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Frauenlogik

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Der Wind frischte auf, als der Mann auf die einsame Strandpromenade einbog. Er wandte sich aus Gewohnheit nach links, um am Kurpark entlang in Richtung Südstrand zu gehen. Doch auf Höhe des Gezeitenlandes entschied er sich anders und betrat den Kurpark, genau wie an jenem Abend.

Hier im Schatten des Deiches war das Vorankommen einfacher, da der Wind über ihn hinwegblies. Weit und breit war kein lebendes Wesen zu sehen, nicht einmal eines der zahlreichen Kaninchen, die den Deich untergruben. Der Weg lag wie ausgestorben vor ihm, kein Grund zur Sorge.

Erst als er sich der besagten Stelle näherte und das Grün des Streusalzbehälters am Wegesrand aufblitzen sah, bemerkte er, was sich hier verändert hatte. Rings um das Grün des Behälters und die umliegenden Büsche am Fuße des Deiches war orange-weiß gestreiftes Absperrband gespannt, das im abgeschwächten Wind leise flatterte.

Mit so etwas wie Kreide waren verwischte weiße Markierungen auf den Weg gemalt, der auf der Deichseite mit einer wetterfesten Abdeckplane bedeckt war. Grobes graues Klebeband hielt sie an den Pflastersteinen fest.

Guten Morgen“, wurde der Mann plötzlich von hinten angesprochen. „Bitte gehen Sie weiter und halten Sie ausreichend Sicherheitsabstand. Hier muss der Deich befestigt werden.“

Der Mann nickte Juki Akkermann, der in seiner rotblauen Feuerwehrjacke mit einem dicken Sandsack über der Schulter herangekommen war, gleichmütig zu und ging wie befohlen weiter. Direkt vor der besagten Stelle sah er drei weitere Männer aus dem Gebüsch auftauchen: Dachdeckermeister Steven Byl mitsamt seinem Lehrling Jaan Osterhuis und Polizeihauptmeister Claas Berends, der mit einem Kopfschütteln leise „unerklärlich“ murmelte.

Sie alle nickten dem Mann freundlich zu und sahen dann zu, wie Juki Akkermann den Sandsack am Streusalzbehälter ablud. Der Mann ging langsam weiter und bemerkte erstaunt, dass auf dem für gewöhnlich verlassenen Weg an diesem Sonntagmorgen viel Betrieb war.

Jukis Vater Claas kam mit einer Sackkarre heran, auf der sich weitere Sandsäcke stapelten. Ihm folgte Polizeimeister Raake, der sich leise mit seiner Schwester, der Chefredakteurin der Borkumer Zeitung, unterhielt.

Weiter unten auf dem Weg kamen dem Mann noch fünf weitere Personen entgegen: Pastor Teese von der reformierten Kirche, der krummbeinige Gus Terling mit seinem Friesennerz und der für ihn typischen abgetragenen Kapitänsmütze, der alte Polizeihauptmeister a.D. Edwin Berends, der Junge von Metzgermeister Henry Bakker und der rüstige Jannes Moog, der vor Jahrzehnten in der Signalstation an der Süderstraße seinen Dienst verrichtet hatte.

Der Mann erwiderte im Vorbeigehen ihren Gruß mit stummem Kopfnicken und ging in unauffälligem Tempo den Weg hinunter bis zur Deichstraße. Dort traf er auf den Jungen Niklas Berends, der soeben die Bäckerei verließ, in der seine Mutter Gitta, die Frau des Polizeihauptmeisters, Tochter von Claas und Enkelin vom alten Werner Akkermann, hinter dem Verkaufstresen stand und eifrig mit ihren Kunden schnackte.

Eigentlich wollte der Mann an ‚Haus Brotzeit‘ vorbeigehen und nebenan die Tür zur Werkstatt aufschließen, um im Anbau unter seinem sportlichen Firmenschild die neu eingetroffene Ware auszupacken; aber dann siegte doch seine Neugier.

