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Zwei Wochen waren seit dem Streit zwischen Esme und ihrer Mutter vergangen. Als sie sich am Abend danach zum ersten Mal sahen, wurde Esme von einem perfekt aufgeräumten Zimmer begrüßt. Es war von Lira in einer dreistündigen Aufräumaktion wieder so hergerichtet worden, dass nichts mehr von ihrem emotionalen Ausbruch zu erkennen war. Da aber die Poster zerknüllt im Papierkorb lagen, war sie kurzerhand zum nächsten Fotogeschäft gelaufen und hatte neue, ihrer Auffassung nach angemessene Bilder gekauft. Ihre Tochter sollte, wenn sie sich schon derart erwachsen fühlte, ihr Zimmer entsprechend eingerichtet haben. Von ihrem Ausbruch hatte Lira nichts erzählt.

Als Esme die Wohnung betrat, fühlte sie bereits einen Wandel im Handeln ihrer Mutter. Immer wieder betonte diese, sie sollten sich jetzt lieber wieder vertragen, um für die Familie da zu sein. Es sei wichtig zusammenzurücken und sich zu verzeihen. Als Esme dann ihr Zimmer betrat, erkannte sie Scham, die hinter den Aussagen ihrer Mutter steckte. Sie wusste nicht, weshalb Lira ihr das angetan hatte. Die Prominenten an der Wand waren ihre absoluten Lieblinge. Niemand durfte sie anfassen. Voller Wut lief sie zu Lira und redete auf sie ein. So wurde selbst dieser Abend ein unversöhnlicher.

Die Tage danach wurde wenig gesprochen. Fabio suchte wie immer Halt in seinem Bett und wirkte völlig abwesend; die Frauen gingen sich meist aus dem Weg.

Das eigentliche Problem im Haus wurde völlig übergangen.

Wenn Lira abends nach der Arbeit an der Kasse im Supermarkt nach Hause kam, bereitete sie das Essen vor und ging danach ins Bett. Über Fabios Schulpflicht wurde kein Wort verloren. Die Kräfte für ein solches Gespräch mussten sich erst einmal ansammeln.

Doch dann kam der Tag des Besuches.

Der schlanke Mann stand an der Eingangstür der Wohnung. Er kannte die Situation nur zu gut. Ein Mädchen war voller Aufregung zu einem Kollegen gekommen und hatte ihm die schwierige Lage des Mädchens erklärt.

Türkischer Vater verstorben, deutsche Mutter, zwei Kinder, eine Tochter, jung und auf bestem Weg, die deutsche Sprache zu lernen, und ein Sohn, vermutlich mit einer schweren psychischen Erkrankung.

Natürlich war dies kein Fall wie jeder andere, zumal sich die junge Frau redlich Mühe gegeben hatte zu betonen, dass ihre Mutter eine sorgsame Mutter sei, die lediglich Hilfe brauche.

Jetzt also lernte er seine neue Familie kennen. Er war seit langen dreißig Jahren in seinem Beruf tätig und hatte schon vielen Familien helfen können, und so freute er sich immer auf ein neues "Projekt", wie er es nannte.

Als eine Frau die Tür öffnete und sie ihm sofort wieder vor der Nase zuschlug, als er sich vorstellte, musste er trotz all seiner Routine stutzen. Wusste niemand in der Familie von seinem Besuch?

Wollten sie wirklich Hilfe?

Als sich die Eingangstür wieder öffnete, schaute ihn ein junges Mädchen durch einen kleinen Spalt in der Tür an. Sie sah überdurchschnittlich gut aus und würde mit Sicherheit aufgrund ihres leicht exotischen Aussehens einigen Jungen gefallen.

"Sind Sie der Mann vom Jugendamt?"

"Der bin ich."

Langsam wurde der Spalt größer, und bald schon erkannte der Mann die ersten Umrisse der Wohnung.

