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Nein, ein langes Gespräch war es nicht. Lira saß auf dem Hocker und blickte im Zimmer ihrer Tochter umher. Vor ihr lag der Brief vom Jugendamt, übersäht mit Tränen, die nur langsam zu trocknen begannen. Obwohl das Zimmer klein war, verloren sich ihre Augen immer wieder in der Oberfläche der Holzwand. Das Bett stand an der einen, der Schreibtisch und ein kleiner Kleiderschrank an der anderen Seite. An den Wänden hingen Poster von typischen Teenageridolen. Als Lira dem fröhlich lächelnden Justin Bieber in die Augen sah, der absolut unnatürlich seinen Daumen in Richtung Kamera ausstreckte, erkannte sie erstmals die Lage. Ihre Tochter hatte recht. Fabio konnte noch nicht in die Schule.

Er war zu unreif, hatte Angst vor fremden Menschen und erfasste Situationen nicht so rasch wie andere in seinem Alter. Wie Esme. Den Tod seines Vaters hatte Fabio noch nicht richtig begriffen, geschweige denn verarbeitet. Die Zeiten, in denen er wirklich aufmerksam wirkte, wurden stetig kürzer und seltener. Fast nie erreichte sie Fabio. Wenn er mitaß, saß er am Tisch und starrte ins Leere. Manchmal zuckte er kurz auf und zappelte, bevor seine Augen einen Punkt fixierten und dann nicht mehr losließen. Dieser Zustand endete erst nach zwei, drei Minuten, in denen ihn niemand erreichen konnte. Aber ist das nicht normal? Kann das nach einem solchen Verlust nicht passieren? Sollte sie Fabio nicht mehr Zeit geben? War ihr Therapeut nicht auch für so einen Patienten da?

Aber verrückt? "Nein! Nicht mein Sohn! Das kann nicht sein!"

Als Lira sich vor Schreck den Mund zuhielt, weil sie bemerkt hatte, dass sie gerade aus der Gedankenwelt ins gesprochene Wort gewechselt hatte, wusste sie um ihre eigene Lüge. Innerlich drängte sich statt des Ausrufs "Das kann nicht sein!" eher ein "Das darf nicht sein!" auf. Doch noch hielt die selbsterbaute Mauer in ihr und beschützte sie davor, das anzusehen, wovon sie sich abwendete.

Da verspürte Lira den Drang, Fabio zu sehen und in den Arm zu nehmen.

Sie stand auf, um die Taschentücher in der Küche in den Müll zu werfen, und ließ ihren Blick von dem Justin-Bieber-Poster an der Wand kurz über die anderen Prominenten schweifen. Sie sah, dass jeder den gleichen strahlenden Blick in die Kamera warf, und fühlte sich auf eine merkwürdige Art verhöhnt. Sie blieb stehen. Plötzlich durchbrach ihre innere Verzweiflung den Drang der Zurückhaltung und entlud sich in purer Aggression. Sie hasste diese Prominenten und deren Leben. Sie hasste es, ihren Kindern nicht mehr als solch ein kleines Zimmer bieten zu können. Sie hasste die ewigen Therapiestunden, die jedes Mal wieder nur ein wenig von dem Lebensgefühl wiederbrachten, das sie verloren hatte. Sie hasste Esmes Lüge, Fabio sei immer in der Schule gewesen. Sie hasste das Gefühl, zum ersten Mal seit Langem mit ihrer Tochter gesprochen und sofort gestritten zu haben.

Und vor allem hasste sie ihren Selbstbetrug.

Als sie damit fertig war, jedes Poster von Esmes Zimmerwand zu reißen, knüllte sie das Papier zusammen und ertränkte es mit den triefenden Taschentüchern in den Tiefen des Müllsacks. Dort sollten sie bleiben. Erschöpft drehte Lira sich um, wankte in den Flur, wandelte zu Fabios Zimmer, wo sie ihren Sohn wortlos in den Arm nahm und fest drückte.

"Ich liebe dich. Ich werde dich begleiten. Ich bin bei dir. Wir schaffen das."

Aufgetau(ch)t

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