Kurz entschlossen betrat der Mann die Bäckerei, stellte sich in die kurze Warteschlange und hörte mit gespitzten Ohren, aber nach außen hin uninteressierter Miene dem Gespräch zu, das Gitta Berends mit der rundlichen Frau Raake am Anfang der Schlange führte, während die restlichen drei Frauen mit Einkaufskorb am Arm aufmerksam zuhörten.

Sie hat nicht leiden müssen“, sagte Frau Raake gerade. „Gerrit meint, sie war sofort tot.“

Hat Janny sie untersucht?“ fragte eine ältere Frau aus der Schlange, die der Mann als Jannes Moogs Frau Tilde erkannte. „Hat er was herausgefunden, wie es passieren konnte? Margit ist doch bei Sturm nie auf die Promenade raus gegangen, sondern hat ihren Spaziergang nur durch den Kurpark gemacht. Wie soll sie sich da so schlimm verletzt haben?“

Dazu hat Gerrit nichts gesagt“, antwortete Frau Raake, während sie mit einem Kopfnicken das geschnittene Lotsenbrot von Gitta Berends entgegen nahm, die augenblicklich ergänzte: „Es muss irgendwo etwas Schweres heruntergefallen sein, denke ich. Claas hat da sowas angedeutet. Vielleicht vom Kletterpark.“

Bestimmt nicht!“ widersprach eine jüngere Frau vehement, die der Mann auf den zweiten Blick als Anni Freese von der Kurverwaltung erkannte. „Da haben Juki, Steven und Jaan Osterhuis erst am Dienstag nach dem Rechten gesehen. Da ist alles sturmfest.“

Hätte mich auch sehr gewundert“, sagte Frau Raake mit einem Lächeln in Anni Freeses Richtung, „so gewissenhaft wie dein Juki arbeitet…“

Nun, was ich nicht verstehe, Heimke“, wandte sich Gitta Berends an die Tierärztin Duur, die hinter Frau Raake in der Schlange stand, „wie konnte der Hund so schlimm verletzt werden?“

Das ist eine gute Frage“, antwortete die Mittvierzigerin nachdenklich, während Frau Raake ihren Einkauf bezahlte und einen Schritt zur Seite trat. „Ein halbes Lotsen, bitte. Und einen Stuten ohne alles. Es sieht so aus, als ob Pelle mit etwas Hartem geschlagen wurde. Der Schädelknochen ist angebrochen und er hat eine furchtbare Fleischwunde hinterm linken Ohr gehabt.“

Der arme Dackel!“ kam es im Chor von den Frauen, was der Mann tonlos mit formte, um nicht durch seine unbeteiligte Distanz aufzufallen.

Danke, Gitta, das wäre alles“, sagte die Tierärztin, legte Geld auf die Theke und trat zur Seite, um Anni Freese Platz zu machen.

Während diese ihre Bestellung aufgab und Tilde Moog „wer macht denn nur sowas?“ murmelte, schob sich der Mann langsam vorwärts und bemühte sich um einen betroffenen, mitleidenden Gesichtsausdruck. Gerade als Anni Freese fertig war und sich zur Tür wandte, sagte Gitta Berends klar und deutlich:

Also, wenn ihr mich fragt, dann war das Ganze kein Unfall, egal, was Gesche geschrieben hat.“

Du meinst doch nicht etwa…“, keuchte Tilde Moog entsetzt, „dass jemand das Margit mit Absicht…“

Ein kollektives Luftanhalten war zu vernehmen, dem der Mann sich nach einer Schrecksekunde anschloss. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, hierher zu kommen. Andererseits hatte er von den Frauen genau das erfahren, was er wissen wollte: was über das Ende von Margit Geedes gemutmaßt wurde und in welche Richtung die Polizei ermittelte.

Das ist doch die logische Konsequenz, oder nicht?“

Die helle Stimme von Anni Freese jagte dem Mann einen kalten Schauer über den Rücken. Er zuckte unmerklich zusammen, als sie ihre nächste Frage direkt an ihn richtete: „Oder was meinen Sie?“

Er zwang sich zu einem Nicken, denn nichts anderes war nun angebracht. Er musste dazu gehören, auch wenn er es sonst nicht unbedingt tat. Alle hier Anwesenden außer ihm waren auf der Insel geboren, was sie zu echten Insulanern machte. Er war nur ein Zugezogener, eine Landratte, auch wenn er beinah sein ganzes Leben hier verbracht hatte. Man kannte ihn und respektierte ihn, so wie es die Höflichkeit gebot. Aber ob sie ihn mochten?

