Читать книгу Im Schatten des Deiches - Fee-Christine Aks - Страница 6

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Der kalte Abendwind frischte auf. Hier oben auf der Strandpromenade wehte der mitunter eisige Nordwest mit aller Macht, während er die schäumenden Wellen unten zwischen den dunklen Buhnen gewaltsam an den Strand trieb.

Eine dünne Mondsichel blitzte zwischen den düsteren Wolkenfetzen hindurch und warf unstete Schatten auf den asphaltierten Weg, auf dem bei diesem fast orkanartigen Wind und zu so später Stunde kaum noch jemand unterwegs war.

Einzig der große kräftige Mann im halblangen schwarzen Wintermantel stand oben auf der Deichkrone am Ende eines gewundenen Fußpfades, der in den dunklen Kurpark hinunter führte, und genoss mit tief in die Stirn gezogener schwarzer Wollmütze und hochgeschlagenem Kragen die kalte Abendluft und die steife Brise um seine gerötete Nasenspitze.

Wenngleich er den Kragen hochgeschlagen hatte, feste schwarze Winterschuhe trug und seine kräftigen Hände in warmen Handschuhen aus schwarzem Leder steckten, fröstelte er leicht. Nur einen Schritt weiter, und der Wind würde wie mit mächtigen Händen nach ihm greifen.

Doch obwohl er wusste, dass er dieser Macht widerstehen konnte, blieb der Mann, wo er war, und schaute stumm hinaus auf die aufgewühlte Nordsee. Dann wandte er den Blick nach links und ließ seinen Blick die Promenade entlang schweifen bis zum fernen Ende, wo hinter der ‚Heimlichen Liebe‘ der Südstrand begann, von dem nur der Deich den Garten seines Hauses trennte.

Auch wenn es zu weit entfernt war, sah er die Stelle in allen Einzelheiten vor seinem geistigen Auge: den Fuß des neuen Deiches, nah am schmalen Fußweg, der zum Südbad führte.

Dort war es gewesen; heute war es eine seiner Lieblingsstellen auf Borkum, der alten Insel, die seit langem den Naturgewalten trotzte und längst zu seiner Heimat geworden war, auch wenn er auf dem Festland geboren worden war.

Er hatte nie wirklich hierher gehört, aber er hatte sich arrangiert; genau wie er sich immer arrangiert hatte, mit jeder neuen Situation. Ein leiser Seufzer hob die breite Brust des Mannes, während er sich langsam umwandte und den Fußpfad hinunter ging.

Er humpelte leicht, doch war es längst nicht mehr so schlimm wie vor achtzehn Jahren, an jenem Tag, an dem diese Frau seinem bisherigen Leben ein Ende bereitet hatte. Diese schrecklich neugierige Frau war es auch gewesen, die ihm heute diesen Schock versetzt hatte. Sie wusste es. Er musste sie loswerden, ein für alle Mal. Sie war an allem schuld.

Er spürte, wie Wut und Rachedurst in ihm zu brodeln begannen. Warum nur hatte sie ausgerechnet zu jener späten Stunde dort vorbeigehen müssen, wo er gerade dabei gewesen war, seine Spuren zu verwischen? Warum nur hatte er damals gezögert und sich nicht gleich auf sie gestürzt?

Wie so oft schob er es auf die unerträglichen Schmerzen, die ihn in Sicherheit hatten kriechen lassen. Aber im Nachhinein schalt er sich einen Dummkopf, nicht an Ort und Stelle diese lästige Zeugin beseitigt zu haben. Dann hätte es das kurze Gespräch heute nicht gegeben. Sie wäre nicht allein in den frühen Abend hinausgegangen, während er ihr tatenlos hinterher sah. Er hatte nichts tun können, vor aller Augen in dem gemütlichen kleinen Café. Denn er musste unauffällig bleiben, damit niemand außer dieser Frau auf die Idee kommen würde, dass er…

Er musste handeln, umgehend. Auf die alten Teedosen und die Einweckgläser konnte er nun nicht mehr hoffen, das dauerte zu lange. Er musste sie beseitigen, so schnell es ging. Er war gut darin, im Beseitigen von Beweisen. Seit mehr als zwanzig Jahren war er ein Meister im Verwischen von Spuren und im Davonkommen.

