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Samstag, 20. Dezember 2014. Samstag, 20. Dezember 2014.

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Carlotta Strandt verspürt ein unangenehmes Ziehen in der Magengrube. Der Matjesteller zum Mittagessen ist vielleicht doch keine so gute Idee gewesen. Ein Brötchen mit Nordseekrabben hätte es sicherlich auch getan. Aber nach der langen Bahnfahrt von Hamburg über Bremen bis nach Emden-Außenhafen hat sie so gewaltigen Kohldampf gehabt, dass sie während des Wartens beinah schon die Papierservietten im Bordrestaurant der Autofähre verspeist hätte.

Nun ist es zu spät. Nun protestiert der marinierte Hering in ihren Gedärmen, sodass Lotta bei jeder schwankenden Bewegung des großen Schiffes ein paar Tropfen Galle zu schmecken bekommt. Die MS Ostfriesland kämpft sich tapfer durch den Sturm und rollt im freien Fahrwasser, seit sie die Osterems verlassen und Kurs auf Borkum Hafen genommen hat, sodass das halbvolle Cola-Glas vor Lotta bedenklich über den Tisch rutscht. Hin und her, hin und her.

Ob das wirklich eine so gute Idee gewesen ist, dem nett gemeinten Vorschlag ihres Chefs Folge zu leisten und den Weihnachtsurlaub frühzeitig anzutreten? Gewiss, sie hat in den vergangenen Monaten so viele Überstunden gesammelt wie andere in einem ganzen Jahr. Aber immerhin ist sie die Neue und muss sich reinknien in die Arbeit, um ihren Platz zu finden.

So frisch von der Polizeischule kommend ist sie als zierliche Frau von gerade einmal zweiundzwanzig Jahren sowieso eine Kuriosität, sodass ein Kollege schon gewitzelt hat, man müsse rasch eine Kinderuniform aus der Mottenkiste hervorkramen. Derselbe Kollege hat wenige Stunden später wie alle anderen Bauklötze gestaunt, als Lotta den flüchtenden Sparkassenräuber mit einem gut gezielten Fersendrehtritt an der Straßenecke gestellt und von seiner Schusswaffe getrennt hat. Ihre erste Verhaftung.

‚Karate-Maus‘ hat der verblüffte Kollege Jacob Herms sie danach sofort getauft. Sie hat es ignoriert, obwohl sie ihn eigentlich hätte verbessern müssen. Immerhin ist sie Schwarzgurt-Trägerin im Taekwondo, und hat den Flüchtenden mit einem lehrbuchreifen Pandae-Dollyo-Chagi gestellt. Aber egal. Wichtig ist nur, dass sie sich Respekt verschafft hat, gleich am ersten Tag. Und das nicht nur, weil sie die dunkelblaue Uniform der Hamburger Polizei mit Dienstwaffe, Schlagstock, Handschellen und Funkgerät am Gürtel trägt.

Sie macht ihre Arbeit gern und hat auch ihre Eltern, die aktuell mit irgendeiner Aida auf Kreuzfahrt in der Karibik unterwegs sind, mit ihrer Begeisterung für den Berufsweg im Dienste von Stadt und Staat anstecken können. Die unvermittelte Zwangsbeurlaubung so kurz vor Weihnachten, verbunden mit der halb ernsten Drohung, ja erst nach Neujahr wieder auf der Wache zu erscheinen, ist jedoch überraschend gekommen.

Als gute Arbeitnehmerin und Angestellte mit geringer Aussicht auf Beamtenlaufbahn hat Lotta sich zuerst zu weigern versucht und vorgerechnet, dass ihre sechsmonatige Probezeit noch nicht um sei. Doch der Chef hat nichts davon wissen wollen, sondern sie mit Nachdruck und einem väterlichen Lächeln in den Urlaub verabschiedet. Ob sie irgendwo hinfahren und mal ausspannen könne, hat er gefragt.

