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Lukas Bärfuss (*1971)

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«Kein Mensch ist eine Insel»: Was Eva im Stück Meienbergs Tod des Schweizer Autors Lukas Bärfuss über den Journalisten Niklaus Meienberg sagt, das gilt auch für die Schweiz. Akribisch untersucht Bärfuss in seinen Texten die Schweizer Befindlichkeiten, die Lust an der Ordnung etwa, oder auch den Willen zum Rückzug, zur Abschottung. Die seelische Vereinsamung aber, die uns Menschen einholt, wenn wir uns, statt uns mit uns selbst auseinanderzusetzen, nur noch der Arbeit und dem Konsum widmen, ist verheerend, sie ist tödlich. Als Lukas Bärfuss in einer Brandrede in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die heutigen Zustände in der Schweiz anprangert, wird er in Schweizer Medien aufs Heftigste persönlich angegriffen.

«Wie ist er denn, der Mensch?»,32 lässt der Schriftsteller Lukas Bärfuss eine seiner Figuren einmal fragen. Vielfältig ist er, soviel steht fest. Wer nur schon zwei oder drei Bücher des Autors gelesen hat, der wird diese Erkenntnis nicht mehr bestreiten. Echt sind sie, die Figuren in seinen Geschichten, sie tauchen auf und verschwinden wieder, alles eigentlich Nichtsnutze und doch imstande, unser Weltbild gehörig aus den Angeln zu heben, Parzival und David die einen, Eva und Alice die anderen. Es sind gewöhnliche Leute. Aus allen möglichen Schichten kommen sie und formen sich unter den Fingern dieses Autors zu wuchtigen Gestalten, sind plötzlich Philosoph, dann Mörder, dann wieder einfach nur leidenschaftlich Liebende. Es wird einander nachgestellt, Schwierigkeiten treten auf, Neid, Eifersucht, Missgunst, Rache, es wird intrigiert, der Jähzorn bricht von Zeit zu Zeit aus diesen Menschen, dann fluchen sie, und die derben Wörter stehen so irritierend im kunstvollen Text. Die Figuren verirren sich und finden sich meist wieder, als seelische Wracks, Gewalttäter, kleine Möchtegerndiktatoren oder Beziehungstyrannen, verelendet – wie etwa Parzival – auf der ewigen Suche nach dem heiligen Gral. Diese Menschen brauchen keine Kostüme, sie rauchen in einer miefigen Wohnung eine letzte Zigarette und lassen sich von Herrn Dr. Gustav Strom, dem Sterbehelfer, ins Jenseits befördern. Einfach so. So einfach.

Was nützt uns das, die Vielfalt des Menschen in der Literatur, mal vom Lesegenuss abgesehen? Zunächst einmal: nichts. Das sagt auch der Autor: Literatur bringt nichts. In seinem Buch Koala stellt der Erzähler seinen Ehrgeiz an den Pranger und sagt, er habe zwar stets täglich sein Soll erledigt und habe sich nur schlafen gelegt, «damit ich wieder frisch war für das nächste Tagwerk»,33 doch genützt habe es letztlich nichts: «Was ich damit schuf, war Abfall, ein grosser Haufen Vergeblichkeit, eine Beschäftigung um der Beschäftigung willen.» «Es wird nicht helfen», schreibt der Autor konsterniert, «nicht dir, nicht deinen Kindern, nicht der Welt.»34 Literatur, das Lesen: vergeudete Zeit, sagt Lukas Bärfuss. «In der Zeit, die sie jetzt gerade mit Lesen vergeuden, nimmt das Elend der Welt zu, während sie nicht das Geringste dagegen tun.»35 Literatur hilft nicht. Und doch hat Bärfuss bis heute nicht mit dem Schreiben aufgehört. Vielleicht sollten wir also statt nach ihrem Nutzen eher fragen, was Literatur ist oder was sie sein kann?

