spaß bereitet, andere Menschen aufzuschneiden und in ihren Eingeweiden herumzuschnippeln. Aber solange Mats mit seiner Berufswahl zufrieden ist, soll es ihm recht sein.
Kai wiederum hat sich ebenfalls für Medizin entschieden, will aber Zahnarzt werden. Zunächst muss er sich jedoch, sehr zu seinem Leidwesen, mit seinen Kommilitonen an der Universität Hamburg durch die Grundlagen, inklusive Anatomie und Innere Medizin, quälen.
Die neunzehnjährige Linda schließlich liegt allen ständig in den Ohren, dass sie nach bestandenem Abitur im kommenden Sommer als Au-pair-Mädchen nach Schweden gehen will. Auch wenn sie diesen blonden Surflehrer bis heute nicht vergessen hat, so glaubt sie doch, sich unter den Nachfahren der Wikinger ein nicht minder hübsches Exemplar mit blonden Locken und sonnengebräuntem Athletenkörper aussuchen zu können.
Bisher hat Martin diesem Plan jedoch noch nicht zugestimmt; und Karl glaubt nicht daran, dass er es jemals tun wird. ‚Ein Glück‘, denkt er, ‚dass wenigstens der arme Pelle noch bis Mittwoch bei Heimke seine Ruhe hat vor dieser Rasselbande, die unser Haus auf den Kopf stellt.‘
Er schenkt sich eine zweite Tasse starken Ostfriesentee ein, lässt ein Stück Kluntjes hineinfallen und beobachtet einen Moment lang, wie der heiße Tee dem Zucker zusetzt. Ein leises Knacken ist zu vernehmen, als das erste Scheibchen vom Zuckerkristall abbricht und sich aufzulösen beginnt. Karl gibt einen kleinen Schuss Milch in den Becher und wartet, bis sich die weiße Flüssigkeit von selbst vollständig mit dem Tee vermischt hat.
Dann nimmt er einen vorsichtigen Schluck und blättert weiter in der Zeitung. Er überfliegt die Artikel, die Gesche und ihre drei Mitarbeiter sonst noch so verbrochen haben. Von ‚Besucherrekord während der Feiertage‘ ist dort zu lesen und davon, dass es in diesem Jahr genug Tannenbäume auf der Insel gibt.
Unter der Rubrik ‚Ditjes & Datjes‘ findet er die Notiz, dass Margits gemütliche kleine Dachgeschosswohnung in der Gartenstraße, unweit der Kirche, ab Januar zu vermieten sein wird. Ja, es muss weitergehen. Und gerade zur nächsten Sommersaison werden mit Bestimmtheit wieder alle verfügbaren Gästezimmer und Ferienwohnungen benötigt werden.
„Guten Morgen, Papa“, hört er die Stimme von Karin in seinem Rücken. „Hast du noch einen Becher Tee für mich übrig?“
„Selbstverständlich. Bediene dich.“
Mit einem langen Seufzer sinkt Karin auf einen der Küchenstühle aus hellem, sauber gebeiztem Nussholz, die Karl vor Jahren von Tischlermeister Jan Teese hat anfertigen lassen.
„Die rauben mir noch den letzten Nerv“, murmelt Karin und wirft einen Blick zur Küchendecke, wo über den altersdunklen Eichenbalken das Getrappel von mehreren Füßen zu hören ist. Offenbar sind die Kinder wach und streiten sich um die Badezimmerzeit.
Karl hört das wütende Zuschlagen von Türen, dann Lindas schrilles Kreischen, das in das Wutgeheul eines der Jungen übergeht. ‚Geschwisterliebe‘, denkt Karl kopfschüttelnd und nimmt einen tiefen Schluck aus seinem Teebecher, während ihm leises Wasserrauschen über seinem Kopf verrät, dass es zumindest eines seiner Enkelkinder bis unter die Dusche geschafft hat, begleitet von Schimpfwörtern und lautstarkem Klopfen gegen die Badezimmertür. Es wird wohl noch etwas dauern, bis die jungen Herrschaften sich an die Insel mit ihrer Ruhe und Gelassenheit gewöhnt haben.