Es hat ein paar Augenblicke gedauert, bis Lotta an das Haus ihrer Großmutter Marlies gedacht hat. ‚Haus Westwind‘ heißt es und steht irgendwo im alten Dorfkern auf der ostfriesischen Insel Borkum, der westlichsten der deutschen Nordseeinseln. Die Großmutter, die sie – mit acht oder neun Jahren – nur ein einziges Mal persönlich getroffen hat, soll seit ihrer eigenen Kindheit in dem alten Rotklinkerhaus gewohnt haben. Das hat Mama jedenfalls erzählt, die stets von dem alten Haus und der idealen Lage – fünf Minuten zum Deich, fünf Minuten zum Bahnhof, fünf Minuten zum Supermarkt – geschwärmt hat.

Seit Großmutter Marlies im vergangenen Sommer an Lymphdrüsenkrebs gestorben ist, gehört das alte Haus Mama; bisher hat sie es jedoch noch nicht geschafft, dort einmal nach dem Rechten zu sehen.

Genau das ist es, was Lotta sich nun vorgenommen hat. Sie kann einfach nicht stillsitzen und die Hände in den Schoß legen. Sie muss etwas zu tun haben. Und so ein altes Haus wird, selbst wenn es den Umständen entsprechend noch gut in Schuss ist, einiges an Arbeit verursachen. Und da ihre Eltern nach dem Stopp auf Jamaica (oder war es Antigua?) bis in drei Tagen, wenn sie die nächste Insel anlaufen, nicht erreichbar sein werden, hat niemand Lotta hindern können, einfach einen Koffer zu packen, ein Bahnticket zu kaufen und gen Westen aufzubrechen. Der Schlüssel zu ‚Haus Westwind‘ soll bei einem Nachbarn liegen, hat Mama vom Notar erfahren.

„Meine Damen und Herren“, dringt die tiefe Stimme des Kapitäns aus den Lautsprechern und reißt Lotta aus ihren Gedanken. „Wir erreichen gleich die offene See. Zu Ihrer eigenen Sicherheit, nehmen Sie bitte Platz und geben Sie gut Acht auf Ihre Speisen und Getränke.“

Automatisch greift Lotta nach dem Cola-Glas und hält mit der anderen Hand den leeren Matjesteller fest. Ihre Reflexe sind beeindruckend. Das hat auch der große Autoschieber erfahren dürfen, den sie vorige Woche nach stundenlanger Verfolgung auf einem Rastplatz an der A7 gestellt haben. Natürlich, man kann der Verhaftung entgehen, indem man sich das vermeintlich schwächste Glied der Kette aussucht und die zierliche Jungkommissarin Carlotta Strandt über den Haufen rennt. Man kann es zumindest versuchen.

Beim Gedanken an das verdutzte dumme Gesicht des grobschlächtigen Mannes muss Lotta erneut in sich hinein grinsen. Sie sieht ihn wieder vor sich im Dreck hocken, noch ganz benommen von ihrem Yop-Chagi, einem seitlich gedrehten Tritt nach vorne, durch den sie mit der Fußaußenkante seinen Solarplexus so hart getroffen hat, dass er wie vom Blitz geschlagen zu Boden ging.

Ähnlich verhält es sich nun am Tisch schräg gegenüber, auf der anderen Seite des Ganges, wo eine Familie mit drei erwachsenen Kinder sitzt und blitzschnell über den Tisch langt, dann aber wie gelähmt dem wie von einem plötzlichen Schlag getroffenen Mobiltelefon hinterher sieht, das unaufhaltsam auf die Tischkante zu rutscht.

„Verdammt, Kai!“ schreit das Mädchen wütend, das offenbar die Jüngste der Geschwister ist, und funkelt ihren Bruder an, der am Ende des Tisches sitzt, aber dennoch das Telefon nicht mehr erreichen kann. „Halt es doch fest. Das ist ein nagelneues iPhone 6, verdammt nochmal!“

„Du sollst nicht fluchen“, mischt sich die Mutter ein. „Wie oft hab ich dir das schon gesagt, Linda? Kai, nun beeil dich doch, bevor es runterfällt.“

Doch bevor der Junge das elegante Mobiltelefon erwischen kann, rollt das Schiff auf die andere Seite, sodass alles in die entgegengesetzte Richtung rutscht. Triumphierend greift der ältere Bruder das Mobiltelefon und hält es seiner Schwester mit einem „Wer ist dein Lieblingsbruder?“ unter die Nase.