Nie war ihm jemand auf die Schliche gekommen. Er war ein geachtetes Mitglied der Gemeinde, vielleicht nicht geschätzt, aber immerhin geduldet und mit dem nötigen Respekt behandelt. Erst gestern wieder hatte der Junge von Bakker ihm Achtung gezollt, als er ihm den Tannenbaum ins Haus gebracht und im Wohnzimmer aufgestellt hatte. Und der junge Henry stand seinem Vater in Ansehen und materiellem Besitz in kaum etwas nach. Sein Respekt war schwer erworben, aber hoch geschätzt.

Seufzend zwang der Mann sein heißer gewordenes Blut zur Ruhe, ging langsam den Pfad entlang, bog rechts ab und schlug den Weg direkt hinter dem Deich ein, seinen Lieblingsweg.

Auch hier hatte er bereits erfolgreich Spuren verwischt und hatte der Polizei ein Schnippchen geschlagen. Er kicherte innerlich, als er an dem grünen Behälter vorbeiging, der jetzt im Winter zum Aufbewahren von Streusalz genutzt wurde. Im Sommer war es jedoch nichts mehr als ein großer grüner Behälter, leer, wie er nur zu gut wusste.

Gedankenverloren musterte er den dicken Ast, den jemand offenbar erst vor kurzem vom Weg geräumt und an den grünen Behälter gelehnt hatte. Mit nachdenklich gerunzelter Stirn nahm der Mann den dicken Ast auf und wog ihn prüfend in den Händen. Eine perfekte Form, beinah eine Keule…

Gerade als er wieder auf den Weg treten wollte, klirrte etwas leise zu seinen Füßen. Er bückte sich und tastete im dürren Gras umher, bis das Leder seiner Handschuhe an etwas Hartes stieß, das sich beim näheren Befühlen als kleiner Anker aus Metall mit einem gebrochenen Ring daran herausstellte.

Wenn er sich nicht sehr täuschte, dann war es einer der Anhänger, wie er sie an den Schlüsseln zu den Ferienwohnungen von ‚Haus Nordstern‘ gesehen hatte. Möglicherweise war es aber auch der Junge Jaan gewesen, der ihn beim Wegräumen des Astes verloren hatte.

Andererseits trieb der Junge sich meist am Südstrand herum, zumindest hatte der Mann ihn schon des Öfteren und mit leichter Besorgnis dort gesehen. Bisher war es jedoch nicht nötig gewesen, den Jungen zu verscheuchen; nicht solange er nicht anfing, an einer bestimmten Stelle herumzulungern...

Mit einem leisen Klingeln ließ der Mann den kleinen Anker zurück ins trockene Gras gleiten und überlegte einen Moment lang, was den Jungen wohl immer wieder dorthin ziehen mochte. Ahnte er etwa, dass sich das Schicksal seiner heute schwachsinnigen Mutter dort ganz in der Nähe gewendet hatte?

Aber nein, er konnte es nicht wissen. Niemand war ihm je auf die Schliche gekommen, auch wenn es gerade damals nur sein unendlich großes Glück und sein eiserner Wille gewesen waren, die ihn vor Entdeckung gerettet hatten.

Langsam ging der Mann weiter, vorbei an dem grünen Streusalzbehälter, den Weg hinab. Den Ast nahm er mit und schwang ihn gelangweilt neben sich her. Eine Handvoll graubraune Wildkaninchen hoppelten über den schmalen, sauber gepflasterten Weg und verschwanden lautlos zwischen den winterlich kahlen Büschen rechts und links des Weges.

Gelangweilt sah der Mann ihnen hinterher, sah gleichgültig, wie sie mit den dürren Zweigen verschmolzen und eins zu werden schienen mit dem Dickicht, auch an jener Stelle, an der er jedes Mal im Vorbeigehen unwillkürlich einen Blick über die Schulter warf, bevor er sich ein leises Lächeln erlaubte.