Sein erster Eindruck: gut gepflegt, vernünftige Umgebung. Erleichtert betrat er nun die Wohnung. Er hatte in seinen letzten vier Projekten erst einmal die Wohnungen aufräumen müssen, um vernünftig arbeiten zu können. Welche Aufgaben ihn hier erwarteten, war ihm noch nicht klar. Gewappnet war er aber für alles.

"Wer hat Sie gerufen?" Lira funkelte den Mann, der sich als Roman Meyer vorstellte, an. Natürlich waren auch ihr Geschichten vom Jugendamt zu Ohren gekommen. Deshalb machte sie sich augenblicklich große Sorgen, alles zu verlieren, was ihr geblieben war.

"Eine Person, die nicht erkannt werden möchte, Frau Selcan. Das tut aber nichts zur Sache. Wir wurden gerufen und möchten einfach nachsehen, ob bei Ihnen alles in Ordnung ist."

"Ja, das ist es. Wir kommen bestens klar. Und jetzt dürfen Sie auch wieder gehen." Lira stand auf und wollte den Weg zur Tür einschlagen, fest entschlossen, den Mann schnellstmöglich loszuwerden.

"Wissen sie Frau Selcan: Ich möchte ihnen wirklich nichts Böses. Es nur so, dass ich mich gern mit ihren beiden Kindern einmal unterhalten möchte. Wie ich sehe, ist Ihre Wohnung ja in einem perfektem Zustand."

Für Meyers Arbeit war seine beruhigende Art absolut unerlässlich. Niemand wollte wirklich mit ihm zusammenarbeiten,und so verhielt sich, wie er erfahren musste, auch die Frau ihm gegenüber abweisend.

"Wo ist denn Ihr Sohn? Ich hörte, Sie hätten einen."

"Woher wissen Sie das? Ich will wissen, wer Ihnen von Fabio erzählt hat. Er geht nie raus, und meine Tochter und ich erzählen beide nicht viel von ihm in der Öffentlichkeit."

"Geht er denn nicht zur Schule?"

"Nein, es ist schon besser so." Als ihre Mutter das sagte, wurde Esme bewusst, was sie eigentlich mit ihrem Besuch beim Jugendamt bewirkt hatte. Natürlich würden sie ihren Bruder zwingen, die Schule zu besuchen. Esme ärgerte sich innerlich über ihre Kurzsichtigkeit, vor allem, da sie ihre Mutter ja bereits fast hatte überzeugen können.

"Das stimmt. Fabio ist nicht besonders ...", Esme überlegte genau, wie sie sich nun ausdrücken sollte, "... umgänglich."

Lira schaute ihre Tochter an. Ihr Plan, dem Fremden möglichst wenig von Fabio zu erzählen, damit er endlich ginge, wurde immer undurchführbarer.

"Naja, ich denke, es ist besser, wenn wir einfach mal mit ihm reden. Wo ist denn sein Zimmer?"

Lira sprang auf. "Wollen Sie nicht zuvor einmal in Esmes Zimmer sehen? Sie hat es neulich erst neu dekoriert." Schweiß rann ihr dabei über die Schultern. Es war eine der unangenehmsten Situationen ihres Lebens. Sie hatte Angst. Angst vor dem Mann. Angst, ihre Familie zu verlieren. Angst, dass es Fabio schlecht gehen würde.

Für sie hing viel von der Reaktion des Mannes ab.

"Gut, dann schauen wir uns zuerst Esmes Zimmer an, und dann reden wir mal mit Fabio." Bestimmt lief Meyer los. Während er der Tochter in deren Zimmer folgte, freute er sich bereits auf das Gespräch mit dem Jungen. Er wollte der Mutter nicht von den ihm ohnehin schon bekannten Informationen über den Jungen erzählen. Sie hätte nur weiter nach dem Informanten gefragt, und der wäre tatsächlich über seine Enttarnung nicht glücklich gewesen.

