Читать книгу Aufgetau(ch)t - Florian Lange - Страница 15

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"Kommen Sie herein. Ich freue mich, Sie in meinem Heim begrüßen zu dürfen." Professor Kienast nahm dem Fremden die durchnässte Jacke ab und hing sie über den hölzernen Ständer. Obwohl der Besucher einen Schirm bei sich trug, hatte der Regen ihn mit zahlreichen Pfützen und Schlaglöchern anderweitig erwischen können. Es war eines dieser Unwetter, die man in dieser entlegenden Region ungern hinnahm. Zu viele und teure Schäden hatten bereits einige der bäuerlichen Höfe in finanzielle Engpässe gebracht.

Die Männer gaben sich die Hand und der junge folgte dem alten in eine kleine Küche mit zwei Stühlen und einem winzigen Holztisch. Die gesamte Hütte hatte durchaus Charme, konnte aber in der herrschenden Atmosphäre die seltsame Kälte der Einsamkeit nicht verbergen.

"Setzten Sie sich. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?"

Der junge Mann war dankbar für die Gastfreundschaft des Verlegers. Er entschied sich für einen heißen Schwarztee. Eigentlich war er kein Freund von Tee, doch brauchte er dringend etwas Warmes. Die Hütte durchzog ein stetiger Wind, und selbst sporadisch eingebaute Heizkörper konnten an der Kälte nichts ändern.

"Sie wollen mir etwas vorstellen. Ich habe ja durchaus von Ihnen gehört. Worum geht es denn?"

Der junge Mann schluckte, während er zusah, wie der beschäftigte Professor mit dem Löffel hantierte und sich redlich bemühte, bloß keine Teeblätter zu verschütten.

"Also. Es geht um ..." Sofort unterbrach ihn der Alte. "Nein, nein. So geht das nicht. Nur ein unsicherer Tölpel fängt seine Sätze mit ‘also’ an. Beginnen Sie von vorn."

Der Fremde war ein wenig verdutzt, erkannte jedoch schon jetzt das eigenwillige Wesen des Verlegers.

"Okay, beginnen wir von vorn: Ich bin Künstler. Nein, ich bin Lehrer. Also ich bin beides ... irgendwie."

Er merkte gleich, wie unmöglich es ihm war, in nervöser Stimmung seine Sätze zu formulieren, und befürchtete eine weitere Zurechtweisung.

Die folgte seitens des Alten auch unverzüglich:

"Hören Sie, mein Junge. Sie sind jung. Ich schätze: so um die 30. Sie sind Lehrer, haben also ein Studium abgeschlossen und können denken. Hinzu kommt die unabdingbare Tatsache ihres Schreiber-Daseins. Sie müssten ja wohl absolut selbstsicher sein. Ich wäre es an Ihrer Stelle. Der einzige, der nicht selbstsicher sein darf, bin ich. 68 Jahre bin ich, und ich weiß, dass mich die Leute älter schätzen. Kein Wunder, habe ich mir in den letzten Jahren doch einen ordentlichen Bauch zugelegt. Aber ich schweife ab. Sie sind jung, Sie leben, also sprechen Sie lebendig."

Wütend, wie aufgeregt, setzte sich Kienast wieder auf seinen Stuhl und stellte dem Lehrer seinen schwarzen Tee hin.

Dieser hatte nicht mit einer derartigen Ansprache gerechnet und beschloss, für den Rest seines Aufenthalts hier gar nichts mehr vorhersehen zu wollen. Der Mann ihm gegenüber war sicherlich speziell und würde ihn sofort merken lassen, sollte ihn etwas stören.

Also wagte er sich, halb Künstler, halb Lehrer, an einen dritten Versuch. Von nun an wählte er seine Worte mit mehr Bedacht:

"Ich bin 32 Jahre alt und seit zwei Wochen Lehrer an einer Schule für autistische Kinder. Dahin gekommen bin ich, weil ich selbst früher dort hinging. Dort habe ich alles gelernt, was ich heute kann. Vor allem Schreiben. Und daher schreibe ich – vor allem Gedichte und andere Texte. Was ich hier für Sie habe, ist ein Sammelband, der alles enthält, was ich je geschrieben habe. Er dokumentiert meine Entwicklung und Arbeit." Der Mann machte eine Pause, um einen Schluck Tee zu trinken. Der war noch sehr heiß, aber schon trinkbar.

Kienast nutzte die Gelegenheit, um den Lehrer genauer zu mustern.

Es wurde jetzt erst deutlich, warum sein Gegenüber Probleme hatte, seine Gedanken in Worte zu fassen. Trotz tiefgreifenden Trainings war es für Autisten eine Herkulesaufgabe, sich komplett in den Alltag einzugliedern, und dafür brauchte es Jahre. Und selbst nach langen Therapiestunden würden auch Außenstehende die Krankheit noch erkennen. Sie blieb bis zum Lebensende bestehen.