Dies war eine von ‚seinen‘ Stellen, im Schatten des Deiches, und das gleich im zweifachen Sinne. Hier hatte sein unbeschwertes Leben als respektierter Mann begonnen, das er bis zu Lenas Verrat glücklich und zufrieden geführt hatte.

Genau wie drüben am Südstrand war dies aber auch ein Ort seines Triumphes und ein Beispiel für sein Geschick, der Polizei nicht aufzufallen und trotzdem zu tun, was er wollte. Sie hatte sich nicht gewehrt, weil er ihr überlegen gewesen war; denn genau wie Lena war Sabinchen vor allem eines gewesen: ein widerspenstiges Frauenzimmer, das bestraft werden musste…

Gerade wollte er sich ein Lächeln gestatten und mit verlangsamten Schritten dort vorbeigehen, wo er im fahlen Licht des sichelförmigen Mondes einen, von geblümtem Stoff kaum bedeckten zierlichen Körper hinter dem Gestrüpp zu erkennen glaubte, da hörte er ein Geräusch.

Unwillkürlich blieb er stehen, genau dort vor ‚seiner‘ Stelle, und lauschte. Es mussten Schritte sein, die sich stetig näherten. Sie kamen den Weg herauf, langsam und von einem leicht schleppenden Geräusch begleitet. Er kannte diese Schritte, da war er sich sicher.

Einen schrecklichen Augenblick lang glaubte er, es wären ‚jene‘ Schritte, die er schon einmal hier gehört hatte, damals vor zweiundzwanzig Jahren. Kam sie zu ihm, im fahlen Mondlicht, um ihn zu sich zu holen?

Fast meinte er, die hagere Gestalt zwischen den kahlen Büschen auftauchen zu sehen. Doch sie war es nicht, konnte es nicht sein. Das wusste er; keiner wusste es so gut wie er, dass sie nicht hier sein konnte. Schließlich lag sie dort draußen, im tieferen Wasser irgendwo weit entfernt hinter einer Sandbank, die man vom Südstrand aus gerade noch so mit bloßem Auge erkennen konnte. Vielleicht hatte aber auch die Ebbe sie noch weiter hinaus getragen, hinaus in die offene See. Er wusste es nicht. Und es kümmerte ihn nicht, wichtig war nur, dass sie weg war, ein für alle Mal. Er hatte dafür gesorgt, dass sie seinem Glück nicht im Wege stehen konnte. Er hatte sich befreit, für ein Leben mit ihr, seiner großen Liebe, seiner Lena.

Die Schritte kamen näher, sodass er zwischen den kahlen Zweigen der Büsche undeutlich eine kleine Gestalt im dicken Daunenmantel ausmachen konnte. Eine Frau, der Figur nach zu urteilen. Aber nicht irgendeine Frau. Der schäbige grüne Filzhut mit der Möwenfeder, den sie auf ihren silberdurchwirkten goldbraunen Locken trug, war nicht zu verkennen.

Unwillkürlich verspürte er einen Schmerz zwischen den Beinen, auch wenn das, was ihm damals den Schmerz verursacht hatte, nicht mehr da war. Es war ihre Schuld. Und dafür musste sie bezahlen, das hatte er sich bereits geschworen an jenem Tag, an dem er herausgefunden hatte, dass sie es damals gewesen war, die geschrien und ihn damit beinah enttarnt hatte.

Der Mann schloss mit einem stummen Seufzer die Augen und spürte, wie in ihm die aufgestaute Wut und der Rachedurst erneut emporbrodelten. Dies war seine Chance, jetzt und hier. Es war eine Fügung des Schicksals, dass er sie hier traf, ausgerechnet hier. Es war an der Zeit.

Mit einem zufriedenen Lächeln schob er den Arm mit dem Ast außer Sicht hinter seinen Rücken und wartete. Sie kam auf ihn zu, und sie konnte ihm nicht entkommen. Diesmal nicht.