„Ach, Mats“, lacht sie. „Du bist genauso schlimm wie er.“

Sie deutet auf ihren anderen Bruder, muss sich aber wie der Rest der Familie das erleichterte Lachen verkneifen. Als das Schiff erneut auf die andere Seite rollt, hält das Mädchen ihr teures Mobiltelefon fest in der Hand und tippt weltvergessen darauf herum, ohne ihre Umgebung auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen.

Lotta wendet sich wieder ihrem Geschirr zu, das bei den Schiffsbewegungen merklich gerutscht aber nicht wirklich in Gefahr gewesen ist. Kurzerhand trinkt sie die Cola aus und stellt das leere Glas fest auf den Teller, den sie damit auf dem Tisch geradezu fixiert.

Ein junger Mann, der offenbar die warnende Ansage des Kapitäns ignoriert hat, schwankt mit verkrampfter Miene den schmalen Gang zwischen den Tischen im Bordrestaurant entlang. Offenbar von der Essensausgabe kommend, hält er sich so gut es geht mit ausgestreckten Armen fest und blickt starr geradeaus, über die Köpfe der Familie hinweg, in Richtung der rückwärtigen Kabinentür, die auch zu den Toiletten führt.

Trotz seiner etwas unbeholfenen Bewegungen kommt Lotta nicht umhin zu bemerken, wie gut er aussieht. Er ist etwa in ihrem Alter, vielleicht zwei, drei Jahre älter, sportlich schlank und muss mindestens einen Meter achtzig groß sein, da er immer wieder den Kopf unter den tief hängenden und heftig hin und her schaukelnden Deckenlampen einziehen muss. Sein daumenlanges Straßenköter-blondes Haar ist verstrubbelt und fällt ihm in glatten Strähnen sorgsam unfrisiert in die Stirn.

„Oh, Entschuldigung“, murmelt er, als eine erneute Bewegung des Schiffes ihn unerwartet zur Seite wanken, gegen Lottas Tisch stoßen und auf die freie Bank ihr gegenüber fallen lässt. Warme braune Augen werfen ihr einen treuherzigen Blick zu, den Lotta so formvollendet sonst nur von Hunden kennt.

„Schon okay“, antwortet sie neutral und wischt sich unwillkürlich eine ihrer kurzen kastanienbraunen Locken hinters Ohr. „Bleiben Sie meinetwegen sitzen, bis wir anlegen. Wir sind eh gleich da.“

„Na, so ein Glück“, antwortet er mit einem vorsichtigen Lächeln und wirft einen Blick in Richtung des Tisches, an dem die fünfköpfige Familie sitzt. Nun haben auch die Jungen ihre Mobiltelefone hervorgezogen und tippen gelangweilt auf den Displays herum, während sich die Eltern mit einem amüsierten Lächeln ansehen und leise unterhalten.

„Wieso?“ fragt Lotta mit einem leisen Kichern in der Stimme. „Sind Sie etwa seekrank?“

„Nicht doch“, erwidert der junge Mann und streicht sich eine Haarsträhne aus dem Augenwinkel. „Ich bin schließlich Surfer. Wasser ist mein Element.“

„Na, dann bin ich ja beruhigt“, antwortet Lotta halbernst. „Hatte schon befürchtet, ich müsste auf die Suche nach einer ‚Notfall-Tüte‘ gehen, wie es sie im Flugzeug immer gibt.“

„Haha“, murmelt der junge Mann mit gespielt beleidigter Miene, bevor er mit einem breiten Lächeln fortfährt: „Ich merke, Sie fahren nicht zum ersten Mal auf die Insel.“