Literatur, so der Autor an anderer Stelle, ist Gestaltung, ist Malerei, ist Veranschaulichung, sie ist also eine Form der Kunst. «Worte definieren Bilder / und Bilder definieren Werte.»36 Werte, ein konservatives Wort. Ein gesellschaftlicher Wert hat sich über lange Zeit herausgebildet, er besitzt eine gewisse Konstanz. Doch gibt es einen Wert, der sich gerade durch seine stete Veränderung als Wert auszeichnet. Vielfalt. Vielfältig ist das menschliche Leben, und es ist ständiger Veränderung unterworfen. Lukas Bärfuss, ein Schweizer, ein Berner, ein Berner Oberländer, wird immer wieder an die Vielfalt, an «den Reichtum der deutschen Sprache»37 erinnert: «Über mein Idiom / wann immer ich das Bernbiet verlasse / machen sich die Leute lustig.»38 Man fühlt sich an Friedrich Dürrenmatt erinnert. Als Schweizer fühlt man sich im Hochdeutschen streng beobachtet. Man quittiert es mit Humor, mehr noch, man nimmt es als Kompliment. Wir reden anders als ihr, und trotzdem haben wir etwas zu sagen. Der Wert der verschiedenen Dialekte, der Wert des freien Wortes: eine schweizerische, aber auch eine europäische Möglichkeit. Man kann sich verbinden, trotz der Vielzahl von Sprachen und Idiomen. Man spricht eine gemeinsame Sprache, trotz unterschiedlicher Dialekte, ja sogar trotz unterschiedlicher Sprachen. Man spricht, zum Beispiel, die Sprache der Aufklärung: Wer sich verbindet «mit den anderen / Mit den Fremden / […] beginnt zu denken».39 Wo die Sprache auf Vielfalt hinweist, da ist das «Faktische» abgeschafft, da kann ein «Entwurf der Möglichkeiten»40 ausgestaltet werden. Und damit wird, mit den Worten Lukas Bärfuss’, nichts Geringeres als die Aufklärung – eine genuin europäische Errungenschaft – selbst gerettet.41 Man muss versuchen, sich zu verstehen, muss Fragen stellen und Fragen beantworten, so findet man trotz unterschiedlicher Sprache zu einem gegenseitigen Verständnis. Wo Fragen sind, da wird nachgedacht. Der Ausgang dieses Nachdenkens ist ungewiss, er ist beliebig, vielfältig.

Sprache, Literatur: ein Ort der Verbundenheit mit der Komplexität dieser Welt, ein Möglichkeitsort. Wo Geschichten sind, da ist Kommunikation, da wird etwas vermittelt, wo etwas vermittelt und nicht einseitig behauptet wird, da gibt es auch Differenzen. «Ohne […] Konflikte gibt es keine Literatur»,42 sagt Bärfuss. Die Frage ist also, ob Konflikte möglich sind oder nicht. Totalitäre, mittlerweile auch populistische Gesellschaften lassen den Konflikt nicht zu: «Der Feind ist der Feind. Das Volk ist das Volk. Die Schande ist eine Schande.»43 In demokratischen Gesellschaften hingegen ist der Konflikt konstitutiv, überlebensnotwendig. Wo Differenzen offen ausgesprochen werden können, wo die Rede frei ist, da öffnet sich für den Schriftsteller Lukas Bärfuss ein Raum für Wahrheit. «Wahrheit», so Bärfuss, «braucht Dialektik, sie braucht Kritik.»44 Wahrheit ist eine Erfahrung, keine Offenbarung, sie wird ausgehandelt, ist nicht in Stein gemeisselt. «In allen Himmeln / In allen Zeiten / gab es nicht zwei gleiche Schneekristalle / Jeder ist einzigartig.»45 Jeder ist einzigartig. Und Bärfuss meint damit natürlich den Menschen. Als Redner an einer Maturitätsfeier – hier zitiert aus Stil und Moral – erklärte er einmal: «Die Matura ist vielleicht nichts Besonderes Aber Sie Sie sind etwas Besonderes Jede und Jeder von ihnen ist einzigartig […] Sie können sich darauf verlassen Sie sind einzigartig Punkt.»46