*****

Meine liebe Märit,

wenn du diese Zeilen liest, heißt das, dass es schlimm ausgegangen ist. Es ist nur eine ganz einfache Frage, die ich stellen muss; aber sie entscheidet alles. Dafür brauche ich weder einen Doktor, noch geistlichen Beistand. Wenn meine Schlussfolgerungen richtig sind, dann werde ich dem grässlichen Spuk heute ein Ende bereiten, ein für alle Mal.

Es ist riskant, ja. Er ist ein gefährlicher Mann. Aber ich muss es dennoch tun. Das bin ich ihr schuldig; ihr, den Mädchen und auch unserer Kleinen. Sie wird es verstehen. Versprich mir, dass du ihr diesen Brief geben wirst, wenn du zu Weihnachten nichts von mir hörst. Sag ihr, dass ich sie von Herzen lieb hab, so als wäre sie mein eigenes Kind. Und, in gewissem Sinne, ist sie das ja auch, nicht wahr?

Sag ihr, sie soll sich in Acht nehmen; denn wenn ich scheitere, dann wird es an ihr sein, das Geheimnis zu enthüllen. Es tut mir in der Seele weh, aber ich weiß, dass sie es schaffen wird. Sie ist eine Kämpferin, genau wie ihre Mutter.

Sag ihr, sie soll die Geschichte lesen, die vom Hauke Haien; sie wird wissen, wo sie zu suchen hat. Im Schatten des Deiches steht sein Haus.

Doch sie soll sich vorsehen, sag ihr das.

Zuviel Neugier, zu viele Fragen können mehr Gefahr als Antworten bringen. Erinnere dich an Jane Eyre und wie sehr es dich gegruselt hat, ihre Geschichte zu lesen. Auch wenn es hier bei uns etwas beschaulicher zugeht, so unterschätzt doch niemals die Urgewalten, die auf der Insel herrschen. Wir sind wahrlich „Ruhend inmitten der Wogen“.

Falls wir uns nicht mehr hören, wünsche ich euch ein gesegnetes und frohes Weihnachtsfest.

Alles Liebe,

M

P.S.: Ich sehe ihn kommen. Es ist seine gewohnte Zeit, nachmittags um viertel nach fünf, wie immer zum Tee im Stübchen bei Windbeuteln mit Schlagsahne. Es ist an der Zeit, ihm die Frage zu stellen…

*****

Pelle zieht und zieht. Keuchend stemmt sich Karl Jostermann gegen den kalten Sturmwind, der hier oben auf der Strandpromenade mit ungehinderter Wut bläst, und versucht, die lederne Hundeleine nicht aus den klammen Fingern zu verlieren. Zwar ist Pelle nur ein Rauhaardackel, aber mit seinen vier Jahren stark genug, um einen schmal gewordenen, leicht humpelnden alten Mann wie ihn selbst nach Belieben durch die Gegend zu ziehen.

„Nun bleib doch, Pelle“, murmelt Karl in seinen Mantelkragen. „Wir haben es doch gleich geschafft.“

Wie jeden Abend nach dem Abendessen haben sie das kleine Häuschen nahe der Bahnschienen verlassen, sind die Süderstraße hinunter gegangen bis zur Heimlichen Liebe und haben ihre übliche Runde gedreht: dem Sturm zum Trotz die Strandpromenade entlang bis zum Gezeitenland und dann durch den Kurpark, Lüderitz und Deichstraße zurück zur Süderstraße.

Von Minute zu Minute wird der Sturm stärker. Vielleicht hätten sie doch eher losgehen sollen. Was zehn Minuten für einen Unterschied machen können. Aber Karin hat sich einfach nicht kürzer fassen können. Karl schüttelt stumm den Kopf, als er das Gespräch mit seiner Tochter im Geiste noch einmal Revue passieren lässt.

Dass Enkelsohn Mats mit seinen dreiundzwanzig Jahren nicht unbedingt Lust auf Inselweihnachten beim Großvater hat, hätte er sich denken können. Und auch die mäßige Begeisterung von Kai ist zu erwarten gewesen, der mit seinen einundzwanzig Jahren am liebsten über die Feiertage mit seinen Kumpels ein Häuschen in Dänemark gemietet und sich zwei Wochen lang überwiegend von Hochprozentigem ernährt hätte.

