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Fabio lag nicht mehr. Er stand. Er stand vor seinem Bett und blickte auf die verdunkelten Fenster. Eigentlich mochte er die beruhigende Dunkelheit, aber er befand er sich gerade "an Land" und wollte etwas erleben. Diesen Drang spürte er seit längerer Zeit zum ersten Mal wieder. Eigentlich hatte er ihn überhaupt noch nie verspürt. So ging er zu den Rollläden, zog sie hoch und schlüpfte in seine Socken, um nach draußen zu gehen. Für ihn war die eigene Wohnung bereits draußen. Es gab immerzu neue Dinge zu erkennen. Es war spannend, sich auf eine Entdeckungsreise durch die Wohnung zu begeben. Heute zum Beispiel war die Heizung auf volle Hitze eingestellt, was bedeuten musste, dass es draußen kälter war als gestern. Er mochte nachdenken, forschen und Schlüsse ziehen. Es erfüllte ihn mit lebendiger Freude, die Welt zu verstehen und entgegengesetzt zu seinen Mitmenschen zu denken. Während er überlegte, was sich im Vergleich zum letzten Mal noch alles verändert hatte, wandelte er etwas unsicher durch den Flur. Als er in Esmes Zimmer blickte, fuhr er erschrocken zusammen. Was ist denn hier passiert?, durchschoss es ihn.

Alle Plakate und Poster waren verschwunden. All die netten Leute, die ihm immer so nett zugelächelt hatten, waren weg. All die Freude, die das Zimmer ausgestrahlt hatte, war dahin. Und dann fiel ihm auf, dass allein ein Spruch an der Wand prangte, ein Spruch, den er nicht verstand.

Fabio überlegte, was Esme damit ausdrücken wollte, und ärgerte sich, dass seine Schwester die Freude ausgeschlossen und so etwas an die Wand geschrieben hatte.

Plötzlich tauchte sie hinter ihm auf und schmiegte sich in einer Umarmung an ihn.

"Na, gefällt dir mein Zimmer, Fabio?" Esme erwartete gar keine Reaktion von ihrem Bruder. Doch dann geschah etwas Magisches. Er konnte denken und sprechen und lebte plötzlich in ganzen Sätzen. Zwar sah Fabio weder seine Schwester an, noch blickte er ins Leere, denn er starrte ausschließlich auf die Schrift, aber er war bei vollem Bewusstsein.

Das hatte es noch nie gegeben.

"Naja. Die Plakate waren schön. Ich mochte die Menschen darauf. Was hast du mit ihnen gemacht?" Fabio bedeutete Esme sein Interesse an einem Gespräch, indem er sich mitten im Flur auf den Boden setzte, um zu hören, was seine Schwester zu sagen hatte. Aus irgendeinem Grund war die Schrift an der Wand für ihn interessant und belebte etwas in ihm, was er noch nie zuvor verspürt hatte und was ihn wach und aufmerksam machte.

"Mama hat sie weggeräumt. Alle abgerissen. Ich hab sie im Müll gefunden. Ich war so wütend, verstehst du? Was soll ich mit dem Zimmer? Hier fühle ich mich nicht wohl, und ich werde immer an Papa erinnert."

Fabio horchte auf. Eine Wunde platzte auf, die er bis dahin erfolgreich zu verschließen gehofft hatte.

"Papa ist weg. Papa gibt’s nicht mehr."

"Ja, Fabio. Aber du warst doch dabei. Im Krankenhaus. Du hast ihn doch noch erlebt. Sag nicht, du hast es vergessen."

"Nein. Verdrängt."

Esme seufzte. Die Schutzhülle ihres Bruders hatte vor nichts Halt gemacht und seine Gedanken und Erinnerungen an seinen Vater eines Mähdreschers gleich zerpflügt. Doch sie war weder traurig darüber noch ergriffen. Sie hatte sich damit abgefunden, einen psychisch kranken Bruder zu haben, der anders dachte als alle anderen. Inzwischen war es genau das, was ihr Leben spannender machte, auch wenn sie darüber enttäuscht war, keinen sie schützenden Bruder zu haben, der ihr in schwierigen Situationen half.

Doch das zählte nicht. Manche Situationen sind einfach zu schön, um nur das Schlechte an ihnen zu sehen, dachte sie sich und wollte Fabio endlich kennenlernen.

"Fabio. Willst du ..., willst du nicht vielleicht auch mal etwas anderes erleben als nur dein Zimmer?" Unsicherheit stieg in ihr auf. Sie wollte ihm keineswegs zu nahe treten, wie sie es bei ihrer Mutter regelmäßig tat.

"Aber ich erlebe doch immer etwas anderes. Das kannst du nicht verstehen. Ich weiß das, aber ich will noch so viel erleben."

"Nur, du lebst immer in deinen Träumen. Versuch doch mal, die Welt hier kennenzulernen. Ich bin deine Schwester, und kenne dich gar nicht. Das tut mir weh."

Fabio wendete den Blick nicht ab von der Wand, und Esme erkannte, dass ihn die Schrift nicht losließ und er im Moment über nichts anderes reden wollte als über die Wand.

Schließlich brach es aus ihm heraus.

"Wer hat das gemalt? Das Bild."

