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Flucht

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Sie lief und lief. Wohin, das wusste sie nicht. Es war auch egal. Sie hatte ihre Chance genutzt und ihn überrumpelt. Sie hatte den Schlüssel glücklich erbeutet, die Haustür aufgeschlossen und war losgelaufen. Doch sie wusste, dass sie nicht weit kommen würde.

Sie spürte das Blut, das ihr die linke Schläfe hinunter rann und in den Kragen ihrer fleckigen Bluse tropfte. Ihr Atem ging rasch und flach, während ihr Herz wie wild gegen ihre enge Brust klopfte. Schwarze und weiße Flecken tanzten am Rande ihres Sichtfeldes, als sie die Straße hinunterlief. Weg, nur weg.

Ich behandle dich, wie ich will!“ hatte er geschrien. „Ich habe dich bei mir aufgenommen, du undankbares Ding! Ohne mich wärst du auf der Straße geendet und jämmerlich umgekommen.“

Besser als hier‘, hatte sie gedacht, aber nicht gesagt. Doch bei seinen nächsten Worten hatte sie nicht mehr an sich halten können.

Du solltest dankbar sein. Ohne mich hättest du nichts. Jetzt hast du ein Haus, eine Familie und bald unser Kind!“

Es ist nicht dein Kind!“ hatte sie da geschrien. „Es ist von Micha, dem Einzigen, den ich je geliebt…“

Weiter war sie nicht mehr gekommen, denn er hatte irgendetwas gegriffen, den Schürhaken vielleicht oder einen massiven Spazierstock, und begonnen, auf sie einzuschlagen. Sie war gefallen, erinnerte sie sich, mitten hinein in den Korb mit Brennholz, das er gerade hereingeholt hatte.

Ohne zu wissen was sie tat, hatte sie ein Holzscheit aufgenommen und sich mit einem Schrei und letzter Kraft aufgerichtet. Ihre rasche Bewegung hatte nicht nur ihn überrascht. Sie hatte erst gespürt, dass sie ihn getroffen hatte, als er mit einem schmerzerfüllten Aufschrei hintenüber kippte und mit dem Hinterkopf gegen den Küchenschrank fiel.

Mit fliegenden Fingern und dröhnendem Kopf war sie zu ihm hinüber gestürzt, halb niedergefallen, halb zu Boden gesunken, und hatte sich mit ihrem Ring an der Hand beinah im Hosenstoff verfangen, es aber schließlich doch geschafft, ihm den Schlüssel aus der Tasche zu ziehen. Vor ihren Augen hatte es bereits zu flimmern begonnen, als sie ihre Schürze aufgerafft hatte und mit rasendem Herzen zur Haustür geeilt war.

Sie stolperte vorwärts und spürte, wie ihre Kräfte sie nun endgültig verließen. Alles tat ihr weh, angefangen mit ihrem zum Bersten dröhnenden Kopf. Aber mit einem Mal fühlte sie einen scharfen Schmerz in der Seite, halb seitwärts vom vortretenden Bauchnabel aus gesehen. Ihr wurde schwindelig und schlecht. Mit einer letzten Anstrengung schleppte sie sich an die Seite des Weges, den sie heraufgelaufen war und sank gegen die sandige Böschung.

Erst da erkannte sie, dass sie sich oberhalb eines Strandes befand. Neben ihr erhob sich ein Deich, vor ihr erstreckte sich das schier unendlich wirkende Meer. Ohne es zu wissen, war sie offenbar direkt auf das Meer zugelaufen. Nun sank sie zu Tode erschöpft in den feuchten Sand im Schatten des Deiches und spürte, wie die Ohnmacht mit nasskalten Klauen nach ihr griff.

Ihr letzter Gedanke galt dem Kind in ihrem Bauch, der ein einziger Schmerz war, schlimmer noch als das rasende Pochen in ihren Schläfen und das dumpfe Dröhnen in ihrem Kopf. Sie würde hier zugrunde gehen, an einem fremden Strand auf einer Insel, auf der sie nur Leid erfahren hatte.