"So, hier ist es. Ich mag lieber richtige Poster von Sängern und Schauspielern, aber ich durfte kaum mitentscheiden. Meine Mutter hat das Zimmer eingerichtet." Diese Spitze konnte sich Esme nicht verkneifen. Der Mann sollte sehen, dass ihre Mutter nicht nur bemüht war, ihren Kindern ein normales Aufwachsen in Deutschland zu ermöglichen, sondern auch verzweifelt.

Als Meyer unter dem Eindruck dieser Worte der sichtlich unzufriedenen Esme das Zimmer betrat, musste er sich vor Erstaunen schütteln. Das Zimmer war natürlich klein, aber man hätte es mit Spiegeln vergrößern und jugendgerecht gestalten können. Stattdessen bot sich ihm ein Anblick von dominanter Kahlheit.

Ein Bett, ein Schreibtisch, ein Kleiderschrank. Das Nötigste. Zunächst war das nicht schlimm, jedoch hing an den Wänden statt Bildern oder Poster ein einziger Spruch. Dieser Spruch brachte die Situation der Familie derart auf den Punkt, dass sich Meyer überhaupt nicht mehr mit dem Jungen würde unterhalten müssen. Für ihn war klar, wo er ansetzten musste. Bei der völlig verzweifelten Mutter. Die gesamte Wand war durchzogen von einer roten, verschnörkelten Schrift, die keinen Platz für mehr ließ.

F ü r einen Vater, dessen Kind stirbt, stirbt die Zukunft. F ü r ein Kind, dessen Eltern sterben, stirbt die Vergangenheit.

-Berthold Auerbach-

In diesem Fall ging es der Familie offenbar so, dass nicht nur die Vergangenheit für sie gestorben war, sondern schien sie auch wegen Fabios Schwäche keine Zukunft zu haben.Nach Meyers erstem Schock drehte er sich zu Esme um und fragte sie, ob sie eine Ahnung habe, wer diesen Spruch geprägt habe.

"Steht da doch. Berthold Auerbach. Was mir Mama damit ins Gedächtnis rufen möchte, ist, dass ich jetzt nach vorn denken soll. Da ist es doch egal, wer das gesagt hat."

"Naja, da hast du wohl recht. Aber ich hätte dich als neugieriger eingeschätzt. Hast du dich nie über Auerbach informiert?"

"Nein. War mir egal, von wem das Zitat kommt. Mir war aber klar, dass Mama mich wieder auf Papas Tod hinweisen musste."

Es war genau so, wie der Sozialarbeiter gedacht hatte. Vor ihm stand ein Mädchen, dass für sein Alter aufgrund der Vergangenheit eine unglaubliche Reife aufwies, innerlich jedoch einfach für seine prominenten Idole schwärmen wollte. Doch es durfte nicht. Für Meyer war klar, dass dieser Fall ein in seinem Lebenslauf neuartig sein würde.

Ein letzter Blick suchte noch das Arbeitsumfeld des Mädchens ab und führte zufrieden zu der Erkenntnis, dass sich Esme ihr Leben tatsächlich gut strukturierte. Hier war keine direkte Hilfe nötig. Und dennoch: Meyer war begeistert. Von der Stärke, die das Mädchen aufbrachte. Von ihrer Entschlossenheit, ohne Wissen der Mutter die Lage verbessern zu wollen. Von der Struktur, die sie sich eigenständig aufgebaut hatte. Der Pädagoge war hingerissen von Esme.

Als er sich umdrehte, stand im Flur die Mutter.

Sie musste sich in den letzten Minuten unglaublich geschämt haben. Es folgten Erklärungsversuche, weshalb sie die Wand ihrer Tochter gestaltet hatte und dass sie es doch nur gut meinte. Das Interessante aber war die Sicherheit in ihrer Stimme. Meyer erkannte problemlos, wie sehr sich die Frau bemühte, entschlossen aufzutreten. Dabei wirkte sie noch angreifbarer, als ihr lieb war.