Na, also, bitte“, fuhr Anni Freese fort, „da haben Sie’s. Von wegen ‚Opfer des Sturmes‘, dass ich nicht lache!“

Mit vorwurfsvollem Blick richteten sich aller Augen auf Frau Raake, die nur stumm den Kopf schüttelte und mit den Schultern zuckte. Gitta Berends war es schließlich, die das Wechselgeld an Tilde Moog herausgab und in versöhnlichem Tonfall sagte: „Was der Gerrit sich nur dabei gedacht hat, uns solch ein Garn zu spinnen. Will uns wohl nicht aufregen, jetzt so kurz vorm Fest.“

Sie nickte Frau Raake freundlich aber mit einer gewissen Strenge zu, sodass dem Mann sofort klar war, dass die Bäckerin bei allernächster Gelegenheit das Neueste wissen wollte, was die Mutter des Polizeimeisters zu berichten haben würde. Dann wandte sie sich schließlich ihm zu und nahm seine Bestellung entgegen, während die Frauen die Bäckerei verließen.

*****

Moritz hat es irgendwie schon geahnt. Kaum haben sie die kleine Bäckerfiliale an der Süderstraße/Ecke Süderreihe passiert, da dringt ein freudiger Schrei an ihre Ohren, der eigentlich nur ein Name ist.

„Sebastian!“

Linda springt von der hölzernen Bank auf, die windgeschützt unter einem Vordach der Gaststätte mit Whiskeybar steht und die Süderstraße bis hinunter zur Süderreihe im Blick hat.

„Ich werde noch wahnsinnig“, murmelt Basti und wirft Moritz einen fragenden Blick zu, den dieser mit Kopfschütteln beantwortet.

„Da musst du jetzt durch, Kumpel“, sagt er streng. „Lotta hat schon genug um die Ohren. Lass sie da raus, bitte.“

„Ich rufe Maja an“, murmelt Basti mit gerunzelter Stirn, „gleich wenn wir zurück sind und ich mein iPhone laden kann. Verdammter Akku!“

Er klopft gegen seine Jackentasche, in der sein älteres Handymodell nutzlos und tot liegt. Gleich nachdem sie sich von Lotta verabschiedet haben, hat Sebastian ihn mit seinen roten Ohren unter der grauen Wollmütze aufgezogen. Dabei ist es Moritz nun egal, was sein bester Freund sagt. Er weiß auch so, dass er Lotta so schnell nicht vergessen wird, ganz gleich, wie sich die nächsten Tage noch entwickeln werden.

„Gehst du mit mir spazieren?“

Linda ist heran und hängt sich mit größter Selbstverständlichkeit an Bastis freien Arm. Ihr Blick aus kornblumenblauen Augen unter den dunkelbraunen Locken macht jedem Dackel Konkurrenz. Objektiv betrachtet ist sie hübsch mit ihrem ovalen Gesicht, den vollen Lippen und dem strahlenden Lächeln. Die lindgrün-blau gestreifte Wollmütze steht ihr gut, ebenso die auberginefarbene Daunenjacke, die der goldbraunen von Lotta ähnelt. Wenn sein Freund auf Brünette stehen würde, überlegt Moritz, würde die Wahl jedoch eindeutig auf Lotta fallen. Zum Glück gibt es für Basti aktuell immer noch nur Maja…

„Linda, bitte“, seufzt Sebastian und befreit seinen Arm. „Wie oft muss ich es dir noch sagen?“

„Das Mädchen eben“, fällt sie ihm ins Wort, „das kannst du mir nicht erzählen, dass sie deine Freundin ist. Ich hab doch gesehen, wie sie ihn angekuckt hat.“

Sie wirft Moritz einen fröhlichen Blick zu. Moritz muss sich beherrschen und ein Grinsen verkneifen. Es ist schön, diese Bestätigung noch von dritter Seite zu bekommen, auch wenn Basti sich bisher nie getäuscht hat, was die Zuneigung weiblicher Wesen einem von ihnen beiden gegenüber angeht. Da keiner von ihnen eine Schwester hat, haben sie nur die Aussagen ihrer eigenen Mütter, die ihnen jeweils bescheinigen, der Hübschere zu sein – sofern das unter besten Freunden etwas ausmacht.