Der Mensch also ist einzigartig in seiner Vielfältigkeit. Und so sind es auch die von Lukas Bärfuss geschaffenen Figuren. Alle seine Figuren: einzigartig. Ihr Denken, Fühlen, Handeln: einzigartig. Als der Sterbehelfer Gustav das einmal genau so sagt zu einem Kunden: «Everyone is unique», da quittiert dies sein Gegenüber zwar mit einem müden «Yeah, blablablabla, Doctor, blabla»,47 doch diese Reaktion ist gerade der Beweis seiner Einzigartigkeit, dafür, dass er eine eigene Meinung hat und es ihm möglich ist, diese Meinung auch mitzuteilen, den Konflikt auszutragen. In der Möglichkeit des Konflikts werden die Figuren in Lukas Bärfuss’ Texten zu Menschen.

In einer freiheitlichen Gesellschaft einzigartiger Menschen entwickeln sich unendlich viele Konflikte. Mit ihnen klarzukommen, dazu braucht es eine grosse Offenheit. Ist jeder Mensch einzigartig, fehlt die Möglichkeit der Gleichschaltung und damit der Boden für Totalitarismen. Vielleicht aber, und das ist die grosse Herausforderung, sind hier die Gemeinschaft und ihr Zusammenhalt in Gefahr. Gemeinschaften stehen auch für das «Begehren […], aus vielen Körpern einen Körper, aus vielen Geistern einen Geist formen zu wollen».48 Und wer sich von diesem Gedanken der Einheit entfernen möchte, der muss einen Preis bezahlen, «den Preis, sich endgültig getrennt zu wissen und alleine».49 Ist das nicht die grösste Gefahr im heutigen Europa? Die Vereinsamung, die völlige Isoliertheit? Ist es nicht diese Einsamkeit, welche die Menschen in die Arme der populistischen Parteien treibt, die ihnen wieder eine Identität als Heimat versprechen, eine Gemeinschaft, ein Volksgefüge, eine Definition von Nation?

Ein Denkfehler. Nicht die Einzigartigkeit der Menschen macht sie einsam, sondern ihr Unvermögen, ihr Unwissen darüber, wie mit dieser Einzigartigkeit umzugehen ist, inwiefern sie für sie ein Gewinn sein kann. «Der Zeitgenosse», so Bärfuss kritisch, «hat gelernt, seinen Alltag pragmatisch anzugehen. Das heisst in seinem Fall: darauf zu achten, als wirtschaftliches Subjekt zu bestehen.»50 Die Anpassung, die Leere, das Lauwarme, die Gemütlichkeit: Immer wieder streben die Figuren in Bärfuss’ Texten danach. Dem widerspenstigen Tony werden mittels eines chirurgischen Eingriffs des Autors im Stück Zwanzigtausend Seiten kurzerhand alle schlechten Seiten wegoperiert. «Wir konnten die Seiten, die Tony belastet haben, entfernen und durch solche ersetzen, mit denen er sein Leben erfolgreich gestalten kann»,51 erklärt die Therapeutin der Leserin, dem Leser jetzt nüchtern. Der Makel gilt nicht mehr als Spezialität, sondern als störendes Geschwür. Der Rückzug in sich selbst wird bei Bärfuss zu einem Credo, niemand möchte mehr anecken, niemand dem anderen zur Last fallen. Die Jugend und mit ihr das Aufbegehren, das Rebellieren wird zu einer «Provokation».52 Kritische Stimmen werden rar, sie werden zu Ikonen, wie der Journalist Niklaus Meienberg, der im Stück Meienbergs Tod als Einziger noch «Lust verspürt, diese Körper zu öffnen, um zu sehen, ob etwas lebt unter diesen Haarschnitten».53 Ordnung muss herrschen in der heutigen Welt, alles hat seinen Platz und sollte auch dort bleiben. «Die unwillkürlichen Bewegungen: unsere Gesellschaft hasst sie, sie hasst den Kontrollverlust»,54 so Bärfuss.