"Was möchten Sie von mir. Soll ich Ihr Buch verlegen?"

"Ja. Das würde mich sehr freuen."

"Nun, es sollte Ihnen bewusst sein, dass ich keine risikoreichen Veröffentlichungen mehr tätige. Das ist nicht mein Gebiet. Und sähe ich diesen Band hier im Geschäft, würde ich ihn nicht kaufen. Den Gedichtband eines völlig unbekannten Künstlers. Sagen Sie mir, wieso ich ihn kaufen sollte?" Obgleich Kienast schnell merkte, dass es hier wahrscheinlich nicht zum Geschäft kommen würde, war er interessiert, ließ sich dies aber nicht anmerken.

"Also, ich ..."

"Fangen Sie nicht wieder mit ‘also’ an, verdammt!"

"Es ist so, dass ich ein interessantes Leben hatte. Soll ich Ihnen meine Geschichte schildern? Vielleicht verstehen Sie dann mein Anliegen."

"Nein, nein. So wird das hier nie was. Dürfte ich Ihre Situation einmal resümieren?"

"Sicher. Bitte." Der Lehrer sagte das Gegenteil von dem, was er meinte. Er wollte nicht wieder von dem Alten zurechtgestutzt werden. Überhaupt: Er mochte Kienast nicht. So viel war sicher.

"Sie unterliegen folgendem Szenario: Sie kommen zu spät. Sie sind unbekannt. Ich bin zugegebenermaßen sehr bekannt. Sie wollen trotzdem, dass ich Ihnen zuhöre. Dies tue ich wiederum nur, weil Sie mir empfohlen wurden. Und was tun Sie? Sie wollen mir ihre Geschichte erzählen, die für mich in jeder Hinsicht irrelevant ist. Ich möchte Dinge über den Sammelband wissen, den Sie, anstatt ihn mir anzupreisen, mir eher verleiden, indem Sie schon auf rhetorischer Ebene völlig versagen. Was soll ich bitte denken? Warum, bitte, sollte ich Interesse an Ihnen haben?"

Der Lehrer meinte schon jetzt, die Entscheidung des Verlegers zu kennen. Doch er war bereit, für seine Kunst zu kämpfen.

"Wissen Sie, um Texte wirklich zu verstehen, sollte man die Person erst einmal kennenlernen, die sie geschrieben hat. Aber es ist in Ordnung für mich, Ihnen die Texte hier zu lassen. Hoffentlich lesen Sie sie zumindest einmal durch." Der Lehrer schob die Mappe über den Tisch zu Kienast und stand auf, um zu gehen.

"Moment. Es ist spät, und es regnet. Wie lange sind Sie hierher gefahren?" Der Verleger war es nicht gewohnt, dass die Verhandlungen derart schnell eingestellt wurden. Und erst recht nicht vom Autor. Auf eine gewisse Art vermochte der Fremde einen Menschen in seinen Bann zu ziehen.

"Viereinviertel Stunden."

"Dann möchte ich Sie einladen, hier heute zu übernachten. Es wäre bei dem Wetter und dieser späten Stunde unverantwortlich, sich jetzt in ein Auto zu setzen."

Das Angebot Kienasts, so es denn wirklich eines war, klang mehr nach einem Befehl als nach einer Einladung.

Normalerweise hätte der Lehrer diesen Befehl aus Prinzip missachtet und wäre losgefahren. Heute jedoch sah auch er die Gefahr eines Unfalls und nahm das Angebot an. Vielleicht konnte er den alten Mann doch noch überzeugen.

So entschlossen sie sich, ein Bett zu beziehen und zwei Pizzas aufzubacken. Auf den Fremden wirkte der Verleger seltsam unsympatisch. Erst empfing er den Lehrer am Ende eines leblosen Dorfes in einer alten, verranzten Holzhütte und dann düpierte er ihn verbal und wies ihn zurecht, um ihm zum Schluss ein Bett und Essen anzubieten.

Außerdem kreiste ihm seit Beginn seiner Reise eine einzige Frage durch den Kopf, die er stellen musste:

"Bitte erklären Sie, warum sie mich unbedingt persönlich kennenlernen wollten? Ich meine, es gibt doch Internet und Faxgeräte?"

Als der alte Mann dies hörte, stockte er kurz, während er die Bettdecke ausschüttelte. Dann drehte er sich um und erklärte:

"Naja, Sie wurden mir als sehr interessante Person beschrieben, und ich liebe es, solche Menschen kennenzulernen. Aber bisher kann ich, ehrlich gesagt, nichts Außergewöhnliches an Ihnen finden, außer dass Sie manchmal ziemlich desorientiert und abwesend wirken."

Aufgetau(ch)t

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