Als sie den kalten Sand an ihrer Wange spürte, wusste sie, dass es vorbei war. Sie tastete nach den Fotos, die sie wie einen Schatz stets in ihrer Schürzentasche bei sich trug, doch ihre Hand fiel schlaff herunter, bevor sie die Tasche erreichen konnte. ‚Es tut mir leid, mein Kind‘, war das Letzte, was sie dachte. Dann wurde sie von der allumfassenden Dunkelheit verschlungen.

*****

Lottas Herz rast. Gleichzeitig fühlt sie sich erleichtert. Tief atmet sie den feinen Duft von Zimt und Sandelholz ein, der aus dem Kragen der Daunenjacke in ihre Nase aufsteigt. Moritz hält sie fest an sich gedrückt, einen kurzen Moment lang nur, aber sie spürt deutlich die Zuneigung und echte Anteilnahme, die von dieser Berührung ausgeht.

„Herzliches Beileid“, hat Sebastian gesagt und mitfühlend ihren Arm gedrückt. Dann ist er wortlos in den Vorraum des Supermarktes getreten und hat seine Plastiktüte dort im Sichtschatten zur Straße abgestellt, auf der in einiger Entfernung die drei Geschwister zu erahnen sind.

„Ist schon okay“, murmelt Lotta, leicht beschämt.

Schließlich hat sie selbst erst heute morgen erfahren, dass sie eine Großtante mit Namen Margit gehabt hat und dass diese am vergangenen Freitag an einer tödlichen Kopfverletzung verstorben ist. Der Wohnung in der Gartenstraße wird sie morgen vormittag einen Besuch abstatten und entscheiden, was mit Hausrat und den persönlichen Dingen der unbekannten Tante geschehen soll. ‚Wenn doch wenigstens Mama und Papa hier wären‘, denkt Lotta nicht zum ersten Mal. Sie hat sich zwar keinen Urlaub auf der faulen Haut gewünscht, aber das Sortieren eines Nachlasses mitsamt dem ganzen Papierkram bis hin zur Beerdigung ist nicht, was sie sich für ihren Urlaub erhofft hat.

Andererseits hat sie so vielleicht schneller Zugang zu Moritz gefunden als auf andere Weise, da er wohl eher ein Mann der Tat als des Wortes ist. Mit roten Wangen lässt sie ihn los und lächelt ihn etwas verlegen an. Es wurmt sie, dass sie in seiner Gegenwart nie zu der souveränen norddeutschen Gemütsruhe und Kühle findet, die ihre Kollegen so an ihr respektieren. Aber auf Borkum ist eben alles anders.

Er nimmt die schweren Tragetaschen auf und geht ihr voran in den Vorraum des Supermarkts, wo sich Sebastian mit einem leicht zerknirschten Grinsen vor den Blicken etwaiger Passanten im Allgemeinen und Lindas und ihrer Brüder im Besonderen versteckt.

„Wir warten hier auf dich“, sagt Moritz und lehnt sich im toten Winkel der automatischen Tür an die Wand. „Okay?“

Lotta nickt und erwidert sein Lächeln. Ihr Herz hüpft vor Freude, als er eine Hand nach ihr ausstreckt, ihr die Tüte vom Teegeschäft abnimmt und zu seinen Einkaufstaschen stellt. Sie beeilt sich mit dem Zusammensammeln der benötigten Lebensmittel inklusive Butterstollen und ist kaum zehn Minuten später wieder im Vorraum des Supermarkts.

„Luft ist rein“, grinst Moritz, als sie mit einem Seitenblick auf Sebastian einen leicht besorgten Blick hinaus auf die Fußgängerstraße wirft.

Lotta nimmt zufrieden zur Kenntnis, dass er mit Sebastian getauscht hat und nicht nur die schwere Einkaufstasche und ihre Tüte aus dem Teeladen trägt, sondern ihr nun auch die neue Plastiktüte abnimmt.

Ihren schwachen Protest weist er knapp mit einem lächelnden Kopfschütteln ab, sodass Lotta vollkommen unbeschwert von Einkäufen zwischen ihnen her bis zum ‚Haus Westwind‘ gehen kann.

„Bis nachher“, sagt er leise, als er ihr ihre Tüten an die Haustür stellt und sie kurz mit einem Arm an sich zieht.