Nirgends lässt sich dieser Rückzug in die Unbewegtheit schöner beobachten als in der Schweiz. Bärfuss’ Literatur handelt von und in der Schweiz. Hundert Tage, sein wohl bekanntester Roman, ist der Bericht eines Schweizer Entwicklungshelfers in Ruanda. Was sich für den Entwicklungshelfer David Hohl in angenehmer Vertrautheit zunächst wie eine Ferienreise in ein «kleines, bergiges» und von «schweigsamen, misstrauischen und fleissigen Bauern»55 bewohntes Land ausnimmt, entwickelt sich zu einem Horrortrip inklusive unbewusster Mittäterschaft am Völkermord in Ruanda. Da wird der Name David Hohl natürlich zum Programm. David, der Retter, bleibt inwendig erstaunlich pragmatisch und leer. Hohl sucht das Abenteuer im dunklen Afrika, weil der Friede in der Schweiz «sich durch Langeweile»56 auszeichnet. Als die Gewalt ausbricht, verfliegt damit für Hohl auch die Langeweile, und er hätte «etwas darum gegeben, wenn in meinem Land so viel in Bewegung gekommen wäre wie hier».57

Die perfekte Ordnung, die grösstmögliche Sauberkeit: «So ein schönes Land. Die Schweiz. Bei uns sind die Bahnhöfe ja Löcher. Aber hier. So menschenfreundlich»,58 sagt Alice, die sterbewillige Deutsche, einmal in Alices Reise in die Schweiz. Wer das anders sieht, der kommt in den Geschichten von Lukas Bärfuss schnell unter die Räder, der führt ein schwieriges, ein prekäres, ja ein gefährliches Leben. Da «hierzulande alles, was exzellent sei, gleichzeitig eine Gefahr darstelle», müsse man sich in das Ordinäre, ins Gewöhnliche flüchten, «da jeder stinke, müssen alle stinken, da dieses Land eine Latrine sei»,59 erklärt ein aufgebrachter Professor einmal unter der Feder von Bärfuss. Ab und an beklagen sich die Figuren zwar darüber, dass es in der Schweiz «kaum mehr Menschen» gebe, «die ausbrechen wollen»,60 doch es sind einzelne Ausrufe, das traute Heim, die Wohlbehaglichkeit, die Sicherheit ist dann doch wichtiger, «Sicherheit ist alles»,61 so der Autor an anderer Stelle.

Was die Figuren von Bärfuss nicht oder erst viel zu spät merken, ist, dass auch in der Ordnung und in der Sicherheit eine Gefahr liegt, gar eine lebensbedrohliche. Erst im Nachhinein, im sicheren Zuhause in der Schweiz, geht dem Entwicklungshelfer David Hohl auf, dass es vielleicht «eine Symbiose gab zwischen unserer Tugend und ihrem Verbrechen», eine Symbiose also zwischen einerseits unseren Schweizer Tugenden wie «Ordentlichkeit, Sauberkeit, Ehrlichkeit, […] Fleiss»62 und andererseits dem 100 000-fachen Abschlachten der Menschen in Ruanda. Erst hier in der Schweiz beginnt David Hohl zu ahnen, «dass in der perfekten Hölle die perfekte Ordnung herrscht».63 Die Sicherheit ist angenehm, klar, aber sie führt auch «zu Erstickungsanfällen. Die Menschen leben nicht, sie tun nur so».64 Nicht zu retten sind die Menschen, wenn sie nur noch nach Sicherheit streben. «Rette uns», fleht «die Dicke» ihre Kontrahentin Erika einmal an, doch diese will nicht: «Ihr seid nicht zu retten.» Da erkennt die Dicke plötzlich, wie es um sie und die Menschen, die sie umgeben, steht: «Wir sind leer», antwortet sie, «fülle uns mit deinem Glauben.»65

