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Einleitung
ОглавлениеUm offen zu sein: Für das politisch organisierte Europa – die heutige Europäische Union – begann ich mich erst zu interessieren, als Griechenland in die schwere Krise schlitterte und ich auf einer Reise nach Athen zu einem Freund erstmals die Begriffe Troika und Staatsverschuldung hörte. Von Athen kehrte ich mit dem Eindruck zurück, Europa sei abzuschaffen. Wenig später startete ich bei der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (Nebs) ein Praktikum. Was als pseudorevolutionäre Idee ihren Anfang nahm, hat mich seither nicht mehr losgelassen. Mein Arbeitsbeginn war der 3. Februar 2014, eine Woche bevor die Masseneinwanderungsinitiative angenommen und das Sekretariat der Nebs mit Anmeldungen für eine Neumitgliedschaft überflutet wurde. Ich erschrak sehr. Wie kamen die Menschen dazu, für ein Europa einzustehen, das kleine Mitgliedstaaten wie Griechenland und Portugal mit hanebüchenen Fiskalregeln drangsalierte und sich offensichtlich nicht um demokratische Mitspracherechte kümmerte? Mir wurde bewusst, dass es offenbar gute Gründe gab, trotz Wirtschaftskrise und Demokratiedefiziten weiterhin an ein geeintes Europa zu glauben. Auf der Suche nach diesen Gründen habe ich eine Faszination erfahren, eine Hingabe, eine Begeisterung für ein politisches Projekt, wie ich sie nicht für möglich gehalten hätte. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Nebs traf ich schliesslich auf Menschen wie Gret Haller oder André von Graffenried. Ich spürte ihre Leidenschaft für ein geeintes Europa, aber auch ihre Ängste und ihre Verunsicherung.
Mir wurde klar, dass die ambivalente Beziehung zu Europa für die Schweiz eine existenzielle Dimension hat: Sie definiert sich über sie, sei es in Abgrenzung oder als Modellfall. Läufts schief in Europa, rühmt sich die Schweiz sofort eines Besseren. Gelingt hingegen etwas, so weiss die Schweiz darauf hinzuweisen, dass sie als Vorbild dafür diente. Dieser Reflex existiert nicht erst, seit sich die Nachbarn in der EU organisiert haben. Er besitzt eine lange Geschichte.
Die zehn Reden und Texte, welche für dieses Buch ausgewählt wurden, stehen für drei spezifische helvetisch-europäische Themenkomplexe: Erster und wohl prominentester Gedanke ist die Idee, dass die Schweiz Europa ein Vorbild sein könne. Alle im Folgenden präsentierten Personen arbeiteten sich an dieser Thematik ab. Einig sind sie sich darin, dass die vielsprachige Schweiz etwas genuin Europäisches in sich trägt. Das Wesen der Schweiz «als eine vielgestaltige, in mehreren Sprachen redende, viele Meinungen bekennende Volksgemeinschaft», wie es Jean Rudolf von Salis beschreibt, ist tatsächlich einzigartig in Europa: Weder entsprechen die Sprach- den Konfessionsgrenzen, noch sind städtische Ballungszentren bestimmend für Kantonsgrenzen. Der vielfältigen politischen Zusammenarbeit sind damit kaum Grenzen gesetzt. Hinzu kommen die direktdemokratische Beteiligung der Bevölkerung sowie der föderale Aufbau der politischen Schweiz. Was von aussen betrachtet seine Schwierigkeiten in der augenscheinlichen Schwerfälligkeit hat, ist für die Schweizerinnen und Schweizer Ausdruck von Mitbestimmung und Schutz der Minderheiten. Wir alle wissen um die Dauer politischer Prozesse in der Schweiz: «Die wirklichen Abläufe geschehen» bei uns eben «gletscherhaft langsam in der Tiefe», so Peter von Matt. Unser politisches System fördert offenbar den Ausgleich, dominierende Parteien und Politiker werden früher oder später abgestraft, Kompromisse sind möglich, die vernünftige Mehrheit setzt sich – im Gegensatz zu den «Anhängern des Machtkultus», wie es Paul Seippel nennt – durch. Die vielgestaltige Schweiz bewegt sich stärker, als von aussen wahrgenommen wird. Was die politischen Grundkonzepte des Föderalismus und der direkten Demokratie betrifft, kann Europa von der Schweiz lernen, darüber sind sich die nachfolgend vorgestellten Personen einig. In dieser Idee enthalten ist auch der Gedanke der Weiterentwicklung: Das Projekt Europa ist noch längst nicht abgeschlossen, es kann und muss sich fortentwickeln. Begreift sich Europa als Projekt, das in einem demokratischen «Aushandlungsprozess», so Gret Haller, immer weiter ausgestaltet wird, so wird es auch zukunftsfähig sein.