„Na und?“ macht Sebastian einen neuen Versuch. „Und selbst wenn Lotta nur eine gute Freundin sein sollte… Begreif doch endlich, Linda, dass…“

„Das sagst du jetzt doch nur so“, unterbricht sie ihn, völlig unbeeindruckt.

„Was muss passieren“, stöhnt Basti auf, „dass du es kapierst?“

Linda antwortet nicht, sondern versucht erneut seinen Arm zu greifen. Doch Sebastian wendet sich abrupt um und geht, ohne sich noch einmal umzudrehen oder auf Moritz zu warten, die Straße hinunter bis zu ihrer Ferienwohnung.

Moritz zuckt stumm mit den Schultern, erwidert automatisch Lindas zaghaftes Lächeln und folgt seinem besten Freund. Er kommt jedoch nur bis zu den Bahnschienen, dann hat Linda ihn eingeholt und hält ihn am Arm fest, sodass eine der Tragetaschen gefährlich schwankt. Bevor die Griffe abreißen können, stellt Moritz die Tasche auf dem Boden ab. Dann wendet er sich Linda zu und befreit gleichzeitig seinen Arm aus ihren klammernden Fingern.

„Sebastian hat immer noch diese langbeinige Schwedin“, sagt Linda. Es ist weniger eine Frage als vielmehr eine Feststellung. „Wie hieß sie doch noch gleich, Marta?“

„Maja.“

„Flotte Biene, blond und blöd“, urteilt Linda abfällig. Dann setzt sie ein strahlendes Lächeln auf und schaut Moritz treuherzig an. Ihm schwant nichts Gutes, als sie mit schmeichelndem Tonfall ergänzt: „Aber du hast keine davon, nicht wahr? Du bist noch solo.“

Bevor er antworten kann, ertönt ein metallisch scheppernder Klingelton. Die Bahnschranken beginnen sich zu schließen, während die rote Warnlampe aufblinkt. Rasch nimmt Moritz die Tragetasche auf und entfernt sich aus dem Gleisbereich. Linda folgt ihm. Während die Borkum-Bahn hinter ihnen vorbeirauscht, versucht Moritz die Einkäufe so schnell es geht in Richtung der Ferienwohnung zu tragen, doch Linda ist wie ein Klotz am Bein.

Unaufhörlich redet sie auf ihn ein und lässt auch nicht von ihm ab, als sie auf Höhe der nächsten Seitenstraße, Isdobben, anlangen und die Tragegriffe der einen Tasche sich lösen. Gerade noch rechtzeitig kann Moritz die Tasche zu Boden gleiten lassen. Er hat Mühe, sich zu beherrschen, als er die Tüte ungelenk mit der freien Hand aufhebt und im Arm hält, während Linda erneut versucht, sie an ihn zu klammern.

„Jetzt reicht es, Linda“, stößt er schließlich genervt hervor und drängt sich an ihr vorbei, um die letzten hundert Meter zurückzulegen, bevor auch noch die Griffe an der zweiten Tüte reißen. „Geh nach Hause.“

„Gehst du dann heute abend mit mir ins Kino?“

„Kino? Bestimmt nicht.“

„Warum denn nicht? Oder lieber Pizza und Bowling?“

„Nein.“

„Jetzt sei doch nicht so, Moritz. Oder bist du sauer, weil ich Sebastian gemocht habe? Du siehst viel besser aus…“