Ein möglicher Ausweg aus dem lähmenden Stillstand ist die Bewegung, die Auseinandersetzung, das Verlassen von Sicherheiten, die Provokation, die Rebellion. Für den Entwicklungshelfer David Hohl waren die 100 Tage in Ruanda auch ein Abenteuer. Endlich ging etwas. Die Lust am Krieg, auch am Tod, sie hilft den Figuren in den Stücken von Lukas Bärfuss immer dann, wenn die Leere unerträglich wird. «Heil dir, Gegenwart, dass du uns wieder Kriege führen lässt», sagt Hans zu Niklaus Meienberg, dem Rebellen, «unsere Worte haben wieder die grösste und erhabenste aller Entsprechungen in der Wirklichkeit: den Krieg.»66 Hans freut sich auf das Gemetzel, darauf, dass «wir uns endlich wieder im Krepieren [werden] üben»67 können. Das Ausbrechen aus der Langeweile kann aber auch, wie von Bärfuss in seinem Roman Koala beklemmend aufgezeigt, der Weg in den Freitod sein. Es ist die Geschichte über den Selbstmord des Bruders, welcher mit der Entscheidung, sich das Leben zu nehmen, «endgültig und ohne Widerruf die Arbeit verweigert».68 Die heutige Gesellschaft überdeckt den Stillstand mit Arbeit, mit Fleiss. «Die Medizin gegen die Angst», die Angst vor dem Stillstand, ist «der Fleiss».69 Man arbeitet sich die Angst vor der Auseinandersetzung mit dem Stillstand weg und merkt nicht, wie man ein wirtschaftliches Subjekt im weltumspannenden System des Kapitalismus ist, gesichtslos und ohne Spezialität, ein «Zahnrädchen» im «Räderwerk dieser Gesellschaft», das so «reibungslos ineinandergreift» ohne Knirschen und Knacken.70 «Der Mensch ist gefangen in Kreisläufen.»71 Eine nicht gerade optimistische Betrachtung der menschlichen Existenz.

Doch ausweglos ist die Situation nicht. Ganz am Anfang der menschlichen Existenz steht die Erkenntnis, die Eva – ihr Name ist kein Zufall – im Stück über Meienberg hat: «Kein Mensch ist eine Insel.»72 Alleine kann der Mensch nicht leben. Er braucht ihn umgebende Menschen, die mit ihm in Dialog stehen. Gegen den Stillstand, gegen die Einsamkeit hilft die Konfrontation. Wer leben will, muss sprechen. «Es gibt etwas, das man nicht zerstören kann, solange es Menschen gibt», sagt John, der Literaturagent, zum widerspenstigen Tony. «Etwas, das weiterlebt, lebendig bleibt. Was wissen wir von den Römern, von den Rittern und den Seefahrern. Nichts als ihre Geschichten. Es gibt nichts Stärkeres als eine Geschichte.»73 Der genuine Ort, an dem die menschlichen Geschichten erzählt werden, ist das Theater. Das Theater ist Bärfuss’ grosse Leidenschaft. Dass Geschichten gefährlich sein können wie der Krieg, aufregend wie ein Abenteuer im dunklen Afrika, das ist bei Bärfuss offensichtlich. «Es ist gefährlich, ins Theater zu gehen. Ein Theater ist ein Irrenhaus»,74 sagt die Figur Niklaus Meienberg einmal. Im Theater wird der Mensch zerlegt. Seine Widersprüche, seine Konflikte, seine Ängste werden plötzlich sichtbar. Man könnte zwar meinen, alles sei nichts als Spiel, doch die Erkenntnis, die aus diesem Spiel gewonnen wird, ist real, sie ist lebensecht. Das berühmte Spiel Hamlets vor seinem Stiefvater, dem neuen König, wird zu einer Anklage und gleichzeitig zu einem Prozess. Die unmittelbare Reaktion des Königs auf das Theaterspiel überzeugt Hamlet von dessen Schuld am Mord seines Vaters. Auch Bärfuss’ Stücke, wie er sie simpel nennt, ermöglichen Erkenntnis. Die wohl wichtigste Erkenntnis ist die: Die Menschen sind vielfältig, die Konflikte ohne Zahl und Zeit. Wir erfahren im Theater also Möglichkeiten, wie mit menschlichen Konflikten umzugehen ist, oder, vielleicht ist das sogar noch wichtiger, wir erfahren, wie mit menschlichen Konflikten eben gerade nicht umzugehen ist, will man sich nicht plötzlich tot auf einer Bühne wiederfinden.

