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Doppelgänger

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Langsam wanderte der Mann durch die Neue Straße in Richtung Rathaus. Er bog in die Alte Schulstraße ein und erreichte wenige Minuten später den Bäcker am Bahnhofsplatz. Man grüßte ihn freundlich, aber nicht so herzlich wie andere Kunden, als er Borkumer Konfekt kaufte.

Mit einem höflichen Kopfnicken verabschiedete er sich von der molligen Verkäuferin und trat wieder hinaus auf den Bahnhofsplatz. Hier und da waren bereits einige Menschen auf den Beinen. In warme Winterkleidung eingepackt, gingen sie vom Bäcker zum kleinen Supermarkt, zur Apotheke und zum Teegeschäft an der Ecke der Fußgängerstraße.

Die Papiertüte unterm Arm, wollte der Mann sich gerade umwenden und am Supermarkt vorbei zurück in Richtung Neue Straße gehen, als sein Blick auf die Auslage des Zeitungskiosk und die heutige Schlagzeile der Borkumer Zeitung fiel. Kurz entschlossen änderte er seine Marschrichtung und schlenderte äußerlich ruhig und gefasst auf den Kiosk zu.

Ein älterer Mann, den er erst auf den zweiten Blick als den Wärter vom Neuen Leuchtturm erkannte, grüßte ihn höflich im Vorbeigehen, ebenso eine rundliche ältere Frau, die mit einem Päckchen Butterbrote hinüber zur Polizeiwache ging.

Um der Höflichkeit Genüge zu tun, neigte der Mann den Kopf und erwiderte stumm die morgendlichen Begrüßungen, bevor er die Tür zum Kiosk aufschob. Außer dem Verkäufer war niemand da, sodass er sich unwillkürlich dem freundlichen, aber oberflächlichen Geschnatter des Mittvierzigers ausgesetzt sah. Von seiner Katze, die sich einen Dorn eingetreten und von Tierärztin Heimke Duur behandelt worden war, erfuhr er ebenso wie vom bevorstehenden gemütlichen Adventstee im Borkumer Teestübchen und dem ersten Todesopfer des Sturmtiefs „Engel“.

Die Ladentür schellte, als der Mann gerade sein Wechselgeld einsteckte. Eine junge Frau in dicker goldbrauner Daunenjacke und taubenblauer Wollmütze war mit einem freundlichen „Guten Morgen“ hereingekommen.

Der Mann erstarrte. Sie war es. Oder doch nicht?

Als die junge Frau, die ihm kaum bis zur Schulter reichte, die Mütze abnahm und ihre kurzen kastanienbraunen Locken zurechtschüttelte, erwachte er aus seiner Starre. Sie war es nicht, konnte es nicht sein. Aber sie hatte eine unglaubliche Ähnlichkeit mit ihr…

Während die zierliche junge Frau eine Borkumer Zeitung kaufte und ein paar belanglose Floskeln mit dem Kioskbesitzer austauschte, stand der Mann vor dem Regal mit Magazinen über Angeln, Golf und Sportfliegen und spitzte die Ohren. Sogar die Stimme war ähnlich, vielleicht ein klein wenig tiefer. Aber die Frau hier musste älter sein, Anfang Zwanzig schätzungsweise. So gesehen, konnte sie es nicht sein. Dennoch musste er herausfinden, warum sie eine so verblüffende Ähnlichkeit mit Lena hatte. Er beschloss ihr zu folgen.

*****

Lottas Nase schwelgt in Teedüften. Die quirlige Bedienung in dem kleinen Teegeschäft an der Ecke zieht geduldig eine große Teekiste nach der anderen aus den Regalen und lässt Lotta jeweils an einer kleinen Schaufel voll schnuppern.

Rosengarten, zweimal ein halbes Pfund, bitte“, entscheidet Lotta. „Und dann noch von dem hier mit Rotbusch und Sanddorn und ein Pfund von der echten Ostfriesenmischung. Danke.“

Während die muntere Bedienung den Tee abwiegt, besieht Lotta die Angebote an Teegeschirr und anderen Utensilien, die zu einem gelungenen Teeaufguss gehören. Kurz entschlossen greift sie sich noch ein Glas mit Rum-Kandis und ein neues Teesieb. Alles andere ist in der Küche von ‚Haus Westwind‘ bereits in ausreichender Menge und Qualität vorhanden.

Mitten beim Auswählen der Kluntjes – Zitrone, Sanddorn oder doch lieber noch ein zweites mit Rum? – überfährt sie plötzlich ein kalter Schauer. Ihr ist, als ob sie beobachtet würde, beobachtet von unfreundlichen Augen. Doch als sie sich umdreht und aus dem Fenster blickt, ist niemand zu sehen, der sich für sie zu interessieren scheint. Dafür sieht sie auf der anderen Seite der Bahnschienen zwei bekannte Gestalten mit schweren Supermarkttüten in den Händen.