„Linda! Geh nach Hause! Lass-uns-in-Ruhe!“

„Sonst was?“

„Sonst zwingst du uns wirklich…“

„Wozu?“

„…die Polizei zu holen.“

„Ha! Das würdet ihr doch nie machen!“

„Warum denn nicht?“ fragt plötzlich eine kühle Stimme hinter ihnen, die Moritz einen freudigen Schauer über den Rücken schickt. „Das, was du da machst, das grenzt ja schon an Stalking.“

Linda fährt herum und starrt Lotta wütend an, während Moritz sich mit einem breiten Lächeln zu ihr umwendet. Sie schickt der Himmel. Aber wie kann sie so ruhig bleiben, jetzt da sich Linda wieder an seinen Arm hängt, sodass die zweite Tüte sich dem Boden nähert? Erst beim näheren Hinsehen erkennt Moritz, dass eine schmale Vene an Lottas Hals heftig pocht. Sie gibt sich tatsächlich also nur den Anschein, gelassen und ruhig zu sein.

„Pah, Stalking!“ macht Linda abfällig. „Moritz ist doch kein Filmstar. Obwohl er ja fast aussieht wie einer.“

„Für eine Unterlassungsklage wegen Belästigung würde es trotzdem reichen“, antwortet Lotta ungerührt. „Wenn du willst, Momo, dann erledigen wir das gleich hier an Ort und Stelle.“

„Haha“, lacht Linda, „sowas kann nur die Polizei, keine blöde Studentin.“

„So?“ erwidert Lotta mit schmalen Augen.

Moritz sieht kaum, wie sie in ihre Jackentasche greift. Einen Moment später ist er genauso perplex wie Linda, als Lotta ihnen ihren Dienstausweis entgegenhält. Polizeikommissarin Carlotta Strandt steht da neben dem Wappen der Hansestadt Hamburg und einer Erkennungsnummer.

„Ehrlich wahr?“ flüstert Linda.

Lotta nickt und steckt den Ausweis zurück in die Tasche. Stumm macht sie eine Handbewegung, der Linda kleinlaut und ohne zu zögern Folge leistet. Es ist wie Zauberei. Aber als Lotta Moritz die abgestellte Tragetasche abnimmt und sich in Richtung der ehemaligen Signalstelle aufmacht, folgt er ihr mit einem leicht verwirrten Lächeln, während Linda in Richtung der Bahnschienen davonläuft.

„Und dabei wollte ich euch nur fragen, ob ihr ein Ladegerät für Handys habt“, grinst Lotta. „Eins mit Micro-USB. Mein Android hat sich verabschiedet.“

„Äh, ja, klar“, antwortet Moritz, „ich habe auch ein Android-Handy.“

„Danke für deine Hilfe“, fügt er nach einigen Minuten hinzu, als sie endlich die alte Signalstelle erreicht haben. „Du hast uns gar nicht gesagt, dass du bei der Polizei bist.“

„Das bindet man nicht unbedingt gleich jedem auf die Nase“, antwortet Lotta mit einem leicht traurigen Grinsen und folgt ihm, nachdem er etwas umständlich die Tür aufgeschlossen hat, ins Treppenhaus, wo sie die schwere Einkaufstasche mit einem leisen Ächzen auf dem Boden abstellt. „Auch wenn alle Welt Castle, Law & Order oder Tatort kuckt, mag kaum jemand wirklich die Polizei.“

„Ich jetzt schon“, antwortet Moritz und stellt seine Tragetasche ebenfalls ab. „Aber das beschränkt sich ganz besonders auf eine gewisse Frau Kommissarin Strandt…“

Einer plötzlichen Gefühlsregung folgend macht er einen Schritt auf sie zu und streicht ihr mit einer zärtlichen Geste eine kurze kastanienbraune Locke aus der Stirn, sodass ihr die taubenblaue Wollmütze langsam vom Kopf rutscht.

Das warme Haselnussbraun ihrer Augen wird zu einem tiefen See aus Nuss-Schokolade, in dem er zu ertrinken droht. Ein feines Lächeln umspielt ihre zart rosenholzfarbigen Lippen, als er sich vorsichtig zu ihr hinunterbeugt. Einen Herzschlag später vergisst Moritz die Welt um sich herum. Es ist als ob er schweben würde, mit Lotta in seinen Armen und ihren Lippen auf den seinen. Sanft und vorsichtig tastet sich seine Zungenspitze von ihrem Mundwinkel die weichen Lippen entlang, findet plötzlich ihre suchende Zungenspitze und streichelt, lässt sich streicheln, jeden Millimeter ihres Mundes, während sich ein heißer wohliger Schauer nach dem nächsten über seinen Rücken stiehlt.