Bärfuss zeigt auf, warum «am Ende der Sprache», am Ende des Theaters, der Tod lauert. Die vereinsamten Menschen irren umher und kommen sich abhanden. Einer der einsamsten Menschen in Bärfuss’ Stücken ist Parzival im gleichnamigen Stück. Die Welt, in der dieser Parzival aufwächst, ist zu einer seelischen Wüste verkommen. «Du kannst den Jungen aus der Einöde holen, aber die Einöde nicht aus dem Jungen»,75 steht da einleitend und wie eine Art Prophezeiung über Parzival. Alles Schöne ist in dieser Welt vernichtet, oder es wird gerade vernichtet, von Parzivals eigener Mutter: «Geht. Tötet alle Vögel», beauftragt sie die Bauern, Parzival «soll nicht sehnsüchtig sein.»76 Die Menschen in den Stücken von Lukas Bärfuss können ihre Konflikte nicht anders als mit Gewalt lösen, und es wird einem bewusst, wie bedroht die menschliche Existenz doch eigentlich ist. Man überlegt sich, wie eine andere Welt aussehen könnte: eine blühende, farbige Welt, in der Konflikte Platz haben, in der man sich austauscht. Hier wird das Theater politisch. «Im Zentrum des Theaters […] steht allein der Mensch. Der Mensch ist teuer. Man könnte auch sagen, er ist kostbar»,77 sagt Bärfuss. Das Theater verweist auf den Menschen und seine Konflikte, es bildet den Menschen in seiner Unterschiedlichkeit aus. «So habe ich Bildung seither verstanden», erklärt Bärfuss einmal, «als eine Möglichkeit, ein Mensch zu werden, der sich unterscheidet, der anders ist und der diese Differenz nicht als Makel, sondern als Auszeichnung versteht.»78 Anerkennt der Mensch seine Einzigartigkeit, erkennt er sie hoffentlich auch in den anderen Menschen. Hier tut sich ein Raum auf: eine Gemeinschaft von Menschen, die sich gegenseitig in ihrer Vielfalt würdigen. Das Theater verweist so «auf den Menschen, dem es nicht genügt, im fahlen Licht der Bildschirme zu ermatten, zu Hause vom Home-Cinema unterhalten zu werden, in vierzig Folgen und in Dolby-Surround». Das Theater wird zu einer Begegnungszone für alle Menschen, so unterschiedlich sie auch sind, auf der Bühne, aber auch im Publikum. Das Theater «steht für den Menschen, dem es nicht genügt, alleine zu sein und ohne Applaus».79

Das Theater ist die ganz persönliche Rettung von Lukas Bärfuss. Seine Kindheit und Jugend in der Kleist-Stadt Thun, wo «die Panzer […] in langen Kolonnen durch die Stadt» fahren und «vom Übungsplatz […] der Lärm der Maschinengewehre und Haubitzen»80 herüberdrängt, sind schwierig. Um ihn herum bricht alles zusammen, «es war ein einziges Niederreissen, nichts blieb, wie es war».81 Ein Hirntumor macht seinen besten Freund zu einem anderen Menschen, und bald darauf verschwindet auch der Stiefvater «spurlos, und die Familie, in die ich geraten war, ging in die Brüche».82 Sein leiblicher Vater hatte sich schon früher «aus der Gesellschaft verabschiedet».83 In seiner Jugend besucht Bärfuss kurz das staatliche Lehrerseminar und nennt dies die «einzige höhere Ausbildung, die ich in meinem Leben genossen habe».84 Bärfuss lebt im Moment, zieht umher, geniesst seine Freiheit und will einfach «nicht dazugehören» zur Gesellschaft.85 Ein Aussenseiter, einsam wie seine Figuren. Dann beginnt er zu lesen. Es ist, wie er selbst sagt, seine Rettung.86 Durch die Literatur findet er Zugang zu seiner eigenen Geschichte, eine Geschichte, die plötzlich einen Wert bekommt, die erzählt werden kann. Seine eigene Geschichte kann jetzt, indem er darüber zu schreiben beginnt, erfahren werden, von ihm selbst, aber auch von seinen Lesern. «Was mir blieb», sagt Lukas Bärfuss heute über seine späte Jugendzeit, «war das Schreiben, die Erfindung meiner oder irgendeiner Geschichte, weniger, um zu erzählen, als um etwas zu erfahren, über mich und meine Stellung in den Ereignissen, die man als Schicksal bezeichnet.»87 Er stemmt sich gegen die Flucht, die Ausflucht; sein Vater, sein Stiefvater und auch sein Bruder sind geflüchtet, er findet einen anderen Ausweg aus der Misere, die auch eine zutiefst menschliche ist. Er versucht jetzt, aus seinen Erfahrungen zu lernen. «Es gibt angenehme und schmerzhafte Erfahrungen», sagt Bärfuss, aber es gibt «keine falschen Erfahrungen.»88 Bärfuss will den Problemen, die immer wieder auf ihn zukommen, nicht ausweichen, im Gegenteil. «Wir könnten ein paar neue Probleme gebrauchen»,89 sagt er den Maturanden an ihrer Feier, und ein anderes Mal: «Schwieriges hielt mich nicht ab, es spornte mich an.»90