Aber dass auch der kleine Sonnenschein, die neunzehnjährige Linda, gemeutert haben soll, ist schwer vorstellbar. Nach dem Drama im Sommer, als sie sich unsterblich in diesen Straßenköter-blonden Surflehrer Sebastian verliebte, hat nicht nur Karl erwartet, dass sie deutlich mehr Zuneigung für die gute alte Insel empfinden würde.

So wird es bestimmt ein gezwungen fröhliches Beisammensein werden, wenn die Familie Hagelstein-Jostermann morgen mit der Fähre aus Emden auf der Insel eintrifft.

„Nun zieh nicht so, Pelle. Ich komme ja schon.“

Seufzend wirft Karl einen letzten Blick auf die sturmgepeitschten Wogen, die mit weißen Schaumkronen den Strand hinaufrollen. Dann biegt er in den zwei-Mann-breiten Weg ein, der zum Wellnesstempel hinaufführt. Wenige Meter später zweigt ein anderer, sauber gepflasterter Weg nach rechts ab, der direkt hinter dem Deich am Kletterpark vorbei bis zur Von-Frese-Straße verläuft.

Karl biegt ein, den japsenden Dackel an der Leine vorweg, und wendet sich gleich darauf nach links, wo ein weiterer Weg zur Kulturinsel hinüberführt. Doch Pelle beschnüffelt an der Abzweigung die Pflastersteine und folgt nicht.

„Komm schon, Pelle. Es wird kalt. Lass uns nach Hause gehen. Kaninchen kannst du ein anderes Mal jagen.“

Karl erlaubt sich ein amüsiertes Grinsen in den Kragen seines Mantels. Wie oft schon ist der Dackel mit flatternden Ohren und weit heraushängender Zunge hinter den Langohren her gelaufen, natürlich ohne jemals eines zu erwischen? Aber Hunde lernen es wohl nie. Kaninchen sind für sie wie Mäuse für Katzen.

„Komm jetzt, Pelle“, wiederholt Karl leicht genervt, als der Dackel aufgeregt an der Leine zieht und den Weg hinter dem Deich hinunterlaufen will.

Gerade will Karl zum Schelten ansetzen, da reißt sich Pelle los und hoppelt laut kläffend im schönsten Dackelgalopp den Weg hinunter. Karl blickt ihm einen Moment lang verdutzt hinterher. Dann wendet er sich ärgerlich um und geht mit raschen Schritten hinterher. Einmal pfeift er, zweimal. Pelle hört nicht.

„Verdammt nochmal, Pelle! Komm augenblicklich her! Herrchen ist sehr böse.“

Doch der Hund reagiert nicht. Leise in seinen Kragen fluchend geht Karl den dunklen Weg im Schatten des Deiches hinunter, auf dem nicht das geringste Anzeichen eines Dackels zu sehen ist.

„Pelle! Jetzt ist aber mal gut! Komm her, mein Freund!“

Der Hund reagiert immer noch nicht, auch wenn Karl nun unter dem heulenden Wind ein leises Jaulen vernehmen kann. Hat der Dackel sich etwa wehgetan? Womöglich hat er ein Kaninchen erwischt oder sich, mit weitaus höherer Wahrscheinlichkeit, selbst in einem engen Kaninchenbau gefangen. Was tut man nicht alles als Hundehalter, letzten Endes ist man immer Lebensretter.

Seufzend stapft Karl den dunklen Weg entlang, bis er plötzlich zwischen zwei Büschen ein großes unförmiges Ding sieht. Im ersten Moment zuckt er vor Schreck zusammen, weil er das Ding für ein riesiges kauerndes Tier hält. Dann erkennt er den Behälter für Streusalz, der unschuldig am Wegesrand steht.

Irgendwo dahinter ist das leise Jaulen zu vernehmen, das in ein jammerndes Fiepen übergeht. Offenbar hat der vorwitzige Dackel sich wirklich verletzt, und zwar schwer genug, um nicht aus eigener Kraft auf den Weg zurückkehren zu können. Besorgt geht Karl näher und starrt angestrengt in die Dunkelheit.