Ihr Herz macht einen freudigen Hüpfer, als Moritz – zu ihr? – herüberblickt. Sie beeilt sich, die zwei, in grobes Packpapier eingeschlagenen Kandis-Gläser in die Plastiktüte zu legen, damit sie nicht gegen einander schlagen, und bezahlt. Die Bedienung wünscht ihr einen fröhlichen vierten Advent und wendet sich dem nächsten Kunden zu.

Lotta schiebt die gefaltete Zeitung in die Tüte mit dem Tee, zieht Mütze und Handschuhe wieder an und verlässt das Teegeschäft. Sie überlegt kurz, ob sie so tun soll, als ob sie die beiden Jungs noch nicht gesehen hat, und einfach durch die Fußgängerstraße verschwinden kann. Doch da hebt Sebastian schon den freien Arm und winkt.

„Guten Morgen! Gut ausgeschlafen?“ ruft er im raschen Näherkommen.

Moritz folgt ihm etwas langsamer, da er zwei schwere Plastiktüten trägt. Doch auch er lächelt erfreut, als er bei Lotta angekommen ist. Sie spürt, wie sie unter seinem faszinierend grün-grauen Blick weiche Knie bekommt.

„Danke, wie ein Stein“, antwortet sie verspätet und an Sebastian gewandt. „Ihr hoffentlich auch.“

„Momo besser als ich“, grinst Sebastian und knufft seinen Freund kumpelhaft in die Seite. „Entschuldige, ‚Mo‘ wollte ich sagen.“

„Geht doch“, brummelt Moritz in den Kragen seiner olivgrünen Daunenjacke und wendet sich dann direkt, aber ohne sie anzusehen, an Lotta: „Bist du auf dem Weg nach Hause oder musst du noch einkaufen gehen?“

„Letzteres“, antwortet sie und fixiert einen Punkt irgendwo kurz neben seinem linken Ohr. „Aber ich schaffe das gut alleine, danke. Bringt ihr lieber euer Zeug nach Hause. Sieht schwer aus.“

„Wir sehen uns dann nachher gegen vier“, nickt Sebastian und stößt Moritz an, um ihn zum Gehen zu bewegen. „Oh verdammt!“

Er bricht ab und starrt die Fußgängerstraße hinunter. Lotta folgt seinem Blick und sieht drei junge Leute in Winterjacken heran kommen, zwei schlanke junge Männer und ein Mädchen im Oberstufenalter, die wie Geschwister aussehen. Alle drei tragen modische Boshi-Mützen auf ihren dunkelbraunen Haaren.

„Was macht die denn hier?“ flüstert Sebastian und will einen Schritt zur Seite treten, halb hinter Moritz und in den Sichtschatten des Teegeschäfts.

Doch das Mädchen hat ihn schon erspäht. Sie stockt für den Bruchteil einer Sekunde, dann löst sich ein Schrei aus ihrer Kehle, der Jubel, Sehnsucht, Schmerz und Hoffnung zugleich ausdrückt.

Im nächsten Augenblick ist sie heran und klammert sich wie eine Ertrinkende an Sebastian, der die Einkaufstüte zu Boden gleiten lässt und unter der stürmischen Begrüßung um sein Gleichgewicht bemüht ist.

„Ich habe es gewusst!“ flüstert das Mädchen mit Tränen in den Augen. „Du hast mich nicht vergessen.“

„Hallo Linda“, murmelt Sebastian und schiebt sie mit sanfter Gewalt auf Armeslänge von sich. „Was machst du denn hier?“

„Weihnachten bei Opa.“

„Aha.“

„Ja, freust du dich denn nicht, mich zu sehen?“

Mittlerweile sind auch die beiden jungen Männer heran und sehen mit einer gewissen Bestürzung von ihrer Schwester zu Sebastian und wieder zurück. Mit Stirnrunzeln bemerkt Lotta, dass ihre Mienen alles andere als freundlich sind. Ihre Neugier ist geweckt, was nicht nur ihrer beruflichen Ausrichtung geschuldet ist. Vielmehr spürt sie, dass hier einiges im Argen ist.

Moritz tritt ungeduldig von einem Bein aufs andere, während Sebastian sich schweigend aus dem Klammergriff der Mädchenhände auf seinen Unterarmen befreit und die Einkaufstüte wieder aufhebt.

„Wer ist denn das?“ fragt Linda angriffslustig, als sie Lotta bemerkt, die neben Moritz stehend die Szene verfolgt.

„Lotta“, antworten Sebastian und Moritz wie aus einem Mund.