Damit Europa gelingen kann, braucht es den politischen, mündigen Bürger, nicht das Individuum und nicht das Kollektiv, sondern die «freie und verantwortliche Person», sagt Denis de Rougemont; auch darüber herrscht Einigkeit bei den Autoren. Womit wir bei der zweiten Thematik dieses Buches sind: Europa als Ort der Aufklärung. Europa beginnt für die hier vorgestellten Schweizer Intellektuellen «mit der Aufklärung» und diese Aufklärung wiederum «mit einer Frage», so Lukas Bärfuss. Grundvoraussetzung für dieses aufgeklärte Europa ist der Gedanke der Gleichheit der Person in ihrer Unterschiedlichkeit. Ein jeder Mensch hat die gleichen Rechte, wiewohl er sich als Person von allen anderen Personen unterscheidet. Dasselbe gilt natürlich für grössere Einheiten, für Regionen, für Völker, für Nationen ebenso: Das aufgeklärte Europa, das ist nach Ben Vautier die «Gleichheit der Völker in ihrem Recht auf Verschiedenartigkeit». Als nichts anderes als ein «hohes Menschheitsideal» beschreibt es Felix Ludwig Calonder. Mag es in der Bundesratsrede vor 100 Jahren auch etwas pathetisch klingen, am Grundsatz lässt sich nicht rütteln. Als klare Befürworter der europäischen Aufklärung ragen die Persönlichkeiten aus der an sich schon kleinen Masse Schweizer Intellektueller heraus: Sie versuchen Verantwortung zu übernehmen in einer Schweiz, die sich auffallend häufig schwertut, für die europäische Aufklärung das Wort zu ergreifen.
Europa und die versammelten Autoren erlebten in verschiedenen Kriegen immer wieder, was geschieht, wenn das Trennende stärker wird als das Verbindende. Wenn die «Krankheit des Nationalismus», so Hans Bauer, überhandnimmt, dann ist auch die kleine, neutrale Schweiz betroffen und bedroht. Das ist die dritte Thematik dieses Buches: das Gefühl der Verwundbarkeit in der Schweiz, das Wissen um die Abhängigkeit vom Goodwill unserer grossen Nachbarnationen. Damit verbunden ist der Reflex der Ablehnung, der Wille zur Isolation, der Gedanke, dass man von den grossen Ereignissen in der Welt am liebsten in Ruhe gelassen werden möchte. Was die zehn hier vorgestellten Persönlichkeiten in diesem Punkt verbindet, ist ihre konsequente Ablehnung dieser Idee. Sie sehen in der Isolation eine grosse Gefahr, der nur über eine Verbindung mit Europa entgegnet werden kann. Für diese Verbindung muss eingetreten werden, auch wenn die europäischen Nachbarn Fehler machen. Zusammenarbeit ist offensichtlich fruchtbarer – und letztlich sicherer – als Ablehnung und Isolation. Wenn wir also, wie ich das bis vor wenigen Jahren ebenfalls getan habe, Europa verachten für seine Fehler, für sein Demokratiedefizit etwa oder für seine Haltung an der Grenze im Mittelmeer, so ist es durchaus möglich, dass wir das aus einer unbewussten Angst tun, einer Art «Unbehagen im Kleinstaat», wie Karl Schmid es nennt. Die Angst also der verwundbaren, aber bislang verschont gebliebenen Schweiz in Europa: die Angst vor übergreifendem Zentralismus und Rationalismus, die Angst vor dem Befehl, die Angst vor dem Recht des Stärkeren, die Angst davor, dass der Vielfalt und damit der europäischen Aufklärung enge Grenzen gesetzt werden. Alle zehn Autorinnen und Autoren begegnen dieser Angst mit der Aufforderung nach mehr Zusammenarbeit, nicht nach mehr Abgrenzung.
Es heisst manchmal, es mangle der Schweiz an starken Persönlichkeiten. Diese Schelte widerlegen die zehn Denkerinnen und Denker. Über einen Zeitraum von 100 Jahren setzten sie sich vor dem jeweiligen zeithistorischen Hintergrund intensiv mit dem Verhältnis der Schweiz zu Europa auseinander. In einem Essay werden jeweils die Person und ihr biografischer Hintergrund beleuchtet. Es findet eine Einordnung statt, wann, weshalb und wo die nachfolgende Quelle publiziert oder die Rede gehalten wurde, allenfalls auch, welche Resonanz das Gesagte hatte. Die zehn Personen zeichnet Folgendes aus: Sie blicken kritisch auf Europa, sie suchen nach neuen Lösungen, sie stellen sich Fragen, sie sprechen über die Schweiz und Europa, sie befassen sich aktiv mit dieser Beziehung und widerstehen einer passiven Ablehnung. Die Reihenfolge der Texte ist chronologisch. Begonnen wird in der Gegenwart mit einem Text von Gret Haller aus dem Jahr 2018, den Schluss bildet eine Rede von Bundespräsident Felix Ludwig Calonder von 1918 zur Frage des Völkerbunds. Diese Reihung, dieser Blick zurück von den heutigen Debatten und Herausforderungen auf die damaligen Auseinandersetzungen, zeigt die verblüffende Aktualität der Reden. Damit erschliesst sich die zeithistorische Dimension über den weiten Bogen, der über «100 Jahre Nachdenken über die Schweiz und Europa» geschlagen wird.
Diese Arbeit hat mir klar vor Augen geführt, dass die Schweiz in der heutigen, globalisierten Welt im Alleingang nur verlieren, in der Zusammenarbeit mit Europa aber gewinnen kann. Dieser Gewinn sollte gegenseitig sein, so selbstbewusst darf die Schweiz durchaus sein. Und so selbstbewusst haben es auch viele Rednerinnen und Redner in diesem Buch formuliert. Sprechen wir über Europa und beziehen dabei ein, was dazu in den vergangenen 100 Jahren gedacht und gesagt wurde, so eröffnen sich neue Perspektiven, und die Zukunft gewinnt an Schärfe.