„Du hättest sie erleben sollen“, fährt Karin müde fort und nimmt einen vorsichtigen Schluck vom heißen Tee, den sie wegen ihrer Laktoseintoleranz ohne Milch, dafür aber mit drei Süßstofftabletten trinkt. „Sie haben den Aufstand geprobt und wollten partout nicht ins Auto einsteigen. Halb Halstenbek haben sie zusammengebrüllt, sodass unsere neugierige Nachbarin Frau Schultz schon dabei war, die Polizei zu verständigen.“
„Tja“, kommt Martins verschlafene Stimme von der Tür her, „man sollte nicht meinen, dass sie inzwischen erwachsen sind. Sie benehmen sich keinesfalls so. Ich frage mich manchmal, wer das ist, der am Klinikum so gewissenhaft seine Ausbildung macht, aber zuhause sofort wieder zu ‚Mats dem Monster‘ mutiert. Und jetzt will er auch noch ausziehen, ja, schau nicht so, Karin. Hat er mir eben gesagt, oder besser zugerufen.“
„Damit du deinen Satz von ‚Beine unter meinem Tisch…‘ nicht mehr sagen kannst“, mutmaßt Karin und gießt ihrem Mann einen Becher Tee mit Milch und zwei Stück Kluntjes ein.
„Vielleicht“, antwortet Martin und sinkt auf einen der anderen Stühle. „Und er hat auch Kai auf die Idee gebracht, dass eine Studentenbude doch was Tolles wäre. Ich sag dir, wenn auch noch Linda damit anfängt, dann meutere ich.“
„Wie geht es eigentlich mit ihr?“ fragt Karl, während Martin langsam seinen Tee zu trinken beginnt. „Hat sie aus der Sache im Sommer was gelernt?“
Schulterzucken der Eltern ist auch eine Antwort. Irgendwie hat Karl es schon geahnt, dass es mehr als ein gebrochenes Handgelenk und eine Gehirnerschütterung braucht, um Linda wieder zur Vernunft zu bringen. Warum sonst ist sie gleich gestern abend noch, dem Sturm zum Trotz, die Süderstraße hinunter gelaufen bis zur alten Signalstelle?
„Vielleicht ist das eine Erfahrung“, überlegt Karl in seinen halbvollen Teebecher hinein, „die junge Mädchen machen müssen. Dann wird es beim nächsten Mal nicht so schlimm, wenn sie sich in den nächsten jungen Burschen verkuckt.“
„Dein Wort in Gottes Ohr, Papa“, seufzt Karin und leert ihren Teebecher. „Was hast du eigentlich zum Frühstück im Haus?“
Ohne auf eine Antwort zu warten steht sie auf und öffnet die Küchenschränke, den Brotkasten und den Kühlschrank. Mit ein paar Scheiben geschnittenem Lotsenbrot, einem Glas Erdbeermarmelade und einem Rest kalt geräucherter Mettwurst kehrt sie an den Tisch zurück. Martin bedient sich selbst, während Karl dankbar ein Marmeladenbrot entgegen nimmt.
„Schicken wir doch das junge Gemüse zum Einkaufen“, schlägt Karl vor, als über ihnen wieder das Trappeln von mehreren Füßen zu vernehmen ist. Das Wasserrauschen der Dusche hat aufgehört, dafür klappert nun Keramik, gefolgt von der Toilettenspülung.
„Typisch Linda“, murmelt Martin kopfschüttelnd. „Sie denkt nur an sich, nicht an ihre Brüder, geschweige denn ihre Eltern.“
„Ich schreibe eine Einkaufsliste“, nimmt Karin den Vorschlag ihres Vaters auf und angelt nach Papier und Bleistift, die neben dem Toaster auf der Fensterbank liegen. „Dann sollen sie sich zusammenraufen und zum Supermarkt gehen und einkaufen.“
„Du meinst, in der Öffentlichkeit werden sie sich besser benehmen?“ fragt Martin ungläubig. „Na, wir können’s ja versuchen.“
*****