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Ein Land unter Druck

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Hoffnung für die Wirtschaft kommt nur aus deutschen Exklaven und den grenznahen Gebieten jenseits des Rheins. Dort hat man sich auf die Verhältnisse eingestellt und neue, innovative Geschäftsmodelle entwickelt. Weil die Schweizer Konsumenten schneller als die Politik begriffen haben, dass man den starken Franken in diesen Zeiten besser hortet als ausgibt, kaufen sie ihre Ware gerne bei ausländischen Lieferanten im Internet. Die fakturieren glücklicherweise in Euro, also viel billiger. Und um gleich noch die Mehrwertsteuer zu sparen, lässt sich der helvetische Shopper das Paket an eine deutsche Adresse schicken. Und so erblüht das deutsche Jestetten, fast ganz von schweizerischem Territorium umgeben, im Zug der florierenden Paketdienste. Getränkehändler und Frisörsalons stellen ihre Postadressen preisbewussten Schweizern zur Verfügung, nehmen die Ware in Empfang, lagern sie treu, bis der Eigentümer sie auslöst. Die Autokolonnen am Wochenende und nach Feierabend nimmt man in Kauf. Schliesslich verdient man ordentlich. In Jestetten. Für die schweizerische Volkswirtschaft bedeutet der Einkaufstourismus im laufenden Jahr einen Schaden von elf Milliarden Franken.

Ganz zu schweigen vom Geld, das der öffentlichen Hand durch die Schlaumerei entzogen wird. Die demographische Entwicklung wird die Altersvorsorge zusätzlich demontieren, aber darüber hört der Schweizer selten Verlässliches. Sicher ist nur: Die Kantone stöhnen unisono unter Haushaltsdefiziten. Und auch diese Jeremiaden werden so wenig Anlass zum Handeln wie der von der Regierung längst versprochene Energiewandel. Der älteste Atommeiler der Welt steht bekanntlich auf schweizerischem Boden. Das Kernkraftwerk Beznau produziert ebenso zuverlässig Strom wie Störfälle. Internationale Experten schütteln über die Fahrlässigkeit den Kopf. Die Aktien der Trägergesellschaft liegen vollständig in den Händen der Kantone, und die verspüren wenig Lust, für sicheren Strom mehr Geld zu bezahlen. Und so lässt man den Lotter-Reaktor weiter brennen. Und hofft, der Herrgott im Himmel möge der Eidgenossenschaft weiter so gnädig sein wie bisher und das Schlimmste verhindern.

Niemand sollte glauben, dass sich das Land nicht verändert. Im Gegenteil. Es transformiert sich so schnell wie Ektoplasma aus Hollywood. Die Form, die es sich anzunehmen schickt, ist nicht dem himmlischen Schicksal überantwortet, sondern reagiert, wie jedes Plasma, auf Druck. Und Druck ist reichlich da. Dass sich die Schweiz seit zwanzig Jahren in einem Kulturkampf befindet, bezweifelt niemand mehr. Obwohl es einige Pessimisten gibt, die behaupten, dieser Kampf sei bereits entschieden und seit kurzem vorbei.

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