„Falsch. Es ist tatsächlich mein erster Besuch auf Borkum.“

„Tatsache? Ich hätte gedacht, Sie wohnen da.“

„Wie kommen Sie denn da drauf?“

„Nur so ein Gefühl.“

„Falls es Sie wirklich interessiert“, antwortet Lotta, bevor sie sich bremsen kann, „ich komme aus Hamburg. Kennen Sie vielleicht, das ist diese schöne Hanse- und Weltstadt an der Elbe, berühmt für den Hafen, die Reeperbahn und die Franzbrötchen…“

„Kommt mir bekannt vor“, erwidert der junge Mann mit gespielt grüblerischer Miene. „Wenn’s eine Hansestadt ist, dann scheint sie mir verwandt zu sein mit Bremen. Da komme ich nämlich her. Oder, um genau zu sein, aus dem netten kleinen Örtchen Lilienthal, das dort in der Nähe ist.“

„Freut mich, ‚Mister Lilienthal‘“, frotzelt Lotta und erkennt durch das Fenster bereits den Leitdamm, der zur Hafeneinfahrt von Borkum führt. „Dann nehme ich an, Sie sind nicht zum ersten Mal auf der Insel?“

„Stimmt genau, ‚Fräulein Hamburg‘. Ich war im Sommer schon mal hier. Uns hat es so gut gefallen, dass wir jetzt über die Feiertage wiederkommen.“

‚Uns?‘ durchzuckt es Lotta enttäuscht. ‚Wie schade.‘ Aber, ehrlich gesagt, sie hat nicht wirklich damit gerechnet, dass so ein Typ noch nicht in festen Händen ist. Einen Ring trägt er zwar nicht, aber was heißt das heutzutage schon. Wahrscheinlich hat er eine hochschwangere Verlobte dabei, etwa so wie Christian, den Lotta per Zufall vor wenigen Tagen auf dem Weihnachtsmarkt an der Petri-Kirche getroffen hat.

Auch wenn es Lotta selbst gewesen ist, die sich vor fünf Jahren von dem egozentrischen Anwaltssohn getrennt hat, so ist es doch schmerzhaft gewesen, ihn Arm in Arm mit dieser Vanessa zu sehen, an deren Ringfinger ein Hochkaräter mit der Weihnachtsdekoration um die Wette geblitzt hat.

Christian ist immerhin ihre erste große Liebe gewesen, und die vergisst eine Frau nie; selbst nicht, wenn sie wie Feuer und Wasser gewesen sind und nie ernsthaft eine Zukunft gehabt hätten.

Die drei nichtssagenden Lückenbüßer, mit denen sie nacheinander bis kurz vor den Abschlussprüfungen an der Polizeischule zusammen gewesen ist, hat sie ohnehin aus ihrem Gedächtnis verdrängt. Sie kann sich kaum an ihre Namen erinnern, so austauschbar sind sie gewesen. Und ohnehin kommt sie gut allein zurecht und stirbt nicht am Single-Dasein.

So gesehen ist sie seit dem letzten Versuch vor einem guten Jahr nicht mehr auf der Suche nach ‚Prince Charming‘ oder ‚Mr Right‘. Sie stürzt sich lieber in ihre Arbeit, um gar nicht erst auf düstere Gedanken zu kommen, die nur ein einfühlsamer Mann mit Traumkörper, Humor und der nötigen Portion Grips erhellen könnte. ‚Mann-los glücklich‘, hat ihre beste Freundin Sanna gesagt, ‚nein, das könnte ich nicht. Aber du, Lottchen, du schaffst das. Du bist so viel stärker als ich.‘

Offiziell glaubt Lotta das auch und lebt diese Unabhängigkeit, in der sie auf niemanden außer sich selbst Rücksicht nehmen muss. Sie hat ihre kleine Zwei-Zimmer-Dachgeschosswohnung in einem westlichen Hamburger Stadtteil, ihren zukunftssicheren Job, Sanna und ihre Eltern. Mehr braucht sie nicht, offiziell gesprochen.