Sein Atem geht schnell und heiß, als er ihren zierlichen Körper zurück gegen die kühle Wand des Treppenhauses drängt und mit den Händen unter der Daunenjacke ihren sportlich durchtrainierten Rücken erkundet.

Nach scheinbar einer Ewigkeit, in der ihm seine Jeans mehr als einmal viel zu eng vorgekommen ist, schiebt sie ihn mit sanfter Gewalt ein Stück von sich weg und fixiert ihn mit ihren wunderschönen Augen, die nun mehr wie dunkles Mousse au chocolat sind. Ihre Lippen zittern leicht und ihr warmer Atem streift sanft sein Kinn, als sie leise fragt: „Geschieht das hier wirklich?“

Erst jetzt registriert Moritz, dass sie immer noch im Treppenhaus stehen und er tatsächlich wieder Boden unter den Füßen hat. Seine Unterarme stecken noch immer unter ihrer Daunenjacke, seine Hände an ihrer schmalen Taille, die sich ihm eben noch so verlangend entgegen gebogen hat. Er spürt die Hitze, die durch den Stoff ihrer Chino-Hose von ihr ausstrahlt, und auch das Verlagen, das seinem in nichts nachsteht.

„Ich glaube, ja“, antwortet er etwas verspätet. „Oder ich bin plötzlich eingeschlafen und wir beide träumen denselben Traum, aus dem ich heute morgen mit einem breiten Grinsen aufgewacht bin…“

„Ach ja?“

Ihr Augenaufschlag ist neckisch, ihre Stimme rutscht eine aufregende Nuance tiefer. Moritz muss sich sehr beherrschen, um ihr nicht sofort und hier auf der Stelle die Kleider vom Leib zu reißen und jeden Zentimeter von ihr mit seiner Zunge zu erforschen.

„Hm, tja, was sagen wir Basti?“ fragt sie, als er nicht antwortet, und sieht ihn mit ihren großen Knopfaugen so bittend an, dass er nicht anders kann als sie erneut zu küssen, ganz sanft nur und als Versprechen auf mehr. Er kann kaum einen klaren Gedanken fassen, aber vollkommen gleich, was er sagt, sie wird ihm mit Sicherheit zustimmen. Er muss nur seinen Wunsch in Worte fassen…

„Nun“, murmelt Moritz schließlich und blickt sie mit fragend hochgezogener Augenbraue forschend an, „dass du ein Ladekabel und einen Fachmann für Android-Handys brauchst, der dich natürlich umgehend nach Hause bringt.“

Ihre Mundwinkel zucken amüsiert, dann nickt sie, reckt den Hals und haucht einen Kuss auf sein glatt rasiertes Kinn.

*****

Lautes Türenknallen schreckt Karl Jostermann auf. Er ist offenbar doch kurz eingenickt auf dem gemütlichen Fernsehsessel in seinem bereits weihnachtlich geschmückten Wohnzimmer. Als er die schrille Stimme seiner Enkeltochter im Flur vernimmt, weiß er sofort, dass etwas passiert sein muss.

„Und ich sag’s dir nochmal“, hört er Mats in genervtem Tonfall schreien, „du musst den Kerl vergessen. Er hat eine Andere, diese Kleine mit den haselnussbraunen Knopfaugen und den kastanienfarbigen Locken.“

„Nein, nein und nochmal nein!“ schreit Linda zurück. „Die doch nicht. Hast du nicht gesehen, wie sie seinen Freund Moritz angekuckt hat? Die ist niemals mit Sebastian zusammen. Er liebt mich, das weiß ich!“

„Und was war mit dieser Schwedin im Sommer?“ schaltet sich Kai ein. Auch er klingt ziemlich genervt. Wahrscheinlich haben die Geschwister das ganze Gespräch schon mindestens einmal geführt, auf dem Nachhauseweg vom Einkaufen vielleicht. „Erinnerst du dich nicht? Das war dieses blonde Model, mit der er immer surfen gegangen ist, auch nach dem Unterricht.“

„Ach was“, schnappt Linda wütend und stampft lautstark in die Küche.