Im nächsten Moment fühlt sich Lotta von Sebastian an sich gezogen. Sein freier Arm liegt besitzergreifend um ihre Taille, als er ihr einen flüchtigen Kuss auf die Nasenspitze haucht. Lotta ist zu perplex, um reagieren zu können. Dennoch nimmt sie mit einiger Überraschung zur Kenntnis, dass nicht nur Linda, sondern auch Moritz wie versteinert ist.

„Ach so“, macht Linda enttäuscht und mustert Lotta abschätzend. „Ich dachte, du stehst nicht auf Brünette. Was ist denn mit dieser, wie hieß sie noch gleich, Mager, äh, Marta? War das alles nur Show?“

Lotta muss sich ein Stirnrunzeln verkneifen. Innerlich streiten die Gefühle, ob sie Sebastian weiter schweigend helfen oder lieber ihrem Wahrheitsdrang folgen und klarstellen soll, dass sie keinesfalls mit Basti zusammen ist. Schon um diesen schrecklichen kalten Ausdruck aus den Augen von Moritz zu vertreiben. Erstaunt bemerkt sie, dass sich das herrliche Malachitgrün zu einem kalten, stürmischen Grau gewandelt hat. Er ist wütend, das spürt sie. Aber auf wen, auf seinen besten Freund oder sie selbst, das vermag sie nicht zu deuten.

„Komm, Linda“, mischt sich nun einer ihrer Brüder ein. „Lass uns gehen. Ich hab Hunger. Und Kai auch.“

Er wirft seinem Bruder einen auffordernden Blick zu, worauf dieser sofort nickt und die Hand seiner Schwester fasst. Er wedelt mit einer Einkaufsliste und ruckt mit Kopf hinüber zum Bäcker am Bahnhofsplatz.

„Da siehst du’s“, sagt der erste Bruder im Davongehen. „Er macht sich nichts aus dir, Linda, egal, wie sehr du ihn beeindrucken willst. Er ist halt doch nur ein windiger Surflehrer, ein Urlaubsflirt, der längst eine andere hat.“

Widerstrebend lässt sich Linda abführen, wobei sie immer wieder über die Schulter zu Sebastian zurückblickt, der seinen Arm solange um Lotta geschlungen lässt, bis die Geschwister nicht mehr zu sehen sind.

„Entschuldige“, sagt Sebastian kleinlaut und sieht Lotta an. „Ich musste schnell reagieren. Diese Linda…“, er seufzt traurig, „ist wie ein falscher Fuffziger, eine überaus anstrengende Klette. Man wird sie nicht wieder los.“

Lotta schweigt und wartet ab, ob er sich noch weiter erklären wird. Wie sie aus ihren bisherigen Verhören gelernt hat, ist es am besten, die Menschen einfach reden zu lassen, wenn sie einmal angefangen haben. Irgendwann kommt alles ans Tageslicht. Moritz sieht seinen Freund aufmerksam an, die Augen wieder ein dunkles sattes Malachitgrün, die Stirn glatt und die sanft geschwungenen Lippen nicht mehr zu einem schmalen Strich zusammengepresst.

„Ich habe sie im Sommer kennengelernt“, fährt Sebastian fort, während sie langsam die Fußgängerstraße hinunter gehen in Richtung des kleinen Supermarktes schräg gegenüber der Bank. „Sie hat bei mir Surfunterricht gehabt und einfach nicht verstanden, dass ich nichts von ihr will. Nicht mein Typ, sorry. Und außerdem war da Maja, meine heutige Freundin.“

Lotta nickt schweigend und fühlt sich nicht beleidigt. Er ist nicht der Erste, der mehr auf Blondinen als auf Brünette steht. Sie kann damit leben, solange sich nicht herausstellt, dass auch Moritz mehr Interesse an Rauschgoldengeln hat…

„Es war so schlimm“, ergänzt Sebastian, „dass ich schon kurz davor war, eine Anzeige wegen Stalking aufzugeben. Einmal hat sie sogar versucht, über die Feuerleiter zu unserer Ferienwohnung im Dachgeschoss der alten Signalstelle hinaufzuklettern.“

„Das Haus ihres Großvaters“, wirft Moritz ein, „liegt nur etwa hundert Meter die Straße runter, kurz vor den Bahnschienen.“

„Sie war irgendwie ständig da“, murmelt Sebastian, während sie das nach mild geräucherten Fischfrikadellen und Krabben riechende Fischgeschäft passieren. „Es war kaum auszuhalten. Bei dem Sturz von der Feuerleiter hat sie sich zum Glück nicht ernsthaft verletzt, Gehirnerschütterung und verstauchter Arm war es, glaube ich. Das war schon zum Ende der Sommerferien, die längsten sechs Wochen meines Lebens.“

„Und jetzt ist sie wieder hier“, stellt Lotta fest. „Was nun?“

Sebastian bleibt neben der Eingangstür des kleinen Supermarktes stehen und blickt sie nachdenklich an. Dann wirft er seinem besten Freund einen kurzen fragenden Blick zu. Moritz schüttelt kaum merklich den Kopf.