Probleme, Schwierigkeiten, Konflikte: Hier entsteht die Literatur, hier wird der Autor Lukas Bärfuss fündig. Das menschliche Zusammenleben wird zu einem «Abmühen». «Wir werden uns abmühen müssen mit der Grammatik des menschlichen Zusammenlebens»,91 fordert Bärfuss einmal. Man muss die Lösung gemeinsam suchen, die Konflikte gemeinsam angehen, alles ist miteinander verbunden, Isolation, auch Flucht ist nicht möglich, sie führt in die Zerstörung, gerade die Literatur lehrt uns das: «In jeder Geschichte findet man die Spuren aller anderen Geschichten. Keine Geschichte kann sich isolieren»,92 ist Bärfuss überzeugt. Wer den Konflikt als menschliches Schicksal anerkennt, der trachtet danach, den Konflikt lösen zu können. Wer den Konflikt nicht anerkennt, also vor ihm flüchtet, der wird ihn auch nicht lösen können. Das ist die Entscheidung, die Lukas Bärfuss in seiner Jugend fällte: sich dem Konflikt zu stellen. Damit ist er ein politischer Mensch geworden. «Sich [zu] entscheiden» heisst für Bärfuss, «politisch zu werden».93

Das Abstrakte, die Vereinfachung: Politisch gesehen sind sie eine Unmöglichkeit. Es gibt keine «Schweiz», und sollte es sie doch geben, dann höchstens in der Vielzahl. «Genau genommen gibt es den Staat, die Schweizerische Eidgenossenschaft nicht, nicht in der Wirklichkeit. Sie ist ein Abstraktum. […] Das Land ist nicht unabhängig, ganz im Gegenteil: Die politischen, kulturellen, wirtschaftlichen, klimatischen Abhängigkeiten sind offensichtlich – und vor allem sind viele von diesen segensreich. […] Jedenfalls bleibt der Staat eine Behauptung.»94 Das führt zur Schlussfolgerung, dass die «Abschottung […] nicht gelingen» kann und nicht gelingen wird, «mit welcher Gewalt sie auch durchgesetzt werden will».95 Die Schweiz ist Teil eines grösseren Ganzen, sie ist Teil Europas. Wenn kein Mensch «eine Insel» sein kann, dann können es auch Gesellschaften oder Gemeinschaften wie beispielsweise die Schweiz nicht sein. Nein, eine Scholle ist die Schweiz mit Sicherheit nicht. Der Mensch und damit die menschlichen Gesellschaften existieren für Lukas Bärfuss «streng genommen […] nur durch die Beziehung».96