„Pelle?“ ruft er leise. „Gib Laut, Kleiner! Wo bist du denn?“

Als Antwort hört er von vorne links hinter dem Behälter ein zaghaftes Fiepen, das wie ein leiser Klagelaut klingt. Vorsichtig geht Karl näher und schaut um den Behälter herum. Dahinter ist nichts als totes Gras, der Fuß des Deiches, über den der Sturm hinweg heult. Schon will Karl zurück auf den Weg gehen und weiter unten nach dem Dackel sehen, da fällt sein Blick auf den dichten Busch, der neben dem Behälter den Weg säumt.

Die dürren Zweige sind winterkahl, aber so ineinander verfilzt, dass sie geradezu eine natürliche Wand zwischen Weg und Deich bilden. Die Dunkelheit ist hier besonders undurchdringlich im Schatten des Deiches. Dennoch nimmt Karl die zitternde Bewegung wahr. Es ist der Dackel, der dort auf dem trockenen toten Gras kauert und mit traurigen Hundeaugen zu ihm aufsieht.

Karl geht näher und erwartet, dass Pelle den Kopf hebt, aufsteht und langsam mit eingekniffenem Schwanz auf ihn zu gewackelt kommt. Doch der Dackel regt sich nicht. Stumm und stocksteif hockt er mit einem leisen traurigen Fiepen auf dem harten Boden und sieht Karl entgegen.

Vorsichtig geht Karl in die Hocke und streckt die Hand nach Pelle aus. Doch noch bevor seine Fingerspitzen die Hundeschnauze erreichen, fällt seinen Blick auf das längliche dunkle Bündel, das hinter dem Dackel liegt. Beinah ganz vom Busch verborgen liegt dort etwas, das beim flüchtigen Hinsehen nur ein kurzer dicker Baumstamm sein könnte – wären da nicht die dünnen Beine in weißen Strumpfhosen über winterlichen Lederschuhen, in denen sich bleiches Mondlicht spiegelt.

Mit einem entsetzten Schrei fährt Karl hoch, was der Hund im Angesicht des Todes mit einem stummen vorwurfsvollen Blick würdigt. Es dauert mehrere Augenblicke lang, bis Karl sich wieder so weit gefasst hat, dass er noch einmal hinsehen kann. Sein Herz rast.

„Hallo? Hören Sie mich?“

Es ist eine Frau im Daunenmantel, die dort am Fuße des Deiches liegt. Sie antwortet nicht. Sie kann gar nicht antworten, das wird Karl schlagartig bewusst, als er den dicken Ast sieht, der neben der Frau im toten Gras liegt. Ist das etwa Blut, was dort am einen Ende im fahlen Mondlicht schimmert?

„Pelle!“ keucht Karl leise. „Bleib hier. Wache hier, bis ich zurückkomme. Ich geh die Polizei holen. Bleib, Junge!“

Der Dackel reagiert nicht, folgt Karl aber traurig mit den Augen, als Karl sich langsam rückwärtsgehend zurückzieht. Er atmet einmal tief durch, bevor er sich zwingt einen Fuß vor den anderen zu setzen und den Weg hinabzugehen.

Wer wohnt am nächsten? Wen kann er herausklingeln um diese Zeit? Warum hat er nur keines dieser modernen tragbaren Telefone? Ob er es bis zur Polizeistation schafft, bevor er vor Schock zusammenklappt?

‚Eine tote Frau!‘ rasen die Gedanken durch seinen Kopf. ‚Offenbar ein Mord. Und das hier bei uns auf Borkum! Das darf doch nicht wahr sein!‘

Während er den Weg hinunterhastet und schließlich an der Bahnschranke anlangt und seinen Blick ratlos über die dunklen Häuser ringsum schweifen lässt, sieht er alles erneut deutlich vor seinem inneren Auge.