„Ich hoffe“, sagt Sebastian leise, „sie hat es jetzt endlich begriffen. Falls nicht, würdest du dann nochmal Theater spielen, wenn sie uns das nächste Mal über den Weg läuft?“

Lotta antwortet nicht, sondern sieht Moritz an, das erste Mal direkt ins Gesicht und in seine wunderschönen grüngrauen Augen.

*****

Es ist das erste Mal, dass Moritz seinem besten Freund am liebsten eine reinhauen möchte. Ganz kräftig und mit voller Absicht. Warum muss er Lotta da mit reinziehen?

‚Spiel meine Freundin‘, was für ein Vorschlag. Glücklicherweise antwortet Lotta nicht darauf. Schweigend wendet sie den Kopf und blickt ihn an, ja, ihn, Moritz! Das Haselnussbraun ihrer Augen leuchtet im Licht der Lichterketten, die am Eingang des Supermarktes Weihnachtsstimmung verbreiten sollen. Ihr Gesicht ist ein einziges Fragezeichen.

Moritz spürt ein Ziehen in der Herzgegend. Sie fragt ihn stumm nach seiner Meinung. Er will den Kopf schütteln, doch da öffnet sich die automatische Tür des Supermarktes und eine rundliche ältere Frau mit Einkaufstasche kommt mit leichtem Ächzen heraus.

„Oh, Lotta, Kind“, ruft sie und strahlt über das ganze runde Gesicht. „Einen fröhlichen vierten Advent. Hast du dich gut eingelebt in ‚Haus Westwind‘?“

„Ja, danke, Frau Raake.“

Moritz bemerkt schmunzelnd, wie wenig Lotta die Anrede ‚Kind‘ gefällt. Auch wenn keiner von ihnen sie bisher danach gefragt hat – man fragt schließlich keine Frau, wie alt sie ist – und sie es auch nicht von selbst angesprochen hat, so hält er sie doch für etwa gleichaltrig, vielleicht ein, zwei Jahre jünger als sich selbst, dichter an der Zwanzig als an der Fünfundzwanzig.

„Warst du schon bei Gerrit auf der Wache? Ja? Hat er dir erzählt, dass Juki und Janny heute morgen unten am Strand vor dem Gezeitenland zwei vom Sturm erschlagene Möwen gefunden haben? Es ist so schrecklich, was dieser Sturm alles anrichtet, nicht wahr? Das von der armen Margit hast du sicherlich auch schon gehört, traurig, nicht wahr?“

Lotta nickt, offenbar nicht gewillt, den Redefluss der rundlichen Frau zu unterbrechen. Moritz sieht, dass es in ihrem Gesicht arbeitet. Er wiederum versteht kein Wort. Wovon spricht diese Frau Raake? Woher weiß sie, dass Lotta heute morgen auf der Polizeiwache an der Strandstraße war? Warum eigentlich? Wer sind Juki – komischer Name – und Janny? Und wer ist diese Margit?

„Wenn du irgendetwas brauchst, Kind“, fährt die Frau in besorgtem Tonfall fort und mustert nun erstmals Sebastian, der ebenso ahnungslos neben Lotta steht wie Moritz selbst. „Die jungen Herren stehen dir bei, ja? Gut, gut. Dann will ich mal weiter. Guten Tag, Lotta, Kind. Und herzliches Beileid.“

Damit wendet sie sich um und geht, leise keuchend, die Fußgängerstraße hinunter in Richtung der Neuen Straße. Lotta sieht ihr mit gerunzelter Stirn hinterher, bis sie sich offenbar daran erinnert, dass Moritz und Sebastian immer noch neben ihr stehen.

„Wir sehen uns später“, sagt sie und wendet sich der automatischen Tür zu.

„Wieso ‚herzliches Beileid‘?“ fragt Sebastian. „Ich dachte, deine Großmutter ist schon letztes Jahr gestorben.“

Moritz würde ihn am liebsten kräftig vors Schienbein treten. Basti ist und bleibt ein Trampeltier, taktlos und direkt. Doch Lotta nickt nur, zieht die Zeitung hervor und sagt, mit einem Finger auf der Schlagzeile, leise: „Margit Geedes, das ist die Frau, die vorgestern tot aufgefunden wurde, war ihre unverheiratete Schwester, meine Großtante.“

*****

Im Schatten des Deiches

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