Wenn also die Schweizerinnen und Schweizer in einer eigenartigen Manie an einem Sammelspiel eines Grossverteilers teilnehmen, statt abstimmen zu gehen, dann stimmt etwas nicht mehr mit den politischen Zeitgenossen. Das ist der Aufhänger des Textes von Lukas Bärfuss, der im Oktober 2015, eine Woche vor den nationalen Wahlen, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien. «Die Schweiz ist des Wahnsinns», diagnostiziert Bärfuss jetzt ernüchtert. Der Text ist eine Polemik, eine Wutrede. Man flüchte sich in der Schweiz vor den Herausforderungen, die anstünden, liest man da. Was ein bisschen rieche, etwa das Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union, das hänge man in der Schweiz jetzt einfach mal auf den Balkon, in der Hoffnung, der Gestank werde sich wieder verziehen. Brav seien die Schweizerinnen und Schweizer, Protest sei rar, Nase zuhalten und durchmarschieren, das sei die Devise. Alle machten dieses Spiel mit, auch die Medien, sagt Bärfuss entrüstet. Man ducke sich und ziehe sich zurück. Jetzt endlich werde man auch von aussen als die Zwerge wahrgenommen, als die sich die Schweizer immer gerne ausgeben: verantwortungslos, klein, irrelevant. Dass diese Flucht, diese Idee, man könne sich von Europa abschotten als kleine Schweiz, man könne sich lossagen von den Verantwortlichkeiten, dem Schriftsteller Lukas Bärfuss zutiefst zuwider ist, hat seine Gründe: Die Flucht weist in irritierender Weise zurück in seine Kindheit, und er stellt sich ihr in der Konfrontation. Damit ist Lukas Bärfuss auch Europäer geworden: «Jeden Tag finde ich Dinge, die ich nicht verstehe, und jeden Tag tröste ich mich, dass mein Europa mit der Aufklärung und die Aufklärung mit einer Frage beginnt, nicht mit einer Antwort.»97

Die Polemik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kommt nicht gut an. Sie wird in den Schweizer Medien verrissen. Im Zürcher Tages-Anzeiger werden die von Bärfuss beschriebenen Zerfallserscheinungen der Schweiz kurzerhand auf seine eigenen «analytischen Fähigkeiten»98 übertragen. Man wirft dem Autor vor, dass er seinen Text nicht gut recherchiert habe, sondern mit «Schaum vor dem Mund» eine «undifferenzierte» Attacke geführt habe.99 Wer «von der Schweiz, diesem ökonomisch und künstlerisch potenten Land, als einem ‹Volk von Zwergen› spricht», so der Ressortleiter Kultur des Tages-Anzeigers, der bleibe «fern der Realität».100 Wehe, wer es wagt, die Schweiz in ihrem Stolz zu verletzen. Der Chefredaktor der Aargauer Zeitung moniert in einem Kommentar, dass Bärfuss in seinem Text «nichts zu sagen» habe, «was man nicht schon anderswo – und dort stringenter formuliert – gelesen hat».101 Auch die Basler Zeitung nennt die literarischen Fähigkeiten von Lukas Bärfuss «limitiert» und den Autor selbst einen «literarischen Grobmotoriker», der sich «in seiner geistigen Provinz» verschanze.102 Lukas Bärfuss hat die Schweizerinnen und Schweizer persönlich angegriffen, jetzt wird zurückgeschossen. Pedro Lenz, Schriftsteller aus Olten, hat das kommen sehen und Lukas Bärfuss in einem offenen Brief gewarnt: «Ich warne dich vor der Rache derer, die du herausforderst. Es gibt nichts gratis bei uns, nicht einmal die Gratispresse ist gratis. Sie werden dich plagen. […] Auf dich als Person werden sie zielen, plump, aber böse […].»103

Am darauffolgenden Wochenende sorgten die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger für einen weiteren Rechtsrutsch im Parlament. Das Verhältnis der Schweiz zur EU ist nach wie vor schwierig. Eine Lösung der zahlreichen Probleme, die anstehen – wie etwa ein Rahmenabkommen –, ist weiterhin nicht in Sicht. Nase zuhalten und abwarten: An dieser helvetischen Devise änderte sich auch nach der Polemik von Lukas Bärfuss nichts.

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