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Auszug aus:
Europa als Ort der Freiheit, 2018 Die politische Dimension der Union

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«In der weltweiten Rechtsentwicklung stellt die Europäische Union etwas Neues dar, das es zuvor nicht gegeben hat.1 Dies kann ein kurzer Rückblick auf die Rechtsentwicklung seit der Erfindung des Völkerrechts im Westfälischen Frieden von 1648 deutlich machen. Zuvor waren Staaten absolut souverän gewesen, oder vielmehr waren es die Monarchen, die diese Staaten beherrschten. Danach galten die Staaten grundsätzlich als gleichgestellt und konnten völkerrechtliche Verträge miteinander abschliessen. Die Veränderungen, die sich Ende des 18. Jahrhunderts aus der Geburt des Staatsbürgers ergaben, sind bereits beschrieben worden. Nun ging man in demokratischen Staaten davon aus, dass der Staat dem Einzelnen die Freiheit und demokratische Mitwirkungsrechte garantierte sowie einen richterlichen Schutz dieser Rechte. Nach der beispiellosen Verletzung der Rechte seiner eigenen Bürger durch den Nationalsozialismus wurden die Menschenrechte international in völkerrechtlichen Verträgen festgeschrieben. Es wurde ein staatenübergreifender Rechtsschutz eingerichtet, zunächst in Europa vor dem Gerichtshof für Menschenrechte, später weltweit vor Gremien der Vereinten Nationen. Damit wurde der Einzelne neu zu einem Subjekt des Völkerrechtes, das bis anhin nur die Staaten als Akteure gekannt hatte. Dieselbe Entwicklung, die Ende des 18. Jahrhunderts im Rahmen des Nationalstaates zur Anerkennung der individuellen Bürger- und Menschenrechte geführt hatte, übertrug sich damit auf die internationale Ebene des Völkerrechtes.

Ein viel weiter gehendes Fundament wurde durch die Gründung der Vorgängerorganisationen der Europäischen Union gelegt. Diese war von Anfang an als politisches Projekt gedacht.2 Aber anfänglich erschien sie in der eher technischen Funktion der Integration von Märkten. In der Folge legte der Europäische Gerichtshof in Luxemburg die Kompetenzen der Gemeinschaft immer expansiver aus, insbesondere durch den Entscheid, dem Unionsrecht den Vorrang vor nationalem Recht einzuräumen.3 Ab 1986 nahmen die Mehrheitsentscheidungen im Rat der Minister zu, und über verschiedene Stufen entwickelte sich die Europäische Union zu ihrer heutigen Form.4 Sie verfügt heute über politische Willensbildungsmechanismen und kann ihre Entscheide gegenüber den Mitgliedstaaten und gegenüber deren einzelnen Bürgern durchsetzen: Die Union kann dem Bürger gegenüber ‹hoheitlich› handeln, genauso wie der Staat dem Bürger gegenüber Hoheitsbefugnisse ausübt. In Demokratien bedarf hoheitliches Handeln immer der demokratischen Legitimation. Deshalb ist in der Union eine normative Tendenz zur Demokratisierung angelegt.5 Dieser Unterschied zum Völkerrecht macht die politische Dimension der Union aus. Obschon in den völkerrechtlichen Verträgen zu den Menschenrechten auch von politischen Mitwirkungsrechten die Rede ist, verstehen sich völkerrechtlich definierte Freiheitsrechte grundsätzlich negativ, sie beruhen also auf der ‹Freiheit vom Staat›. Die so verstandenen Menschenrechte haben eine staatsbegrenzende und damit eine die Politik begrenzende Funktion, sie schützen das Individuum vor dem Staat. Diese Funktion haben die Grundrechte und Freiheitsgarantien der Europäischen Union ebenfalls, aber sie werden um eine politische Komponente erweitert. Sie enthalten zusätzlich das Element positiver Freiheit im Sinne der demokratischen Teilhabe an der Setzung des Rechtes.6 Hier zeigt sich in Ansätzen wieder eine Analogie der europäischen Integrationsbestrebungen zu den Vorgängen im ausgehenden 18. Jahrhundert.

Seit der Geburt des Staatsbürgers geht dessen Akzeptanz jeder staatlichen Rechtsordnung Hand in Hand mit den staatlichen Freiheitsgarantien einerseits und mit den Mitwirkungsrechten des Bürgers andererseits. Genauso ist die Akzeptanz der europäischen öffentlichen Ordnung durch die Europabürger nicht denkbar ohne zwei Dinge: zum einen die individuellen Grundrechte- und Freiheitsgarantien der Union und zum anderen den politischen Anspruch der Unionsbürger auf demokratische Mitwirkung bei der Entstehung des Rechtes dieser Union. Die erste Bedingung kann als erfüllt betrachtet werden, die ‹Freiheit von der Europäischen Union› ist durch ausformulierte Freiheitsrechte gewährleistet, die gegen Hoheitsakte der Union auch gerichtlich geltend gemacht werden können.7 Die zweite Bedingung befindet sich immer noch auf dem Weg ihrer Realisierung, mit anderen Worten ist die ‹Freiheit zur Europäischen Union› nach wie vor entwicklungsbedürftig, auch wenn ein Teil des Weges schon zurückgelegt worden ist, zum Beispiel durch zunehmende Kompetenzen des Europäischen Parlamentes sowie einen vermehrten Einbezug der nationalen Parlamente. Jedoch steht ausser Zweifel, dass die Union als politisches Projekt Form und Reichweite der politischen Mitwirkung der Unionsbürger weiterentwickeln muss und auch weiterentwickeln wird. Sonst wird sie ihrem politischen Anspruch nicht gerecht.