Wenn sie aber ehrlich ist, dann wünscht sie sich insgeheim doch einen starken Mann an ihrer Seite, einen, der sie nach einem harten Arbeitstag auch einfach mal nur in den Arm nimmt, ohne ihr immer gleich an die Wäsche zu gehen.

Rein optisch würde ihr Gegenüber, der sie aus seinen warmen braunen Augen freundlich anlächelt, gut passen. Aber Christian war auch gutaussehend, wobei der schöne Schein getrogen hat und die anfängliche heiße Verliebtheit mit der rosaroten Brille schnell in Enttäuschung umgeschlagen ist.

„Wenn Sie noch nie auf Borkum waren“, fährt ‚Mister Lilienthal‘ nachdenklich fort, „dann brauchen Sie vielleicht Hilfe, sich dort zurecht zu finden? Im Winter soll es etwas ruhiger zugehen als im Sommer, hat man mir gesagt. So hat zum Beispiel mein Lieblingscafé nur während der Saison auf, weil es ein Strandcafé ist. Aber, wenn Sie möchten, führe ich Sie gern mal ins Teehaus aus. Dort kann man gut essen.“

„Soll das ein Date werden?“

Die Frage rutscht Lotta unbeabsichtigt laut heraus. Erst denken, dann reden. Oberste Regel. Verdammt, als Polizistin hätte sie sich beherrschen müssen. Aber stattdessen sitzt sie hier vor diesem ausgesprochen hübschen Exemplar männlichen Geschlechts und lässt sich von seinem Charme einspinnen wie ein Backfisch, während die Fähre in den Hafen von Borkum einfährt. Ein Mädchen mit einer großen quadratischen Plastikwanne eilt routiniert durch die Gänge und sammelt das schmutzige Geschirr ein.

„Wenn Sie möchten, gern“, erwidert er nach einer Sekunde des Erstaunens über ihre Direktheit, bevor er mit treuherzigem Augenaufschlag hinzusetzt: „Wo wir uns jetzt schon so gut kennen, sollten wir uns vielleicht mit richtigem Namen anreden, was meinst du? Ich heiße Sebastian, Sebastian Pfeiffer, mit drei „f“ natürlich.“

„Angenehm“, will Lotta erwidern, doch da stoppt das Schiff mit einem harten Ruck und schleudert sie mit der Bauchdecke gegen die Tischkante, sodass ihr kurz der Atem wegbleibt.

„Und das dort drüben ist Momo“, ergänzt Sebastian und deutet zu einem Tisch rechts von der Tür, durch die bereits Fahrgäste zu den Gepäckablagen strömen. „Moritz Antonius Guth, heißt er richtig.“

Er hebt den Arm und winkt. Lotta wendet den Kopf, folgt seinem Blick und reißt die Augen auf. Sie merkt kaum, dass ihr die Kinnlade herunterklappt. Der junge Mann, der sich dort drüben gerade erhebt, ist in etwa genauso alt und groß wie Sebastian, ebenfalls blond, aber noch weitaus besser aussehend. ‚Beinah schon Model für Männerunterwäsche‘, denkt Lotta und spürt, wie ihr das Blut in die Wangen schießt.

‚Lieber Himmel, Lotta! Reiß dich zusammen!‘ schimpft sie in Gedanken mit sich selbst und drückt sich mit einer Hand den Unterkiefer nach oben, während sie mit dem anderen Handrücken einen dünnen Speichelfaden aus ihrem Mundwinkel wischt. ‚Wie peinlich!‘

*****

Ungeduldig wirft Moritz einen Blick auf seine sportliche Armbanduhr. ‚Nur kurz das Geschirr zurückbringen‘, hat Basti gesagt, bevor grinsend durch den Gang in Richtung Essensausgabe verschwunden ist. Eine Entfernung von höchstens vier Metern. Wieso braucht man für diese Aktion mehr als fünf Minuten?

Nachdenklich lässt Moritz seine grün-grauen Augen über die anderen Fahrgäste an Bord der MS Ostfriesland schweifen. Viele von ihnen sind bereits leicht grün im Gesicht, da das rollende Auf- und Niederstampfen der Autofähre beständig zunimmt, je weiter sie sich von Emden entfernen.