Eine Frau im Daunenmantel mit weißen Strumpfhosen und blanken Winterschuhen. Ein blutbeschmierter Ast neben ihr und etwas seltsam Unförmiges neben der Stelle, die ein Kopf mit dunklen Haaren sein könnte.

‚Wer tut so etwas?‘ wirbelt es ihm im Kopf herum, während er links abbiegt und auf den Neuen Leuchtturm zu eilt. ‚Herr Gott nochmal, ein Mord! Wir sind hier auf Borkum. Das darf doch nicht wahr sein!‘

Als er schließlich die Strandstraße erreicht, sieht er im Schein des sich stetig drehenden Leuchtfeuers eine dunkle Gestalt, die im Windschatten der Polizeistation von einem Fuß auf den anderen tritt. In gewissen Abständen glüht ein kleiner rötlicher Punkt in der Dunkelheit auf.

„Hallo!“ ruft Karl außer Atem. „Bist du das, Gerrit?“

„Wer ruft?“ ertönt eine erstaunte tiefe Stimme als Antwort. „Geben Sie sich zu erkennen. Augenblicklich!“

„Ich bin es“, antwortet Karl und eilt näher. „Karl Jostermann. Schnell, du musst mitkommen, Gerrit.“

„Moment, Moment“, erwidert der untersetzte Mann, der widerwillig aus dem Schatten des Hauses tritt und den Zigarettenstummel mit der Schuhspitze ausdrückt. „Ganz ruhig. Was ist denn los, Karl?“

„Sie ist tot! Schnell, komm mit mir!“

„Was? Tot? Wer ist tot?“

„Eine Frau. Im Kurpark. Hinterm Deich. Schnell.“

„Du lieber Himmel! Warte, ich sag rasch Claas Bescheid…“

Gerrit verschwindet für wenige Augenblicke im Inneren der Polizeistation, dann steht er wieder draußen vor der Tür und zieht den Reißverschluss seiner dicken schwarzen Lederjacke zu.

„Okay, Karl. Los, gehen wir.“

Schweigend hasten die beiden Männer an den Bahnschienen entlang bis zum großen Parkplatz unterhalb von Wellnesstempel und Kulturinsel. Mit heftigem Stechen in den Seiten eilt Karl voraus den schmalen Weg entlang bis zu der Stelle, an der er Pelle zurückgelassen hat.

„Pelle!“ ruft er leise. „Gib Laut, Junge. Wo bist du?“

Voraus in der Dunkelheit hört er das leise Fiepen des Dackels. Gerrit zieht eine starke Stabtaschenlampe aus der Jacke und leuchtet den Weg ab. Nach nur wenigen Metern erfasst der weiße Strahl den grünen Behälter mit Streusalz.

„Hier ist es“, keucht Karl und deutet auf den Busch links von dem Behälter.

Gerrit macht zwei große Schritte auf den Streusalzbehälter zu, Karl folgt etwas langsamer. Das Licht der Taschenlampe streift den Dackel, der immer noch mit traurigem Blick am Boden kauert. Entsetzt erkennt Karl das verkrustete Blut, das Pelles braungraues Fell hinter dem linken Ohr verklebt.

„Oh mein Gott, Pelle! Wer hat dir das angetan?“ flüstert er bestürzt und kniet neben seinem Hund nieder.

Der Dackel hebt mühsam den Kopf und macht Anstalten, den ausgestreckten Armen entgegen zu robben. Doch Karl ist schneller und hebt ihn vorsichtig vom kalten Boden auf, um den kleinen zitternden Körper sanft im Arm zu wiegen.

Gerrit leuchtet kurz den Hund ab, um sicherzugehen, dass Pelles Verletzung nur oberflächlich und nicht lebensbedrohlich ist. Dann gleitet der Lichtstrahl die weißen Strumpfhosen hinauf zum dunkelgrauen Daunenmantel und dem silbrig durchzogenen Haar, das unter dunkelgrünem Filz hervorquillt. Es ist ein Hut, den Karl sofort wiedererkennt.

„Großer Gott!“ flüstern beide Männer. „Margit!“

*****





Im Schatten des Deiches

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