Karl hört, wie dort Stühle gerückt werden und Martins Stimme in strengem Tonfall seine Tochter zur Ordnung ruft. Wenig später kommt Karin herein. Sie verdreht die Augen, zuckt müde mit den Schultern, als sie Karl in seinem Lieblingssessel sitzen sieht, und murmelt:

„Entschuldige, Papa. Sie ist einfach in einem schwierigen Alter. Und wie es aussieht, ist dieser Surflehrer leider jetzt über die Feiertage auch wieder hier auf der Insel. Wenn wir Pech haben, geht das ganze Theater nochmal von vorne los. Ich kann dem armen Jungen nicht verdenken, dass er im Sommer mit der Schwedin losgezogen ist. Die konnte sich wenigstens benehmen, im Gegensatz zu Linda. Ich hoffe inständig, dass sie sich bald wieder einkriegt und diese Phase vorbei ist. Ich werde noch wahnsinnig!“

„Wenn ich das eben richtig verstanden habe“, sagt Karl müde, „dann hat der Surflehrer wieder ein anderes Mädchen, zur Abwechslung eins mit braunen Knopfaugen, was nicht unbedingt für ihn und seine Glaubwürdigkeit spricht.“

„Ach, du meinst, weil er im Sommer gesagt hat, dass er nur auf blonde Frauen steht?“ fragt Karin nachdenklich. „Ganz ehrlich, ich an seiner Stelle hätte auch alles Mögliche gesagt, um Linda loszuwerden. Du glaubst gar nicht, Papa, wie ich mich für sie geschämt habe. Und Martin erst, zuhause hat er ihr gründlich den Kopf gewaschen; aber offenbar nicht gründlich genug.“

Erneutes Türenschlagen ist zu hören. Karl und seine Tochter sehen sich verdutzt an und spitzen die Ohren. Doch es wird nicht mehr geschrien. Stattdessen kommen Kai und Mats herein und lassen sich mit erschöpften Mienen in die freien Sessel sinken, während Karin auf dem Sofa Platz nimmt.

„Wenn sie doch nur endlich begreifen würde“, stöhnt Mats, „wie peinlich sie sich aufführt.“

„Ja“, pflichtet Kai ihm bei, „man schämt sich ja geradezu, mit ihr verwandt zu sein. Es ist echt nicht zum Aushalten.“

„Na“, grinst Mats, „vielleicht heilt es sie ja, wenn sie diesen Sebastian beim Knutschen mit dem kleinen Mädchen von vorhin erwischt. Richtig hübsch war sie übrigens, findest du nicht?“

„Hm“, macht Kai versonnen, „mandelförmige Knopfaugen in Haselnussbraun, kurze kastanienbraune Locken, ein schmales ebenmäßiges Gesicht, seidig schimmernde Haut, verführerische Lippen… Wow, mir wird schon ganz heiß…“

„Entzugserscheinungen“, neckt sein Bruder ihn. „Vielleicht hättest du doch nicht mit, wie hieß sie – Annabelle? – Schluss machen sollen…“

„Angeber“, knurrt Kai und boxt nach seinem großen Bruder. „Als ob bei dir und der Schwesternschülerin so viel mehr laufen würde. Die steht bestimmt nur auf fertig ausgebildete Ärzte und macht sich nur über dich und deinen roten Kopf lustig…“

„Jungs!“ stöhnt Karin mit einer gequälten Geste. „Nicht auch noch ihr. Gönnt uns doch bitte ein paar Minuten Ruhe.“

„Die kannst du haben, Mama“, grinst Mats. „Linda wartet jetzt draußen solange auf diesen Surflehrer, bis der Typ sie wegen Belästigung bei der Polizei anzeigt oder vor ihrer Nase eine Andere flachlegt.“

„Komm“, sagt Kai und knufft seinen Bruder in den Oberarm. „Lass uns eine Runde Assassins spielen.“

„Gute Idee“, stimmt Mats zu und folgt seinem Bruder nach draußen und nach oben ins vordere Gästezimmer, wo sie ihre tragbaren Computer abgestellt haben. Wenig später sind verhaltene Kampfgeräusche zu vernehmen, die wohl von dem Computerspiel stammen.