An den meisten Tischen sitzen Rentner oder junge Mütter mit Kleinkindern. Im Winter nimmt die Zahl der Grauköpfe offenbar überproportional zu, wenn nicht mehr Familien-Strandurlaub angesagt ist, sondern Kur und Wellness. Es wird herrlich ruhig sein in der gemütlichen Ferienwohnung im Dachgeschoss der alten Signalstation, die sie bereits im Sommer bewohnt haben.

Zwei Wochen Urlaub, eine Woche Erholung und den Rest der Tage Lernen für die Prüfungen, die Ende Januar anstehen. Warum nur hat er Mathe als zweites Hauptfach gewählt? Nicht, dass Basti mit Biologie einfacher dran wäre, aber irgendein ‚Laberfach‘ als Ergänzung zu Sport hätte es auch getan. Aber im Nachhinein ist man ja immer klüger.

So ist es mit allem, auch mit Frauen. Meistens hat er erst festgestellt, dass sie nicht zueinander gepasst haben, nachdem endgültig Schluss war. Nicht, dass sich jemals eine von ihm getrennt hätte. Dazu muss er nur einen Blick in den Spiegel werfen, um das ausschließen zu können. Aber sie sind alle langweilig geworden, mal früher, mal später, aber mit unausweichlicher Gewissheit. Sie sind austauschbar gewesen wie Barbie-Puppen. Ein bezauberndes Lächeln, ein makelloser Modelkörper, aber ohne Geist und Verstand.

Im Grunde genommen hat er mit keiner von ihnen mehr als drei zusammenhängende Sätze gewechselt. Wenn ihm oder ihr nichts mehr eingefallen ist, sind sie stets wie Tiere über einander hergefallen, um in körperlicher Ekstase den Ersatz für die Leere und Langeweile zu finden, die ihr Zusammensein mit sich gebracht hat. Aber er weiß, dass dies nicht alles sein kann.

Ohne es sich selbst oder Basti jemals offen eingestanden zu haben, sehnt er sich nach einer Frau, mit der er wirklich sein Leben teilen kann. Eine Frau, die ihn fasziniert, überrascht, begeistert und gleichermaßen erregt. Eine Frau, mit der er reden kann, wenn ihm danach ist, und die ihn nach einer langen Nacht des Lernens für einen herrlich langen Moment sanft in den Arm nimmt und zärtlich auf die Stirn küsst, wenn sie das gemeinsame Bett verlässt, um zur Uni oder zur Arbeit zu gehen.

‚Wunschträume!‘ schimpft Moritz in Gedanken mit sich selbst. ‚So eine Frau gibt es nicht, Momo. Die müsstest du dir schon selber backen…‘‘

Mit einem Seufzen denkt er zurück an den vergangenen Sommer, den er mit Basti auf Borkum verbracht hat. Sechs herrliche Wochen lang haben sie in der gemütlichen Ferienwohnung gewohnt und den Sommer genossen. Basti hat als Surflehrer gejobbt, Moritz selbst als Surf- und Segellehrer. Er hat es aufgegeben zu zählen, wie oft sie die Bucht am Hauptstrand hinauf und hinunter gekreuzt sind, vorbei an der Seehundbank und mit ausreichendem Sicherheitsabstand zur Badezone.

Er hat es ebenfalls aufgegeben zu zählen, wie viele Mädchenherzen sie in ihrer Rolle als coole Wassersportlehrer entflammt und dann am Ende der Ferien gebrochen haben. Besonders dieses eine Mädchen (hieß sie Lina oder Linda?) hat an Basti gehangen wie Fliegen an einem Löffel mit Honig. Es ist beinah schon amüsant gewesen, wie dämlich sie sich benommen und sich ihm schamlos an den Hals geworfen hat. Wenn Basti gewollt hätte, wäre sicherlich mehr daraus geworden. Aber neben Maja Lundqvist, der hübschen langbeinigen Schwedin, die ein wahres Naturtalent auf dem Surfbrett gewesen ist, hat sich jede andere verstecken müssen. Moritz kann verstehen, dass Basti sich sofort Hals über Kopf in die sonnengebräunte blonde junge Frau verliebt hat. Für einen Urlaubsflirt hält die Geschichte schon ziemlich lange, immerhin hat Basti bereits drei Wochenenden bei Maja in Stockholm verbracht.