"Ich glaube Ihnen das. Aber wissen Sie: Im Moment beobachte ich nur. Ich bin auch gleich wieder weg. Aber dürfte ich noch einmal mit Fabio sprechen. Er scheint ja ein ganz ruhiger Kerl zu sein."

In dem Moment konnte der Sozialarbeiter durch die andere Tür in das verdunkelte Zimmer des Jungen blicken. Warum es Fabio dunkel mochte, würde er gleich wahrscheinlich herausfinden.

Langsam näherte er sich dem Zimmer. Bei psychisch Erkrankten war eine gewisse Aggressivität gegenüber Unbekannten keine Seltenheit. Der Junge lag im Bett. Reglos. Hätte Esme nicht bei dem Treffen im Jugendamt derart detailliert über die typischen Verhaltensmuster ihres Bruders gesprochen, wäre Meyer womöglich zu dem Bett geeilt, um zu überprüfen, ob der Junge noch lebte. Doch war ein leises Atmen deutlich zu erkennen. Sechzehn Jahre und keiner wusste, was ihm fehlte. Meyer fand es immer reizvoller, mit dem Jungen zu sprechen.

Plötzlich stürzte Lira an ihm vorbei, streichelte den Jungen gefühlvoll und murmelte ihm ins Ohr:

"Schau Fabio, wir haben Besuch. Willst du den Mann begrüßen?"

Das Kind in ihren Armen bewegte sich nur minimal, neigte dann sein Kopf zur Seite, um dann wieder leer in die Umgebung zu blicken.

Während dieser Szene behielt Meyer nicht nur den Jugen im Auge, sondern schweifte zugleich mit seinem Blick durch das Zimmer. Prinzipiell blieb auch hier genug Platz zum Arbeiten. Nur daran war bei Fabio im Moment nicht zu denken. Das Malbuch neben dem Bett war aufgeschlagen. Meyer nahm es in die Hand und blätterte. "Fantasie hat der Bursche", schoß es ihm durch den Kopf. Diverse Farben schlängelten sich schwungvoll über das Weiß. Menschen und Häuser waren zu sehen, die in der Mitte des Bildes zusammentrafen und einen dunklen Punkt ergaben. Offensichtlich gefiel dem Jungen die Enge der Stadt nicht. Die meisten anderen Bilder waren jedoch in warmen Tönen geschmückt und spiegelten den positiven Geist Fabios wider, den auch seine Schwester zu haben schien.

Der Pädagoge hatte genug gesehen. Er würde heute definitiv keine Unterhaltung mit Fabio führen und bezweifelte sogar, ob er es jemals tun würde.

Es hatte keinen Zweck, die Mutter weiter mit prüfenden Augen zu peinigen. Der erste Eindruck war gewonnen. Jedoch auch die erste Maßnahme ging durch seinen Kopf, und die wollte er auf jeden Fall heute noch mit der Familie besprechen.

"Kommen Sie doch mal mit, Frau Selcan. Auch du, Esme. Lasst uns mal gemeinsam an den Küchentisch setzen und ein wenig reden." Er kehrte um mit der Sicherheit, eine völlig angespannte Frau hinter sich zu haben, die unter der Angst litt, ihre Familie zu verlieren.

Gehorsam folgten die beiden Frauen dem Pädagogen. Besonders Lira fügte sich inzwischen ihrem Schicksal. Es war nicht mehr abzuwenden, dass der Mann eine gefärbte Sicht der Dinge erhalten könnte. Auch der Versuch, Fabio zu einer kleinen Begrüßung zu bewegen, war gescheitert.

Die Situation war für sie jetzt nicht mehr unangenehm, sondern peinlich. Sie fühlte Scham, und langsam stieg in ihr das Bewusstsein auf, dass in ihrem Leben einiges neben den Gleisen verlief. Zum ersten Mal.

Aufgetau(ch)t

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