In der Angst, Fabio wäre dann beleidigt, mochte Esme ihre Bemerkungen nicht noch einmal wiederholen. Er wollte nicht über sein Verhalten sprechen. Und hätte sie ihn näher gekannt, wüsste sie, dass Fabio nicht einmal selbst wusste, wieso er so dachte, wie er dachte.

"Das ist kein Bild, Fabio." Esme setzte sich ebenfalls hin und umarmte ihren Bruder. Die beiden waren sich zum ersten Mal in ihrem Lebens ganz nah. Und beide fühlten eine ungewohnte Zufriedenheit. Beide waren zusammen in einer einzigen Welt. Beide konnten sich in einer Sprache verständigen. Beide lebten.

"Das ist Sprache. Um genau zu sein: die deutsche Sprache. An der Wand steht ein Spruch von Berthold Auerbach, einem bekannten Wissenschaftler."

"Das sieht schön aus. Wie ein Bild. Was bedeutet das?"

Als Esme den Text ins Türkische übersetzte, erkannte sie mit einem Mal die Kraft des Spruches und dass er weit mehr als nur eine Warnung sein sollte. Und während sie Fabios Begeisterung für das Geschriebene sah, lag es für sie plötzlich auf der Hand, dass ihr Bruder nur glücklich werden würde, wenn er Deutsch lernte. Seine Faszination war in jedem noch so kleinen Fältchen seines Gesichts zu erkennen. Irgendwie wurde Esme das Gefühl nicht los, dass Auerbach ihren Bruder hatte aufwachen lassen. Er musste mit seinen Gedanken vollständig da sein, um die Schönheit der Sprache erleben zu können. Esme wurde euphorisch, sie lachte laut aus, stand auf und zog Fabio mit ihrer Hand nach oben.

"Komm, ich muss dir etwas zeigen. Komm mit. Du wirst staunen."

Sie zog an ihrem Bruder und wollte nach draußen, ihm alle Sprüche und Graffitis zeigen, die an den Fassaden im Viertel standen. Doch Fabio ließ sich nur schwer von ihrer Zimmerwand trennen, und als sie ihn um die Ecke durch die Tür zog, woraufhin er den Blickkontakt verlor, brach er in sich zusammen.

Erschöpft und von Schweißperlen bedeckt lag er halb am Boden, halb in den Armen seiner Schwester und keuchte. Immer wieder schrie er auf und zappelte. Esme konnte seine Gewaltausbrüche nicht bremsen und versuchte panisch, ihn wieder in sein Bett zu bringen. Doch nichts konnte Fabio jetzt beruhigen. Er suchte den Weg zurück ins Meer, fand aber nur seinen Strand, der sich auf das Gebiet seiner Schwester beschränkte.

Auf einmal hielt Fabio inne. So bot er Esme genügend Zeit, ihn ins Bett zu legen, ehe er wieder hätte anfangen können, sich zu schütteln. Doch diesmal blieb er still. Kerzengerade lag er in seinem Bett. Sein Körper pulsierte, während sein Herz in Hochfrequenz Blut durch die Adern schleuste. Der Schweiß hatte inzwischen sein Shirt durchtränkt und verfärbte das Blau in einen dunkleren Ton, der auf Esme wie eine Drohung wirkte. Es war, als wollte Fabios Körper ihr mitteilen, sie sollte seinem Verstand nie wieder Grenzen aufzeigen und ihn mitnehmen in ihre Welt. Mit Tränen in den Augen verfolgte sie, wie es ihrem völlig erschöpftem Bruder erging. Sie machte sich Vorwürfe. Und Sorgen. Und sie weinte. Und zitterte. Unter keinen Umständen würde sie jetzt von Fabio weichen. Dieser lag nun äußerlich ganz ruhig im Bett, jedoch war deutlich, welchen Kampf er in seinem Kopf austrug.

Den Kampf zwischen seiner Krankheit und dem neuen, klaren Verstand, der soeben auferstanden war und einen Platz in Fabios Leben beanspruchte. Auf welcher Seite seiner Persönlichkeit er stand, war in diesem Moment irrelevant. Es zählte nur das Jetzt und wie stark sein verborgener Verstand noch war, nach der jahrelangen Zeit der Pein.

Fabios Herz erhöhte das Pochen noch einmal, woraufhin sein Kopf rot anschwoll und sich Adern an den Schläfen abzeichneten.

Esme war Augenzeugin eines seltsam schaurigen Spektakels, voll der Hoffnung, ihr Bruder würde wieder ganz normal werden. Auch wenn ihr bewusst war, dass ihr Wunsch nach einem psychisch gesunden Fabio nie erfüllt werden konnte, so hatte sie ihn heute immerhin zum ersten Mal richtig kennengelernt. Doch dieses Treffen forderte jetzt seinen Tribut.

Plötzlich schwollen Fabios Adern wieder ab, sein Mund schloss sich, und sein Gesicht wandelte seine Farbe wieder in einen erträglichen Ton. Auch sein Körper bewegte sich wieder. Noch einmal schreckte er auf, starrte an die Wand und fiel dann zurück ins Kopfkissen, ehe er zu schlafen begann.

Fabios erster Kampf gegen sich selbst war vorbei. Aber es sollten noch einige folgen.

Aufgetau(ch)t

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