Nachdenklich lässt Moritz seinen Blick weiter wandern, streift den kastanienbraun gelockten Hinterkopf einer zierlichen jungen Frau, die rechts an einem der Fenstertische sitzt, und fällt schließlich auf einen Tisch schräg davor am Gang, in dem soeben Basti aufgetaucht ist. Offenbar hat er eine Runde um die Kombüse gedreht und kommt nun durch den anderen Gang zurück, um die junge Mutter, die ihr strampelndes Kleinkind im Gang auf der linken Seite zum Stillsein ermahnt, nicht noch mehr zu stressen.

Im ersten Moment glaubt Moritz seinen Augen nicht zu trauen. Dann fällt ihm ein, dass viele zur Weihnachtszeit ihre Verwandten auf Borkum besuchen. Und, wenn er sich recht erinnert, dann hat Linda dort einen Großvater.

Hektisch reißt Moritz einen Arm hoch, um Sebastian zu bedeuten, nicht weiterzugehen. Noch hat Linda ihn nicht gesehen. Ein Glück, dass sie sich den Tisch ganz hinten genommen haben, hinter dem immens beleibten Rentnerehepaar, das mit Sicherheit zur (Abmagerungs-)Kur auf die Insel fährt. Warum sie das ausgerechnet über Weihnachten machen, muss niemand verstehen.

Sebastian hat alle Hände voll zu tun, auf dem schwankenden Schiff nicht hinzufallen. Doch er sieht Moritz und braucht zwar ein, zwei Augenblicke, um zu begreifen, dann aber hat er Linda und ihre Familie gesehen. Moritz erwartet, dass sein Freund nun schleunigst den Rückzug antreten und zurück um die Kombüse herum gehen wird. Stattdessen sinkt Sebastian, offenbar von den Bewegungen des Schiffes unterstützt, auf die freie Bank am Tisch der jungen Frau mit den kurzen kastanienbraunen Locken.

Grinsend beobachtet Moritz, wie sein Freund seinen ganzen Charme spielen lässt, um bis zum Ende der Fahrt nicht in Lindas Blickfeld geraten zu müssen. Denn dann wäre nicht nur Holland in Not. Dann wäre es vor allem dahin mit der Ruhe, auf die sie sich bei einem Besuch auf der winterlichen Insel so freuen.

Als die Fähre schließlich an der Hafenmole anlegt und alle Passagiere hektisch aufstehen und zu ihrem Gepäck in den Ablagefächern rennen, wartet Moritz mit abgewandtem Blick, bis Linda samt Familie an ihm vorbei zum hinteren Gepäckbereich gegangen ist. Dann steht er rasch auf und blickt zu Basti hinüber, der ihm fröhlich zuwinkt.

Gerade will Moritz seinen Platz verlassen und zu ihm gehen, da wendet die zierliche Frau mit den kurzen dunklen Locken den Kopf und folgt Sebastians Blick. Auf die Entfernung von drei Metern kann Moritz nur erkennen, dass sie dunkle Augen und ein fein geschnittenes Gesicht mit hohen Wangenknochen hat.

Sebastians Winken folgend, geht Moritz hinüber und schiebt sich hinter seinem Freund und der zierlichen jungen Frau, die ihm gerade mal bis zum Kinn reicht, den Gang entlang in Richtung Ausgang.

Sebastian hilft ihr galant mit ihrem, für eine Frau erstaunlich kleinen, Koffer, der allen Anschein eines Kurzbesuchs auf der Insel macht. Moritz schultert die Reisetasche, in der sie den Großteil ihrer Kleidung untergebracht haben, da der stabile Flugkoffer mit vier Rollen voller Lehrbücher ist. Schweigend lassen sie sich von den übrigen Passagieren über die klappernde Rampe vom Schiff an Land schieben. Linda und ihre Familie sind glücklicherweise irgendwo weiter hinter ihnen im Gedränge verschwunden.