Karl seufzt leise und schließt entspannt die Augen. Er hört, wie Martin leise hereinkommt und sich mit der Zeitung in einen der Sessel sinken lässt. Für eine Weile ist nur das leise Rascheln von Zeitungspapier zu hören, dazu hin und wieder eine stärkere Windböe, die um den Hausgiebel bläst.

Dann wird plötzlich Sturm geklingelt und gegen die Haustür geschlagen, als ob eine wilde Horde Wikinger davor stehen und Einlass verlangen würde. Martin faltet mit einem wütenden Knurren die Zeitung zusammen und erhebt sich, um seiner Tochter zu öffnen. Karl und Karin bleiben stumm und mit geschlossenen Augen sitzen, wohlwissend, dass es mit der ersehnten Ruhe vorbei ist.

Linda schreit jedoch nicht, als sie zusammen mit ihrem Vater das Wohnzimmer betritt. Wie ein Schlosshund heulend wirft sie sich in Karins Arme und vergräbt ihr Gesicht an der mütterlichen Brust. Mechanisch streichelt Karin über den zuckenden Rücken ihrer Tochter.

„Was ist denn nun schon wieder passiert?“ fragt Karl leise.

Als Antwort schluchzt Linda nur noch lauter, während Martin sich mit nun doch etwas besorgtem Blick neben seine Frau aufs Sofa setzt und zaghaft über das zerzauste braune Haar seiner Tochter streicht.

„Sie… ist – hick! – von der Polizei“, jammert Linda, die vom heftigen Weinen Schluckauf bekommen hat. „Und er – hick! – hat gedroht…, mich – hick! – zu verklagen. Ich hasse ihn!“

„Na wunderbar“, murmelt Martin. „Dann ist die ‚Phase Sebastian‘ nun endlich überstanden, ja?“

„Nee“, schnieft Linda, „Sebastian würde – hick! – mich nie verklagen, niemals!“

„Aber du hast doch gerade gesagt“, wirft Martin irritiert ein, „dass du ihn hasst…“

„Mo-Moritz“, jammert Linda. „Sebastian würde… nie…“

„Mädchen, dir ist nicht mehr zu helfen“, murmelt Martin mehr für sich, bevor er mit einem plötzlichen Ruck ausruft: „Polizei? Wieso? Wurdest du jetzt etwa angezeigt? Linda?“

„Weiß nicht“, nuschelt diese matt und hebt ihr tränenüberströmtes Gesicht von Karins durchfeuchteter Bluse. „Sie war plötzlich da. Ich… – hm – glaube, sie ist seine Freundin. Von Moritz, meine ich.“

„Das Beste wird sein“, schlägt Karl mit einem leisen Seufzer vor, „wenn du dich ins Bett legst, Linda, und etwas zu schlafen versuchst. Morgen sieht die Welt schon ganz anders aus.“

Linda protestiert nicht, als ihr Vater sie vom Sofa hochzieht und mit sanfter Gewalt nach oben in das kleine, rückwärtig zum Garten gelegene Gästezimmer führt. Karl seufzt genauso vor Erleichterung wie Karin, als endlich Ruhe im Haus einkehrt. Dennoch ist er nicht gänzlich beruhigt. Aus Lindas Reaktion und ihrem zusammengepressten Mund beim Hinausgehen glaubt er zu ersehen, dass sie bei nächster Gelegenheit erneut diesem Sebastian nachstellen wird.

Für einen Moment überlegt Karl ernsthaft, ob er Gerrit darum bitten soll, den Surflehrer der Insel zu verweisen oder wenigstens Linda vorübergehend in die Ausnüchterungszelle zu sperren.

*****





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