Sie spürt das Kribbeln, das sich durch diese Nähe und seinen herrlichen Duft in ihrem ganzen Körper ausbreitet. Am liebsten würde sie ihn hier und jetzt auf der Stelle küssen und mit sich hinein ins Haus ziehen. Aber sie kann sich gerade noch beherrschen und ringt sich ein leicht gepresstes „ja, bis dann“ ab.

Sebastian winkt von der Gartenpforte, die Moritz wieder sorgsam hinter sich schließt. Dann gehen die beiden mit ihren schweren Tragetaschen davon und Lotta bleibt allein zurück.

Als sie gerade die Tüten in den Flur gestellt hat und die Haustür hinter sich schließen will, bemerkt sie den älteren Mann, der an der Straßenecke zum Wiesenweg steht und zu ihr herübersieht. Erneut hat sie das plötzliche Gefühl, von unfreundlichen Augen beobachtet zu werden.

Nachdenklich drückt sie die Tür fest ins Schloss und dreht den Schlüssel von innen zweimal herum. Durch die kleine Butzenscheibe in der Tür kann sie die Straße nur undeutlich erkennen. Aber aus den Wohnzimmerfenstern hat sie einen guten Blick auf die Straßenecke.

Rasch läuft sie hinüber und stellt erstaunt fest, dass der Mann immer noch dort steht und sich gegen sein klappriges Fahrrad lehnt. Minutenlang blickt er zu ihr herüber, bis sie schließlich mit wütender Geste die hellblau-karierten Vorhänge zuzieht und ihm den direkten Blick ins Wohnzimmer verwehrt. Dasselbe führt sie im Lesezimmer und in der Küche aus, bevor sie sich mit klopfendem Herzen für einige Augenblicke auf die Küchenbank sinken lässt.

‚Vermutlich ist man hier so neugierig‘, denkt sie und langt nach dem kleinen Wasserkocher auf dem Fensterbrett. Während sie sich eine Kanne Tee kocht, Schwarztee mit Rosenblättern, versucht sie ihre Gedanken zu ordnen.

Seit ihre Großmutter im vergangenen Jahr gestorben ist, hat niemand hier in ‚Haus Westwind‘ gewohnt. Wahrscheinlich fragen sich die Leute jetzt, wer hier eingezogen ist und können ihre Neugier genauso wenig zügeln wie Frau Raake ihre flinke Zunge.

Als der erste Kluntjes in ihrem Teebecher zerplatzt, fällt Lotta ein, dass der Mann mit dem Fahrrad derselbe sein muss wie der ungehobelte Mensch an der Fähre. Nicht nur, dass er ihr mit seiner Tretmühle beinah die Hacken gebrochen hat; sie erinnert sich dunkel, dass er auch etwas zu ihr gesagt hat. Es hat wie ein Name geklungen, „Nena“ oder „Lena“. Was er wohl damit gemeint hat?

Gedankenverloren nimmt sie einen Schluck blumig duftenden Tee, der durch den Zucker jedoch unerträglich süß geworden ist. Rasch kippt sie einen guten Schluck davon in den Ausfluss und schenkt ungesüßten Tee nach.

Ihr Blick fällt auf das moderne Smartphone, das mit totem Display neben der leeren Obstschale auf dem Küchentisch liegt. Sie hat vergessen die Jungs zu fragen, ob sie ein passendes Ladegerät haben. Am besten wird es sein, wenn sie gleich nachdem sie den Tee ausgetrunken hat, einen kurzen Besuch in der Ferienwohnung der beiden macht und nachfragt. Die ehemalige Signalstation wird ja so schwer nicht zu finden sein.

‚Außerdem wollte ich sowieso mal zum Strand runterschauen‘, ergänzt sie in Gedanken und mit Nachdruck. ‚Solange der Wind heute noch nicht so stark ist.‘ Aktuell muss es etwa Windstärke Sieben sein, eine gute Gelegenheit für einen kurzen Spaziergang bevor der Wind, laut Zeitung erst am Nachmittag, wieder auffrischen und erneut Geschwindigkeiten um die neunzig Stundenkilometer erreichen soll.

*****

Im Schatten des Deiches

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