Der politische Anspruch der Union und ihre normative Tendenz zur Demokratisierung machen auch deutlich, dass sie mit anderen internationalen Organisationen in Europa nicht verglichen werden kann. Neben dem Europarat sind dies vor allem die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Ihre spezifischen Tätigkeitsgebiete ergeben sich aus ihrer historischen Entwicklung, so auch die geografische Reichweite ihrer Mitglied- und Kooperationsstaaten, die alle weit über die Grenzen der Union hinausgehen. Als Kooperationspartner für die Union besonders wichtig ist der Europarat, vor allem aufgrund seiner herausragenden Funktion im Bereich der Menschenrechte. Er ist Träger des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes, der in Europa auf der Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention weiter ausgebaut worden ist als alle anderen Schutzmechanismen weltweit. Die staatenübergreifende öffentliche Ordnung des Kontinents in einer neuen Form von Staatlichkeit weist zwar völkerrechtliche Elemente auf, geht aber weit über diese hinaus.8 Sie kann nur im Rahmen der Europäischen Union entstehen, weshalb es wenig Sinn ergibt, die Bedeutung der verschiedenen Organisationen gegeneinander in Stellung bringen zu wollen.

Schliesslich ist es der politische Anspruch der Union, der den europäischen Freihandel von den weltweiten Freihandelsbemühungen unterscheidet. Weil sich der europäische Freihandel in ein politisches Projekt einordnet, dessen Zielsetzung anspruchsvoller ist als der Freihandel auf der globalen Ebene, gehorcht er nicht denselben Gesetzmässigkeiten. Anschaulich zeigte sich dies am Beispiel verschiedener Freihandelsabkommen der Union mit Drittstaaten, deutlich am Abkommen über eine Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft mit den USA (TTIP) und am Umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommen mit Kanada (CETA). Widerstand gegen diese Abkommen ergab sich vor allem daraus, dass die Entwürfe Einschränkungen der demokratischen Abläufe in Mitgliedstaaten und in der Union selber vorsahen. Privaten Investoren sollte die Möglichkeit von Schadenersatzklagen vor Schiedsgerichten eingeräumt werden […].

Solche Regelungen tangieren den demokratischen Anspruch der Union und betreffen direkt ihre normative Tendenz zur Demokratisierung. Die Kommission musste diesen Widerstand berücksichtigen und war bereit, anstelle von Schiedsgerichten spezielle Investitionsgerichte der öffentlichen Hand vorzusehen. Indessen besteht die Problematik der Einschränkung demokratischer Gesetzgebungshoheit auch bei dieser Lösung. In einem Grundsatzurteil hat der Europäische Gerichtshof denn auch festgehalten, dass die Einsetzung ausserordentlicher Schiedsgerichte durch Freihandelsabkommen den nationalen Parlamenten aller Mitgliedstaaten unterbreitet werden muss.9 Damit hat er den demokratischen Anspruch der Union noch weitgehender zum Ausdruck gebracht als die Kommission. Das Grundsatzurteil markiert eine Etappe auf einem Weg, für den noch ungewiss ist, wohin er schliesslich führen wird. Es ist dies ein typischer Ablauf und Beispiel dafür, wie sich die neue Form von Staatlichkeit auf der europäischen Ebene langsam herausbildet, gleichsam mit offenem Ende.

Die Widerstände aus den Mitgliedstaaten betreffen nicht nur deren Verhältnis zur Union und die entsprechende Kompetenzaufteilung. Sie betreffen auch die Rolle des Europäischen Parlamentes, seine Legitimation und seine Kontrollkompetenzen gegenüber der Kommission. Die Kommission hat aufgrund der Verträge den Auftrag, den freien Handel mit Drittstaaten voranzubringen, dies aber im Zusammenwirken mit dem Europäischen Parlament. In letzter Konsequenz macht sich in diesem Konflikt auch die heute noch nicht umfassende Gesetzgebungskompetenz des Parlamentes bemerkbar, und dies in jenen Bereichen, die ihm aufgrund des Subsidiaritätsprinzips zustehen sollten. Die Förderung des Freihandels mit Drittstaaten gehört offensichtlich zu diesen Bereichen, denn die Mitgliedstaaten wären einzeln dazu nicht in der Lage. Aber die Randbedingungen dieser Förderung sind noch nicht genügend klar, insbesondere was die Gefahr einer Einschränkung der Gesetzgebungshoheit anbelangt, übrigens nicht nur der Mitgliedstaaten, sondern auch der Union selber. Der Gerichtshof hat nun diesbezüglich klärend eingegriffen und den Markstein einer neuen Etappe zugunsten der nationalen Parlamente gesetzt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass in einer späteren Etappe auch das Europäische Parlament mit vermehrten Befugnissen ausgestattet wird, was die Gewichte wieder verschieben kann.

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