„Aua!“ japst die junge Frau unvermittelt, als sie die treu wartende Borkum-Bahn erreichen und sich in Richtung des Waggons ‚Muschelfeld‘ wenden.

Instinktiv greift Moritz nach ihrem daunen-ummantelten Arm und hält sie fest. Ärgerlich wendet er sich an den älteren Mann im dunklen Wintermantel, der ihr offenbar sein klappriges Herrenfahrrad in die Fersen geschoben hat. Doch dieser ignoriert jeden Protest und starrt die junge Frau mit offenem Mund an.

„Lena!“ flüstert er heiser.

„Lotta“, korrigiert sie automatisch und setzt sich eine taubenblaue Wollmütze auf ihre kurzen kastanienbraunen Locken.

Der ältere Mann reagiert nicht, wendet sich abrupt ab und drängt sich an der zierlichen Frau vorbei, die ihm zwischen Schal und Mütze hervor aus haselnussbraunen Knopfaugen streng nachblickt. Der ältere Mann würdigt sie keines weiteren Blickes, schwingt sich auf das Rad und fährt mit kräftiger Beinarbeit in Richtung Borkum Stadt davon.

„Was für ein ungehobelter…“, brummt Sebastian, der bereits das Gepäck auf die kleine Plattform vorne am Waggon hinauf gehievt hat und von dort aus die ganze Szene beobachtet hat.

„Lass gut sein“, murmelt die junge Frau und klettert auf das Trittbrett des Waggons, der wenige Augenblicke später anruckt und rumpelnd in Richtung Borkum Stadt fährt.

Drinnen im Waggon ist es erstaunlich warm, weil die Heizspulen unter den Holzbänken auf Hochtouren laufen. Moritz genießt das sanfte Schaukeln der Insel-Eisenbahn und betrachtet nachdenklich die vorbeiziehende Landschaft. In der abendlichen Dämmerung ist kaum etwas zu erkennen, nur manchmal sieht er die gelblichen Scheinwerfer von Autos, die auf der Straße neben der Bahn vorbeifahren. Ansonsten: tote Hose. Ganz anders als im Sommer.

„So“, reißt Sebastians fröhliche Stimme Moritz aus seinen Gedanken. „Du heißt also Lotta. Gefällt mir.“

„Carlotta“, antwortet die junge Frau und hindert ihren Koffer daran, in den Gang zwischen den Bankreihen zu rollen.

„Gefällt mir auch“, erwidert Sebastian unbefangen, während Moritz ihm einen prüfenden Blick zuwirft. Ob er Maja bereits wieder vergessen hat? Offenbar ja, denn er schließt sogleich eine weitere Frage an, die er nicht stellen würde, wenn er kein Interesse an einer weiteren Bekanntschaft hätte.

„Meine Großmutter hat ein Haus hier auf der Insel“, antwortet Carlotta nach kurzem Zögern. „Sie hat es meiner Mutter vererbt. ‚Haus Westwind‘ heißt es.“

„Hey, das kenne ich“, rutscht es Moritz heraus. „Ein schönes altes Haus.“

„Ja?“ macht sie und zieht überrascht die fein geschwungenen Augenbrauen hoch. „Wie alt? Ich meine, ist es sehr baufällig?“

„Nicht doch“, erwidert er und lächelt. „Als wir im Sommer hier waren, sah es noch sehr gut aus; vor ein paar Jahren renoviert, würde ich sagen.“

„Wir bringen dich hin“, mischt sich Sebastian wieder ins Gespräch ein. „Wir kommen sowieso daran vorbei, denn wir wohnen in der alten Signalstation, kurz hinterm Deich an der Süderstraße.“

„Danke, das ist nett“, antwortet Carlotta und lächelt ihn an.

*****

Im Schatten des Deiches

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